Vorlauf

Lutz Dammbeck
Spiel
e ohne Grenzen

Irgendwann Anfang 2005, an einem Nachmittag. Ich hatte die Atelierschlüssel in der Wohnung vergessen, und musste deshalb mit dem Fahrrad auf halbem Weg umkehren. Meist schmierte ich mir bei solchen Gelegenheiten in der Wohnung noch ein Brötchen, trank ein Glas Saft und schaltete kurz den Fernseher ein. An diesem Nachmittag lief die Wiederholung einer Talkshow mit Anne Will, Alfred Biolek, Joachim Fuchsberger und anderen Berühmtheiten  des ost- und westdeutschen Unterhaltungsgewerbes 1.

Anne Will: Herr Fuchsberger, Ihr Ansatz war offensichtlich, haben Sie da auch vorgetragen mit dem süßen Zettel in der Hand, je ernster, je nervöser die Welt, desto mehr spielen wir dagegen an. War das so?

Joachim Fuchsberger: Ich hab da eine Sendung übernommen, die ich in Amerika gesehen habe, die hieß Beat The Clock, »Schlag die Zeit«, und das war eine Zusammenfassung von Spielen, die aus der amerikanischen Psychiatrie kamen. Man hat in Amerika psychisch gestörte Menschen in Sanatorien mit solchen Spielen befasst, um sie aus ihrer Verklemmung, aus ihrer Erstarrung herauszuholen, dass die vollkommen vergessen haben, dass sie da irgendeiner Therapie unterlagen, und die haben gespielt wie die Wilden, und da kam in Amerika einer drauf und hat gesagt: Daraus machen wir ’ne Show, und das war eine der erfolgreichsten Shows der späten 50er Jahre, und ich hab das dann als »Nur nicht nervös …« gemacht Anfang der 60er Jahre hier beim WDR …

Rudi Carell: Wieviel Patienten haben da zugeschaut?

Joachim Fuchsberger: Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!

Moment. Was hatte er da gerade gesagt? Wieso waren die Deutschen, genauer: die Westdeutschen, damals eine »verrückte, eine psychisch gestörte Nation?« Ein Irre-Sein im medizinischen Sinn war sicher nicht gemeint, eher die Abweichung von einer Norm. Aber von welcher Norm waren sie abgewichen, und was galt als normal?

1 Spiele ohne Grenzen? – Die große Show im deutschen Fernsehen, Teil 1, 25. 12. 2004, Das Erste, eine Sendung des WDR, Redaktion Klaus Michael Heinz.

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Ich versuche, Kontakt zu Joachim Fuchsberger aufzunehmen. Mehrere Briefe an seine Produktionsfirma bleiben unbeantwortet, ebenso meine Bitten um einen Rückruf, die ich auf den Anrufbeantworter seiner Firma in München-Grünwald spreche.

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Bis Mitte 2006 immer noch keine Antwort von Fuchsberger auf meine Briefe und Emails. Ich frage mich im WDR zur Abteilung Unterhaltung durch. Einige der damaligen Verantwortlichen für Fuchsbergers Spielshow Nur nicht nervös werden sind schon gestorben, nur der Redakteur, der die letzten Folgen der Show betreute, lebt noch. Ich treffe Hannes Hoff in der Kantine des WDR. Was Fuchsberger in der Sendung bei Anne Will erzählt hatte, ist ihm neu. Aber der Regisseur der Show, Alexander »Sascha« Arnz, soll 1957 bis 1959 in Los Angeles an Gameshows mitgearbeitet haben. Vielleicht hat der Fuchsberger so etwas erzählt?

Hoff fand Fuchsberger damals nicht gut, zu bräsig, zu bieder. Zu deutsch halt. Huizenga, der homo ludens, ja, das war etwas, was ihn, Hoff, damals mehr interessierte. Viele der Anregungungen für die Shows kamen aus Frankreich. Dort saß ein Mann namens Jean-Paul Blondeau und sammelte amerikanische und englische Formate, die er in seinem Synchronstudio für den europäischen Markt bearbeitete und anschließend in Einzelteile zerlegt weiterverkaufte. Die Spiele wurden beim WDR mit Gesangs- und Tanzeinlagen komplettiert und die Shows anschließend bei der Bavaria in München produziert. Später, ab den 1970ern, gab es dann in den USA große Formatbörsen, wo Firmen wie Goodson & Todman ihre Spiel- und Showideen weltweit verkauften, und Blondeaus Geschäftsmodell ablösten.

Er, Hoff, war durch das Elternhaus musisch gebildet, sein Vater hatte ein Buch über Hans Matarée verfasst, und seine erste eigene Arbeit für den WDR waren Recherchen für den Dokumentarfilm »Der  SS-Staat«. Herr Dammbeck, sie müssen ins Archiv des WDR, ich kenne den jetzigen

Chef der Unterhaltungsabteilung, der wird dafür sorgen, dass Sie da rein dürfen.

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Anfang Dezember 2006. Von Fuchsberger immer noch keine Nachricht. In der Zeitung lese ich über eine Veranstaltung in München, an der auch Fuchsberger teilnehmen soll. Alfred Biolek gastiert mit seiner Show Mein Theater mit dem Fernsehen im Münchner Volkstheater, und hat dazu Joachim Fuchsberger und den Oberbürgermeister Christian Ude als Stargäste eingeladen.

Ich fahre mit dem Zug nach München. Eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung, das Foyer ist schon mit zahlreichen Verehrern von Biolek gefüllt, erscheint Fuchsberger mit Frau, Sohn, Schwiegertochter und Freunden, die um ihn einen dichten Kordon bilden. Eine Annäherung ist so unmöglich. Als sich Fuchsberger in der Pause der ausverkauften, aber öden Veranstaltung aus der Gruppe löst und zur Toilette gehen will, gehe ich hinterher und versuche ihn anzusprechen. Als ich ihn an der Schulter berühre um ihn aufzuhalten, spüre ich unter dem leichten Leinenjacket etwas Festes, Starres. Fuchsberger trägt ein Korsett. Ich ziehe die Hand erschrocken zurück und bringe hastig stammelnd mein Anliegen vor. Mein Gott, wie peinlich. Auch Fuchsberger ist verwirrt, gibt mir aber seine private Telefonnummer. Sprechen Sie mit meiner Frau einen Termin ab. Ab Mitte nächsten Jahres, vorher bin ich komplett ausgebucht.

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Februar 2007, ich besuche Jean-Paul Blondeau in Paris. Fuchsberger war für ihn eine Niete, möglicherweise ein guter Schauspieler, aber ungeeignet als »host« 2 für eine Gameshow. Er hat auf dessen Absetzung gedrängt. Blondeau zeigt mir sein Archiv. Er schwärmt von einer Rück-projektionsanlage die sie damals verwendeten, dem Eidophor, und gibt mir die Adressen

von Leuten in den USA, mit denen er damals in den 1960ern zusammengearbeitet hat. Zum einen die Firmenadresse von den damaligen Gottvätern des Showgeschäfts, von Mark Goodson und Bill Todman. Die haben Beat the Clock produziert. Beide leben zwar nicht mehr, haben aber Söhne, die auch im Showgeschäft tätig sind, und vielleicht gibt es noch ein Firmenarchiv. Und zum anderen gibt er mir die Telefonnummer vom ehemaligen Vizepräsidenten der William Morris Agency in Beverly Hills, Lou Weiss. Allerdings ist das alles über 40 Jahre her und er weiß nicht, ob die Adressen und Telefonnummern noch stimmen. Dann gibt er mir noch die Adresse der Tochter von Kurt Hinzmann, der 1942 bis 1944 in Paris den »Fernsehsender Paris« leitete 3 . Das war ein Soldaten-und Lazarettfernsehen, wo unter Mitwirkung von deutschen und französischen Technikern und Künstlern verschiedene Fernsehformate produziert und getestet wurden. Das Programm reichte von bunten Abenden mit Gesang und Pantomine bis zu Reportagen im Stil des späteren Cinéma

vérité und war, so Blondeau, »eine frühe Version des heutigen Arte-Konzepts«. Nach dem Abzug der deutschen Besatzer enstand daraus das heutige französische Fernsehen, das die Sendeanlagen und auch das deutsche Know-How übernahm. Hinzmann setzte nach 1945 seine Karriere im Fernsehen beim Bayrischen Rundfunk in München fort und baute dort das Werbefernsehen auf. Möglicherweise traf er da auch Fuchsberger, der beim Bayrischen Rundfunk in München seine Karriere beim Fernsehen begann. München lag in der amerikanischen Besatzungszone, die

Bavaria war Blondeau zufolge das einzige Studio in den westlichen Besatzungszonen,

das den Krieg überlebt hatte. Die Frau von Hinzmann arbeitete später für die amerikanische Firma  MCA-TV 4. Er selbst, Blondeau, habe in Paris für den französischen Ableger der Firma gearbeitet. Blondeau wundert sich: Ich sei der erste, der ihn nach solchen Sachen frage. Wen interessiert das schon?

2 host: engl.-amerikan. Bezeichnung für den Moderator einer Quiz- oder Gameshow, verantwortlich für die exakte Umsetzung der vorab in einer Formatbibel festgelegten Abläufe der Show. Berühmte hosts: Jack Narz, Monty Hall, Bud Collyer, Drew Carrey.

3 unveröffentlichte Dissertation von Petra Truckendanner, Der Fernsehsender Paris. Deutsch-französisches Okkupationsfernsehen 1942 – 1944, Diss. Universität Salzburg 1998.

4 Music Corporation of America war ein US-amerikanisches Medienunternehmen, das hauptsächlich in der Musik- und Fernsehindustrie tätig war. MCA Records war das bekannteste Label der Firma, das MCA im Namen trug. Das Unternehmen gehört heute zur Universal Music Group (Tochter des Medienkonzerns Vivendi). Es wurde 2003 mit Geffen Records verschmolzen, wobei nur der Name Geffen als Marke verblieb.

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Wieder Anruf bei Joachim Fuchsberger. Seine Frau sagt, rufen Sie in drei Monaten wieder an, bis dahin sind wir in Australien. Schöne Weihnachten, Herr Dammbeck.

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Anfang 2008. Ich fahre nach Berlin und besuche im HAU, dem Theater Hebbel am Ufer, ein als »Thematisches Wochenende« angekündigtes Festival zum Thema »Re-Education« mit dem Untertitel »You too can be like us «, ein bunter Mix aus Ausstellungen, Performances, Filmen und

Vorträgen. Eine der Veranstaltungen heißt »Ein geglücktes Stück Stunde Null« und beschäftigt sich mit der Umerziehung der Westdeutschen nach 1945 durch die Amerikaner. Im Mittelpunkt steht die Rolle der Psychiatrie und ein 1943 erschienenes Buch mit dem Titel Is Germany Incurable?

(Ist Deutschland unheilbar?) des jungen amerikanischen Psychiaters und Gehirnforschers Richard M. Brickner. Brickner diagnostiziert in seinem Buch eine schwere geistige Krankheit der Deutschen – eine kollektive Paranoia, die zwangsläufig zum Nationalsozialismus führen musste.

Einer der Höhepunkte der Veranstaltungen ist die Performance der Freiburger Gruppe Jackson Pollock Bar, bekannt für ihre szenische Darstellung von Theoriekonzepten, die ein als Dokumentartheater angekündigtes Stück vorführt. Lippensynchron werden die Diskussionen einer sogenannten »Brickner Konferenz« nachgesprochen, deren Teilnehmer sich im wesentlichen auf

Brickners Diagnose einer deutschen Paranoia beziehen. Ich bin wie das übrige Publikum der Annahme, bei der Performance handelt es sich um die theatralische Inszenierung von Dokumenten, die Darstellung eines "So ist es gewesen".

Im Anschluss daran hält die Heidelberger Soziologin Uta Gerhardt einen Vortrag über die Konferenz, die 1944 in New York unter dem Titel Germany after the War stattfand und von Frau Gerhardt als Sternstunde einer neuen Wissenschaft beschrieben wird. Besonders die Beiträge der Anthropologin Margaret Mead und des Psychiaters Richard Brickner werden von ihr hervorgehoben. Frau Gerhardt gilt als die Doyenne der deutschen Soziologie, und aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema »Re-Education« als eine der führenden Expertinnen auf diesem Gebiet.

Einige Wochen später besuche ich Frau Gerhardt in Heidelberg. Nach dem Gespräch ist die Daten- und Faktenlage etwas unübersichtlicher. Frau Gerhardt teilt mir mit, dass außer einem 1945 erschienen anonymen Text in der amerikanischen Zeitschrift Orthopsychiatry keine Quellen zum Inhalt und Ablauf der Konferenz existieren. Dieser Text wurde dann im HAU gekürzt und auf Sprecher verteilt. Was »Orthopsychiatrie« bedeutet, kann oder will sie mir nicht verraten. Ob Fotos von Brickner oder von der Konferenz existieren, weiß sie auch nicht. Sie hat noch keine gesehen. Ein Foto von diesem Brickner zu finden, wäre eine wichtige Aufgabe, sagt sie. In New York hat sie mal den Sohn von Brickner getroffen. Aber das war unergiebig, und ob der noch lebt, weiß sie auch nicht. Sie sei aber von Brickner, den sie »ausgegraben hat«, wie sie es nennt, seinem Buch und seinen Ideen unverändert begeistert. Seit 1990 seien die doch wieder ganz aktuell. Wenn wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks jetzt in der arabischen Welt Diktaturen in Demokratien umgewandelt werden sollen, ist das doch ganz wichtiges Anschauungsmaterial.

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Ich lasse nun die Cutterin bei Frau Fuchsberger anrufen. Obwohl Fuchsberger fast täglich Interviews gibt, bei Modenschauen, Restauranteröffnungen, in der  BILD-Zeitung und in Talkshows auftaucht, ist er für mich nicht zu ereichen. Ich vermute, er möchte sich als seriöser Schauspieler sehen und fürchtet, dass ihn meine Fragen zu Spielshows, und dazu noch Fragen zu einer Show, die abgesetzt wurde, auf etwas festlegen, mit dem er nichts mehr zu tun haben will. Mich beschäftigt im Moment auch mehr das Thema "Psychiatrie", und wie sich Begriffe wie »Verrücktheit« und »Paranoia« zueinander verhalten, die sowohl Fuchsberger wie Brickner verwendet haben 5.

Nebenher lese ich in den Biografien von Mead und Bateson. Bateson war 1943 Filmanalytiker am Museum of Modern Art in New York und analysierte für ein "Komitee für Nationale Moral" deutsche Filme, so auch den UFA-Film Hitlerjunge Quex. War Fuchsberger selbst nicht ein echter »Quex«? Ein 16-jähriger Fallschirmspringer und Nahkampfausbilder, der in den letzten Kriegsjahren an der Ostfront eingesetzt wurde? Und war er nicht »der« westdeutsche Schauspieler, der nach 1945 den Durchschnittsdeutschen im (westdeutschen) Nachkriegsfilm 6 dargestellt hatte? Also, auch an Fuchsberger unbedingt dran bleiben.

5 siehe Seite 53, Paranoia.

6 08 /15, Regie Paul May, 1954.

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Ich fahre nach Freiburg im Breisgau, um mit einem deutschen Mitglied der Gruppe Jackson Pollock Bar zu sprechen. Woher hatten sie den Text, den sie für ihren Auftritt im Berliner HAU re-inszenierten? Gibt es Filmaufnahmen von dieser Performance oder sogar Aufnahmen von der originalen Konferenz 1944 in New York? Und wer war dieser Richard Brickner, dessen Buch Frau Gerhardt als Initialzündung für die Re-Education-Politik der Amerikaner vorgestellt hatte? Das Treffen in Freiburg mit dem deutschen Kopf der Gruppe, einem 1993 gegründeten Performanceunternehmen für Theorieinstallationen, das regelmässig mit der britischen Konzeptkunstgruppe Art & Language kooperiert, ist enttäuschend.

Wenn es Videoaufnahmen von der Performance in Berlin gibt, müssten die im Archiv des Theaters zu finden sein. Er und seine Gruppe wurden vom Theater für die Aufführung engagiert und erhielten von einer Dramaturgin den Text in englischer Sprache. Den haben sie ins Deutsche

übersetzt und wie vorgegeben auf verschiedene Sprecher verteilt. Mehr Beschäftigung mit dem Sujet gab es nicht. Für sie war es eine normale »Mucke«, mehr nicht.

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Oktober 2008. Ich treffe in Berlin die Chefdramaturgin des  HAU, die Initiatorin des »Thematischen Wochenendes« zum Thema »Re-Education«. Nach der Videoaufzeichnung von der Performance hat sie suchen lassen, merkwürdigerweise sei der Platz, wo das Band im Archiv stehen müsste, aber leer. Na, vielleicht taucht die Kasette ja wieder auf. Ausgangspunkt für die Veranstaltung war ein Text über die sogenannte Brickner-Konferenz, den ihr die Soziologin Uta Gerhardt zur Verfügung gestellt hatte.

Diesen Text hat sie mit ihrer Assistentin »aufgetrennt« und Personen zugeordnet, die im Anhang des Textes als Teilnehmer der Konferenz genannt wurden. Anhaltspunkte für diese Zuordnungen waren das jeweilige Fachgebiet der Wissenschaftler, z. B. Anthropologie, Psychologie oder Psychiatrie, der Schreib- und Sprachgestus der Teilnehmer und eine ungefähre Vorstellung,

zu welchem Gesicht oder Charakter die jeweilige Passage passen könnte.
Die Dramaturgin nennt ihr Vorgehen »fiktional-kriminalistisch«, inspiriert von »Re-Enactment« und »Fiktionalisierung«. Von modernem Theater halt, you know? Gregory Bateson zum Beispiel war bei der Konferenz gar nicht dabei, aber den findet sie so toll, und so hat er in dem Stück auch eine kleine Rolle bekommen. Stück? Dokument? Ich bin überrascht. Heißt das, der von der Jackson Pollock Bar inszenierte Text führt eine Konferenz vor, die es so gar nicht gab? Führt eine Erfindung, ein Kunstwerk vor? Einen Mix aus Elementen von Kunst und Wissenschaft, aus Fakten und Erfindungen, den die Beteiligung einer seriösen Wissenschaftlerin legitimiert und beglaubigt?

Und diese 1923 gegründete American Orthopsychiatric Association, die Mitveranstalter der Konferenz war und 1945 als erste in ihrem Journal den Report der Konferenz veröffentlichte: Was war das für eine Gesellschaft, und wieso waren deren Mitglieder, alles Psychiater, die meisten Psychoanalytiker, damals an einer Re-Education der Deutschen interessiert gewesen? Hmm, murmelt die Dramaturgin, das wäre interessant herauszufinden.

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Wieder Anruf bei Fuchsberger. Seine Frau teilt mir mit, das ihr Mann dermaßen beschäftigt ist, dass er überhaupt keine Zeit für ein Gespräch mit mir hat, auch nicht am Telefon.

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Mittlerweile haben die Kulturredaktionen von  NDR,  SWR,  MDR und WDR meinen Vorschlag, einen Film über die Zusammenhänge von ernsten und heiteren Spielen, Psychiatrie und einer Re-Education der Westdeutschen zu drehen, abgelehnt. Genauer: Einige Redakteure haben erst gar nicht geantwortet. Die Redakteurin des SWR schickt immerhin eine Email: »Lieber Lutz, auch für Deine Filme ist die Zeit beim  SWR nun leider vorbei«. Von der Hamburger Filmförderung bekomme ich aber eine Drehbuchförderung. Also, auf nach Amerika!

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März 2009. Meine erste Anlaufstelle in den USA ist Craig Baldwin in San Francisco. Craig macht Experimentalfilme und betreibt einen kleinen Verleih für ausgefallene und bizarre Filme sowie ein Mikro-Cinema im Mission-District 7. Er hatte 2005 meinen Film Das Netz in sein Verleih-

Programm aufgenommen und mir nun seine Unterstützung bei den Recherchen für den neuen Film angeboten. Die Kommunikation zwischen San Francisco und Hamburg läuft über Sylvia, eine junge Experimentalfilmerin aus Berlin, die mich bei den Recherchen begleitet. Sylvia kann etwas, was

ich nicht kann: Autofahren und perfektes amerikanisches Englisch. Der Besuch bei Craig wird zum festen Bestandteil der Reisen in die USA, bei denen ich mich von San Francisco nach Los Angeles, von da nach Midwest und schließlich zur Ostküste nach Akron, Bethesda und Washington vorarbeite, um dann von New York wieder nach Hamburg zurückzufliegen.

War ich Samstag Nachmittag in San Francisco gelandet, fuhr ich abends zu Craigs Veranstaltung in seinem kleinen Kino, trank ein paar Bier und traf Fans von Das Netz. Am nächsten Vormittag ging ich wieder zu Craig, der dann aus seinem unerschöpflichen Filmarchiv im Keller des Kinos

einige Filmrollen herausgesucht und auf im Halbkreis stehende Stühle gelegt hatte, die er dann nacheinander in den Projektor einlegte und mir vorführte. Filme wie The Science of Perception, A World to Perceive, Coney Island mit Monstern im Stil der Side- und Freakshows von Phineas Taylor Barnum oder den Ringling-Brothers, Science in Action mit dem »Tier des Monats« oder Filme mit Hühnern und Hasen unter Hypnose wurden von Craig bezüglich Herkunft und Bedeutung ausführlich kommentiert. Wenn mir etwas interessant erschien, schnitt er mir das Stück Film aus

der Rolle und gab es mir für ein paar Dollar in einer Plastiktüte mit. Wir tranken Bier dazu und hatten unseren Spaß. Nun kam Schwung in die Sache!

7 www.othercinema.com

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Weiterfahrt von San Francisco nach Los Angeles auf der Küstenstraße vorbei an Esalen, wo wir 2002 für Das Netz gedreht hatten. Besuch bei David Schwartz, einem der besten Kenner der Geschichte von Gameshows und zusammen mit Steve Ryan und Fred Wostbrock Herausgeber eines der Standardwerke zur Geschichte des Genres 8.

Auf David war ich bei Internetrecherchen in den Chatrooms von Gameshow-Fans gestoßen. David hatte sofort auf meine Email geantwortet und mich eingeladen, ihn zu besuchen. Er empfängt mich und Sylvia in seinem kleinen Büro auf dem militärisch mit Stacheldraht und Posten gesicherten Gelände des privaten Fernsehsenders Game Show Network (GSN), einem Spartensender, der rund um die Uhr nur Gameshows sendet.

David ist seit seiner Kindheit Fan von Gameshows. Aber die heutigen Shows seien ganz anders als die, mit denen er aufwuchs. Die damaligen Shows hatten eine Länge von maximal 20 Minuten, nun sind sie fast eine Stunde lang, damit die Produzenten mehr Werbung unterbringen können. Der Spannungsbogen muss dann natürlich gestreckt werden, was nicht so einfach ist.

Er nennt mir die Namen der Regisseure und Produzenten, mit denen ich unbedingt sprechen soll: Bob Boden, Steve Beverly, Paul Alter, Jay Wolpert, die Söhne von Bill Todman und Mark Goodson, den Nachlaßverwalter von Mark Goodson, Jeremy Shamos, Bob und Sande Stewart, Bob Noah und Michael Brockman. Die Elite des Business in den 1960ern und 1970ern, also dem Zeitraum, der mich interessiert. Einige der Telefonnummern und Kontaktdaten kann er gleich raussuchen, und den Rest wird er mir per Email schicken. David empfielt Fred Wostbrock zu kontaktieren, der eines der größten privaten Foto- und Videoarchive für Gameshows besitzt.

8 David Schwartz, Steve Ryan, Fred Wostbrock, The Encyclopedia of TV-Game Shows, New York 1999.

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Zwei Tage später empfängt mich Fred Wostbrock in seinem Archiv. An den Wänden, auf Regalen und in Schränken wimmelt es von Spider Man-, Batman- und Godzillafiguren und Fotos der Gameshow-Stars. Fred bezeichnet sich als Agenten aller »A-talents«, wie er sie nennt: der prominenten Moderatoren (hosts), Regisseure und Autoren des Gameshow-Business.

»I have them all!« Aber für Gameshows, wie er sie liebt, sind es schlechte Zeiten.

Sponsoren zahlen für die Produktion der Shows, um ihre Werbung unterzubringen. Aber viel Werbung hat sich nun ins Internet verlagert. Und die Shows werden immer einfacher, man kann auch sagen: dümmer. Man braucht kein Wissen mehr, um viel Geld zu gewinnen. Nehmen Sie die Show Deal or No Deal, sagt Fred, jeder kann das spielen. Es gibt keine Fragen, die zu beantworten sind, um einen Koffer mit 1 Million Dollar zu gewinnen. Das sind heute Shows für Analphabeten. Ohne Sprachbarrieren, für die "Vereinten Nationen". Shows, die deshalb überall auf der Welt funktionieren und deshalb auch in alle Gegenden der Welt verkauft werden können.

Gut, es gab auch schon in den 1970ern gravierende Veränderungen. Bis dahin gab es nur weiße Moderatoren, denn das Publikum waren vorwiegend weiße Hausfrauen die vormittags beim Bügeln einem kleinen weißen Mann mit schottischem oder irischem Akzent zusehen wollten, mit weißen Zähnen und einem breiten Lächeln. Nichts Gefährliches oder Aufregendes, sondern etwas Handzahmes. Es gab auch keine jüdischen Moderatoren, obwohl fast alle Produzenten Juden waren. Nun aber gab es auf einmal schwarze Moderatoren, Pop, und die Bühnenbilder wurden psychedelisch aufgepeppt.

Allerdings, bis heute gibt es wenig neue Ideen für Shows. Viele alte Formate werden recycelt. Beat the Clock zum Beispiel wurde so zu Minute to Win It. Die deutsche Version wird zur Zeit von der Firma Shine Germany in Köln produziert. Die Spiele werden vorher mit den Kandidaten geprobt, da steht jemand mit der Stoppuhr und einem Formular daneben und notiert wie lange die Kandidaten benötigen, um die Aufgabe zu lösen, welche Fehler sie machen usw. Aber ist das nicht Taylorismus, oder Fordismus, frage ich? Genau, es ist Arbeit. Und wer am besten und schnellsten arbeitet, das heisst die Aufgabe am schnellsten löst, gewinnt.

Der Produzent von Beat The Clock, Mark Goodson, war ein Gigant. Aber auch kein einfacher Charakter. In seiner Firma galt er als der »Master of the Plantation«, und der vom Zirkus, vom Volkstheater und Vaudeville kommende ehemalige Puppenspieler und Schauspieler Frank Wayne als sein künstlerisches Alter-Ego. Von Frank waren viele Ideen für die Spiele der erfolgreichsten Goodson-Shows, zum Beispiel für Beat the Clock und The Price is Right. Er sei leider vor ein paar Jahren gestorben, aber sein Sohn Mark müsste noch leben, irgendwo an der Grenze zu Neu-Mexiko. Goodsons Sohn Jonathan habe das Erbe des Vaters verspielt, die vielen Millionen aus dem Zeitungsgeschäft und dem Verkauf der Kunstsammlung des Vaters 9, und ist mit für das Internet konzipierten läppischen Lotto-Shows gescheitert. »Too weak for business!« Fred verspricht mir, Kontakte zu seinen Klienten wie Meryll Heather und Bob Eubanks zu machen, aber nur im »package« mit den Fotos und Videotapes, das heißt für 10 000 Dollar, aber cash. Oha. Dann erstmal Weiterflug nach New York.

9 Goodson hatte die mit den Shows erzielten Gewinne in den Kauf vieler kleiner Provinzzeitungen investiert. Als er starb, machte die Firma damit mehr Gewinn als mit den Shows. Damit finanzierte Goodson auch seine Kunstsammlung mit Werken der klassischen wie aktuellen Moderne von Picasso, Bacon, Giacometti, Kandinsky bis Francis Bacon, die im Auftrag der Erben 1995 von der New Yorker Galerie Pace Wildenstein und Jeremy Shamos für mehrere hundert Millionen Dollar verkauft wird.

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Weiter nach New York. Ich besuche das Archiv der Columbia Universität und lasse mir alles vorlegen, was zur Person von Richard Brickner vorhanden ist. Ich finde zwar eine ausführliche Literaturliste all seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aber keinerlei Hinweise auf das Buch Is Germany Incurable?, die Konferenz, an der von Adolf Meyer bis Franz Alexander neben der amerikanischen auch die Elite der europäischen Psychiater und Psychoanalytiker teilnahm, oder das Thema "Re-Education". Mir kommt der unheilige Gedanke, was ist, wenn er das Buch gar nicht selbst geschrieben hat? Also erstmal weiter Online-Recherche. Ein Besuch in der Library of Congress in Washington erscheint mir noch zu früh. Ich weiß noch zu wenig.

Denn: Orthopsychiatrie, Anthropologie, Psychoanalyse, Spielshows – wie kam das und die Re-Education der Westdeutschen zusammen?

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Im September 2009 beginne ich parallel zu den Recherchen eine Edition meiner langen Dokumentarfilme vorzubereiten, und muss mich für die Vertragsgestaltung mit Anwälten beraten. Im Wartezimmer steht ein großes Bücherregal. Ich greife wahllos nach einem der Bücher, es ist ein Buch über die französische Revolution 10. Ich beginne zu lesen, und vergesse meinen Termin.
Die Feste und Feiern der Revolution und die Bergpartei schieben sich in den Focus meines Interesses. Als ich einem Experten für das Thema »Spiel und Ernst« von meiner Filmidee erzähle fragt er in einer Email zurück »… sicher werden Sie auch den Zusammenhang der Revolutions-feiern mit den Anfängen von Inszenierungen die zum Kino führten behandeln? Spannend.«

Revolutionsfeiern, Inszenierung, Kino? Revolution und Massenpsychologie? Revolution?

Bei den Recherchen war ich auch auf eine 1952 erschienene Publikation mit dem Titel USA – Die permanente Revolution 11 gestoßen. Gemeint war ein Verfahren oder besser ein Prozess, der in meiner Lesart, eine Gegennatur und eine neue Evolution zum Ziel hatte.
Der Begriff »Permanente Revolution« verband sich allgemein mit Leo Trotzki und dem gleichnamigen Titel seines 1929 veröffentlichten Buchs, einer der Bibeln des Marxismus 12.

War Trotzkis Definition auf ein Endziel gerichtet, den Glückszustand und das Paradies des Kommunismus, und war die Revolution beendet wenn dieser Zustand erreicht war, beschrieb die amerikanische Definition etwas nicht Abschließbares, ein offenes System. Das schien mir einleuchtender und dem Begriff gerechter zu werden.
Und dieser Begriff eines "offenen Systems" ließ sich nun mit dem Kult eines »Höchsten Wesens« und den während der Französischen Revolution inszenierten Revolutionsfesten ergänzen, wo sich Spiel, Unterhaltung und politische Erziehung in aufwendigen Inszenierungen und Choreografien miteinander verbanden 13.

War der Terminus »Permanente Revolution« bisher für mich nur das Bild für eine mit Hilfe von Kybernetik und Systemtheorie technisch gebaute »schlechte Unendlichkeit« gewesen, eine digitale Revolution mit einer derartigen Geschwindigkeit und Energie, das sie zu einer permanenten Revolution und zur Revolutionierung aller Lebensumstände führte, erhielt dieses Bild durch den Bezug zur Trias der englisch-amerikanisch-französischen Revolutionen nun einen größeren, einen historischen Kontext.

10 Pierre Gaxotte, Die Französische Revolution, München 1949.

11 Erwin Schuhmacher, USA – Die permanente Revolution. Eine Gemeinschaftsarbeit von Redakteuren der  Amerikanischen Monatschrift Fortune unter Mitwirkung von Russel W. Davenport. Frankfurt /Main 1952.

12 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/

13 B. de Andia, A. de Baecque, Ch.-M. Bosseno, J. Ehrard, V.-N. Jouffre, s.de Naurois, M. Ozouf, e. Pommier, P. Simonetti, Fêtes et Revolution, Paris 1991. Ozouf, Mona, La Fête révolutionnaire, 1789 – 1799, Paris 1976.

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Brickners Sohn sei wie sein Vater Psychiater, hatte mir Frau Gerhardt in Heidelberg noch mit auf den Weg gegeben, und arbeite in einem staatlichen Krankenhaus. Ich suche mit Sabine, die für mich in New York die Recherchen vorbereitet, in den New Yorker Kliniken und Krankenhäusern

nach einem Dr. Brickner. Als wir ihn gefunden haben, ist Dr. Philip Brickner sofort zu einem Gespräch bereit. Aber er will nicht, dass wir in seine Wohnung kommen. Lieber will er uns

im Produktionsbüro von Sabine am Union Square treffen. Die Adresse scheint ihn zu beruhigen, denn die klingt nicht nach Randlage, sondern nach einer wohlsituierten und seriösen Firma. Philip Brickner ist freundlich, aber zurückhaltend. Vieles von dem, was sein Vater damals veröffentlichte,

sei heute sicher wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Aber damals ging es darum, schnell Ideen anzubieten, was mit den Deutschen nach 1945 geschehen sollte. Denn die Politiker hatten keine Ideen.

Sein Vater war praktizierender Psychiater und Neurologe. Diese beiden Disziplinen gehörten 75 Jahre zuvor noch zusammen, ehe sich das trennte. Die deutsche Frage interessierte meinen Vater als Psychiater. Als Neurologe war sein Spezialgebiet das Erforschen der Multiplen Sklerose. Zwischen

beiden Gebieten gab es für ihn aber keine Verbindung.

Im Ersten Weltkrieg war er Matrose in der amerikanischen Marine. Danach studierte er an der Columbia Medical School, dem College of Physicians and Surgeons. Er war Jude, und das beeinflusste seinen Werdegang negativ, was die beruflichen Chancen in New York betraf. Die

Ivy-League-Schools, Harvard, Columbia, Penn, Princeton etc., hatten nur eine sehr kleine Quote für jüdische Studenten. Princeton war der Brennpunkt des Antisemitismus an den Universitäten. Andererseits hofierten sie Albert Einstein. Nur Columbia war etwas anders, weniger antisemitisch.

Und dann fuhren er und meine Mutter zu einem neurologischen Kongress, ich weiß nicht mehr genau war es 1933 oder 1936 / 37, und ob es in St. Petersburg, oder London war, wo er auch den Russen Pawlow traf. Und auf der Rückreise besuchten sie Deutschland. Da standen beide am Straßenrand und sahen die Aufmärsche dieser SA-Sturmtruppen. Für ihn waren das »bullies«, Schläger. Und er mochte keine »bullies«. Das war wie eine Offenbarung für ihn, ein Erweckungserlebnis. Und erinnerte ihn an Diskussionen, die er mit Kollegen während des Ersten Weltkriegs geführt und fortgesetzt hatte, als Thomas Mann 1939 nach Kalifornien emigrierte.

Es ging um einen Brief von Thomas Mann aus dem Jahr 1915, wo er Deutschlands Recht auf Aggressivität beschreibt. Und mein Vater und seine Kollegen fragten sich, was die Wandlung im Denken von Thomas Mann bewirkt hatte. Wie konnte man sich selbst umerziehen und sein

Bewusstsein verändern? Und wie konnte das von außen initiiert werden? Die Kontakte zu Margaret Mead und Edward Strecker 14 waren dann sehr wichtig für ihn, damit aus diesen Ideen und den ersten Notizen ein Buch wurde. Diese Notizen und einige der vielen Rezensionen des Buchs habe er noch15. Aber etwas über die Konferenz, nach der Sie fragten, konnte ich nicht finden.

Um die Thesen meines Vaters zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, was er unter Paranoia verstand. Schizophrenie ist der Überbegriff, und eine Unterabteilung ist paranoide Schizophrenie. Nicht klassische Paranoia, wo der Kranke normal leben kann, aber nicht angeschnallt und fixiert werden muss, Stimmen hört oder Ähnliches. Der Kranke ist in der Lage, Flugzeuge zu bauen oder Musik zu komponieren, lebt aber in einem Wahnsystem. In diesem Sinne verwendete mein Vater diesen Begriff. Was er versuchte, war, die Diagnose einer klassischen Paranoia auf etwas anzuwenden, das er den »deutschen Charakter« nannte. Er fragte sich: verwies das Verhalten dieser erkrankten Deutschen auf etwas Größeres, ein allgemeineres medizinisches und gesellschafts-politisch relevantes Problem, das sich erforschen ließ? Nach 1945 hat sich mein Vater mit einer Ausnahme 16 aber nicht mehr für das Thema Re-Education interessiert. Das Thema war auch bald aus der Öffentlichkeit verschwunden. Damit konnte man nach 1945 keine Karriere machen.

14 Edwin Strecker ist »senior psychiatrist« an der University of Pennsylvania Medical School und will mit Psychiatrie den »crowd-man of modern totalitarianism« heilen. Er ist einer der führenden Vertreter des Mental Hygiene Movement. Lit.: Edward A. Strecker, Beyond the Clinical Frontiers, 1938 (1940).

15 Richard M. Brickner, Is Germany Incurable?, 1943. Zwischen 1943 und 1944 gab es neben vielen Radiosendungen und Zeitschriftenartikeln u. a. eine prominent besetzte Diskussion über Brickners Buch in der Zeitschrift Saturday Review on Literature, in der Horace Kallen (Prof. New School of Social Research NY) wie auch Erich Fromm Kritik am Buch Brickners übten, während Max Horkheimer es lobte. Zustimmung gab es auch von Sigrid Undset und Lawson G. Lowrey von der New School of Social Research.

16 Im Mai 1945 schickt Brickner ein mit seinem Kollegen Norman Sweet verfasstes »Friedenskonzept« mit dem Titel Reciprocity will Make the Whole World Kin (Confucius) an Außenminister Stettinius, das auch das Modell einer internationalen Demokratisierungs-Universität enthielt.

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Wurden die Spiele für Beat the Clock und Nur nicht nervös werden wirklich in der Psychiatrie entwickelt? Fuchsberger ist immer noch nicht zu erreichen. Der Regisseur von Nur nicht nervös werden beim  WDR war Alexander »Sascha« Arnz. 1957 bis 1959 hatte er in Los Angeles mit an Gameshows gearbeitet. Aber für welche? Und mit wem? Arnz war einer der Großen im westdeutschen Unterhaltungsgeschäft und hatte 1981 mit dem damaligen ZDF-Unterhaltungschef Wolfgang Penk und Frank Elstner das Konzept für den deutschen Showklassiker Wetten, dass …? entwickelt. Arnz war ab Ende der 1950er Jahre oft in die USA gereist, um sich dort Shows anzuschauen. Ein ehemaliger Produktionsleiter beim WDR weist mich auf Arnz’s Witwe hin, Ulla Wiesner, eine ehemalige Schlagersängerin und ehemaliges Mitglied im Bodo Lukas-Chor. 1965 nimmt sie als Solistin mit dem Lied Paradies, wo bist du? am Eurovision Song Contest 1965 in

Neapel teil. Das Lied erhält Null Punkte. 17 Frau Wiesner erzählt mir dass Arnz, sie nennt ihn »Sascha«, 1957 mit dem Komponisten und Bandleader Hagen »Charlie« Galatis 18 in die  USA gereist ist.

Galatis hatte in Los Angeles beste Kontakte. Sascha war zunächst Ablaufregisseur, dann Regisseur für eine Quizshow, die so ähnlich wie Der Preis ist heiß ablief. Man musste raten, was etwas kostet. Die Gewinner konnten dann entscheiden, ob sie den Gewinn, eine Waschmaschine zum Beispiel, mitnehmen wollten, oder sich lieber den Gegenwert in Dollar auszahlen ließen. Aber wie die Produktionsfirma hieß und mit wem er da gearbeitet hat, weiß sie nicht mehr.

Ich schicke eine Email an David Schwartz in Los Angeles. Zwei Tage später meldet er sich. Ja, er hat eine Produktionsfirma ausfindig gemacht, auf die meine Beschreibung passen könnte, die Firma von Walt Framer, die haben die Gameshows Your Sunrise Package und Love For Money produziert. Die Firma wurde vor ein paar Jahren aufgelöst, aber möglicherweise gibt es jemanden von der Familie, der Auskunft geben kann. Framers Sohn Ladd könnte noch irgendwo im Valley zu finden sein.

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Ich googele Love For Money. Diese Show und auch die 1959 von Framer produzierte Show Going Going Gone!, eine Art Hütchenspiel, waren in den »Quiz Show Scandal« verwickelt. Ich frage nach: David, was hatte es damit auf sich?

Die Antwort kommt umgehend per Email. Das ist bis heute ein heißes Eisen für die Branche. Bei Love For Money wurden die Spielautomaten manipuliert, um weniger Preisgeld auszahlen zu müssen. Aber aufgeflogen ist der ganze Schwindel mit einer anderen Show, die hieß $ 64.000 Question, und war 1955 von CBS entwickelt worden. Ein Jahr später, 1956, versuchte  NBC mit der Show Twenty-One zu kontern. Star der Sendung war Charles van Doren, ein Assistenzprofessor an der Columbia Universität, laut Time Magazin »der klügste Mann der Welt«.

Gerüchte über geheime Absprachen gab es schon lange, aber dann packte einer der Kandidaten von Twenty One aus. Es war nicht illegal oder verboten, was die Produzenten taten: Sie gaben den Kandidaten vorher die Antworten. Das Geschäft war aber immer härter geworden. Also versuchten viele, die Zuschauerzahlen zu pushen, indem sie die Show wie ein Theaterstück inszenierten und choreografierten. Die Inszenierung sollte die Show spannender machen, sympatische Charaktere mit Ausstrahlung sollten gewinnen und der fiese Typ verlieren. Die Hoffnung war, dass dann mehr Leute den Fernseher einschalten würden, um sich die Show anzuschauen. Mehr Zuschauer hieß mehr Werbeeinnahmen und Profit.

Nun waren diese Mogeleien aufgeflogen, und Präsident Eisenhower erklärte, mit diesem Betrug sei dem amerikanischen Volk etwas Schreckliches angetan worden. Die Feste, bei denen ein Millionenpublikum »das größte Glück der größten Zahl«19 feiern sollte, hatten sich als systembedingter Schwindel erwiesen, das Glücksversprechen als Illusion. Im Sommer 1958 beschäftigte sich erstmals ein Untersuchungsausschuss im US-Kongress mit den Vorfällen und führte 1959 öffentliche Anhörungen durch. Nun wurden immer weitere Shows des Betrugs überführt. Am Ende der Ermittlungen ging man davon aus, daß 75 % aller Shows betroffen

waren. Danach wurden von den Fernsehsendern alle Shows mit hohen Gewinnen aus dem Programm genommen. Der diskreditierte Begriff »Quizshow« verschwand, und wurde durch das Wort »Gameshow« ersetzt. Viele der beteiligten Regisseure und Produzenten wurden entlassen

oder fanden keine Arbeit mehr. Mark Goodson profitierte von dieser Entwicklung, denn er war nicht in den Skandal verwickelt. Nun war er auf einen Schlag viele seiner Konkurrenten los und konnte sich unter den Freigesetzten die Besten aussuchen, zum Beispiel den Regisseur Bob Noah.

17 https://www.youtube.com/watch?v=DIMpXO6y2ao

18 https://www.youtube.com/watch?v=iZZwm5G_j8A

19 Jeremy Bentham (1748 – 1832), Das größte Glück der größten Zahl (greatest-happiness-principle), klassischer Vertreter des Utilitarismus, entwickelte 1791 mit dem Panoptikum ein Modell-Gefängnis.

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Ende 2010, nach fünf Jahren mühsamen Klinkenputzens, ist die Finanzierung für den Film endlich abgeschlossen. Ich kann die Recherchen ausweiten und auch die in Englisch und Französisch geführten Vorgespräche transkribieren und teilweise übersetzen lassen.
Im April 2011 besuche ich die MIP TV in Cannes, einen der weltgrößten Markt- und Messeplätze für Fernsehunterhaltung, und versuche mich über die aktuelle Entwicklungen zu orientieren. Viele alte Showideen landen nun verzwergt im Internet und in Spartenkanälen mit oft mikroskopischen Dimensionen. Überall auf dem Marktplatz Statistik, Zahlenprüfungen, Tests, Sicherheitskontrollen - nur kein Geld verlieren. Ein unfrohes Hantieren mit Laptops und Tabellen in überfüllten Hallen in kleine Mäuseboxen.
Von Cannes dann mit dem TGV nach Paris und ins Musée Carnavalet, ins Pantheon und in den Rousseau-Park in Ermenonville, der etwas außerhalb von Paris liegt.
Beim Besuch der Loge Grand Orient de France auf den Spuren Benjamin Franklins in Paris werde ich nach dem Besuch der ständigen Ausstellung und der Besichtigung einiger Tempel vom Chef der Bibliothek eingeladen, auch die umfangreiche Bibliothek der Loge für Recherchen zu nutzen. Aber warum sprechen Sie denn nicht mit einer jungen deutschen Historikerin, die ein paar Wochen in unser Bibliothek gearbeitet hat und nun wieder an die Universität in Freiburg zurückgekehrt ist, fragt mich der freundliche Bibliothekar. Sie arbeitet über die Dritte Französische Republik und kam zu uns als sie bemerkt hatte, dass 90% der Angeordneten Freimaurer waren. Ich notiere mir die Adresse. Im Deutschen Historischen Institut in Paris treffe ich einen jungen Historiker, der zum "Kult eines Höchsten Wesens" und den Revolutionsfesten arbeitet und mir Adressen und Kontakte zu einer Gruppe von Kollegen gibt, die an der Universität Gießen an einem Lexikon der Revolutions-Ikonographie arbeiten. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Bildwelt der Französischen Revolution. Voilà, die Fäden für die weiteren Recherchen sind nun ausgerollt und der Radius des Projekts provisorisch abgesteckt. Das Spiel, für das die Vorbereitungen bisher noch unter Vorbehalt liefen, kann nun endlich beginnen.

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