Tour-Tagebuch

14.4. Münster, Kino Schloßtheater:
Die Tour beginnt. Das Kino befindet sich außerhalb vom historischen Stadtkern, in einer etwas vernutzten Gegend. Die ist aber ein angenehmer Kontrast zur ausgestellten Wohlhabenheit des Stadtzentrums. Habe noch Zeit bis zum Beginn der Vorführung, gehe in die Innenstadt zurück und in den Dom. Fällt sofort ins Auge: Ein großer Christopherus, in der Hand einen echten Baum. Helles Grau, Gold im Kopfschmuck des Knaben, der dunkle Holzstamm. Drumherum der Kontext. Alles sehr sparsam, keine preußische Kitschbude wie der Kölner Dom. Im Kino gute Athmosphäre, 18 Besucher. Gespräch mit dem Schriftsteller Burkhardt Spinnen und dem Kinoleiter Herrn Klepsch. Spinnen hat mal mit einer Gruppe Gleichgesinnter in jungen Jahren (Walter Moers gehörte dazu) Spielshows analysiert, z.B. "Wetten Dass". Interessanter Text. Spreche auch über den Christopherus, wo im Unterschied zu den Installationen in der aktuellen Kunst der Rahmen gegeben ist, ein Kontext der das Detail, den Schmuck, zusammenhält und Sinn gibt. Im Museum oder der Galerie hängt die Installation in der Luft. Oder es fehlt das Schloss drumherum. Im Anschluss, zwei Münsteraner Pils. Vorführung: technisch i.O., Projektor Tick zu dunkel.


15.4. Köln, Kino Filmpalette:
Früh 8:00 von Münster mit dem Zug nach Köln. 10:30, bin Gast bei einem Historiker, einer meiner Fachberater für die Geschichte der Franz. Revolution, in seinem Seminar an der Uni Köln. Thema: Politische Inszenierungen. Wir zeigen einen Ausschnitt aus "Overgames" zum Fest des Höchsten Wesens. Das Publikum: 18 Studenten. 17 Studentinnen, 1 Student. Keiner wird zur Vorführung am Abend ins Kino kommen. Der Historiker hat Bildbeispiele für Feste und Inszenierungen der Revolution und des königliches Hofes mitgebracht. Die Symbolik in der Ordnung und Reihung der Festumzüge, wer hat welchem Platz und warum. Interessant: Ab wann sprechen wir von "demokratisch", von Demokratie als Staatsform der Moderne? Z.Zt. der Franz. Revolution geht es ja um die Republik, das republikanische Wesen der Revolution, um gute Republikaner. Nach 1945 Wechsel, nun geht es um "Demokratie". Das kommt durch die Amerikaner? Die zwei Parteien in den USA: Republikaner-Demokraten.


19:00 ins Kino. Der Chef von Kino und Verleih (Realfiction) hat sich vorher per Email abgemeldet (ein Zeichen für geringen Vorverkauf?). Sein Vertreter in der Filmpalette hat den Film noch nicht gesehen (da er nach der Begrüßung von mir und dem Publikum, 32 Zuschauer, nach Hause geht, wird es damit auch an diesem Abend nichts werden). Mein Gesprächspartner Daniel Kothenschulte ist noch nicht erschienen. Vor zwei Tagen hatten wir telefoniert, er wollte sich den Film (den er seit zwei Monaten als DVD hat) "gleich" anschauen. Warum schaut er sich den nicht im Kino an, als "Film"? Nehme an er erscheint kurz vor Ende der Vorführung. Er schreibt seine Filmkritiken ansonsten als "Filmfreund", schreibt über das Spezifische und Erhaltenswerte von "Film" und "Kino". Rätselhaft. Er wohnt um die Ecke, ganz nah an der Filmpalette. 
Dort inzwischen: Film zu Ende, kein Kothenschulte. Kurze Verwirrung. Eilig wird der Kino-Diensthabende herbeizitiert. Der ist bischen angefressen, weil nun er mit mir das Gespräch führen muß. Er sagt: Nun muß ich doch (zur Strafe?) eine Geschichte erzählen, die Verbindung von Daniel und Gameshows. Der Donaldist und Freund von Animationsfilmen (der eigentliche Grund ihn einzuladen war ja dass ich dachte wir könnten ein interessantes Gespräch über das Filmische in Overgames führen der ja auch "animierte" Szenen hat) war in jungen Jahren fasziniert von Gameshows, und hatte sich auch als Kandidat (contestant) beworben. So war er in eine Show geraten. Allerdings fiel er dort unangenehm auf durch oberlehrerhaftes Strebertum. Das Publikum mochte ihn nicht. Es kam zum Eklat als er in die Endrunde kam und ausgebuht wurde. Heiterkeit in der Filmpalette und für mich gute Gelegenheit, zu den Themen des Films überzuleiten: Verdrängung, Abspaltung, Projektion. Meine an Freud und Erikson geschulte Analyse: Er hat kurz vor Veranstaltungsbeginn doch mal kurz in die DVD reingeschaut und einen Schreck bekommen. Hatte ich ihn vielleicht - seine Projektion - im Wissen um diese Geschichte gezielt eingeladen um ihn vorzuführen? Aber vielleicht war es ja auch ganz anders und er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Mit einer Kölner Filmemacherin und meinem Fachberater für die Franz. Revolution und seiner Freundin, arbeitet in Kleve beim Umweltamt, noch Kölsch (5) trinken gegangen, bis 1:00. Vorführung: technisch i.O. (Kopie 2 Bronner), 28 Zuschauer. Am nächsten Tag zurück nach Hamburg, Abrechnung der bisherigen Vorführungen und Veranstaltung in Bochum vorbereiten.

16.04. zurück nach Hamburg:
im Atelier Abrechnungen der Produktionsförderung für "Das Meisterspiel" und "Das Netz". Mein Gott, die halbjährigen Abrechnungen für "Das Meisterspiel" laufen immer noch, seit 15 Jahren. Rechne kurz nach: Für "Overgames" muss ich für zwei Filmförderungen, Hamburg und Berlin-Brandenburg, nun noch bis 2024 Abrechnungen vorlegen. Für den Zuschuß aus NRW zu Produktion und Tour ist gottseidank nur eine einfache Schlußabrechnung nötig. Klingt verwirrend, ist aber bei ein bischen Übung Routinesache. Und, nicht zu vergessen, ohne das Geld der regionalen Förderer gäbe es diese Filme nicht. Und viele der Kinos in denen "Overgames" nun läuft auch nicht. Ein Anruf: Das Filmkunstfest Schwerin macht nun doch eine zusätzliche Vorführung und braucht Werbematerial. Abends Stammtisch. Unser Freund Karl-Heinz von Hassel ist gestorben. War immer gut wenn er im Katelbach an den Tisch kam, und wir bald versuchten das Gespräch auf Gründgens und Fassbinder brachten, um seine Geschichten zu hören. Friede seiner Asche. Noch paar Rollen mit Plakaten und Flyern an Kinos und Museen packen die Karin am Montag mit DHL verschicken wird.


17.04. Bochum, Kino Endstation.Kino:
Mit der S-Bahn vom Hbhf nach Bochum-Langendreer. Liegen keine Flyer aus. Der Kinomensch hat den Film noch nicht gesehen.
Mein Gesprächspartner Oliver Fahle. Der ist Professor für Mediengeschichte an der Uni Bochum und hat z.Zt. ein Freisemester. Er kommt kurz vor 17:00. Im Publikum paar Studenten und sein Stellvertreter der ihn im Freisemester vertritt. Ein Arbeitsloser kauft ein Filmbuch, ich nehme 5,00 Euro. Diskussion rege, dann in das Restaureant, trike zwei Moritz Fiege Helles. Im Kino: Fragen zu "Überwältigungsstrategie", warum nicht Fuchsberger interviewt, Verbindung Fest des Höchsten Wesens und Price Is Right, Ausweisen der einzelnen Archivstücke: Quellenverweis opder nicht? Mir egal, am besten ohne, der Kommentar wird als "Gottes Stimme" bezeichnet. (Im Veranstaltungsraum nebenan, wo auch Konzerte und Lesungen stattfinden hat der israelische Geiger Gilat Atzmon 2005 einen Skandal provoziert, über den Mahler in seinem Buch "Das Ende einer Wanderschaft" schreibt. Das Buch angelesen, gibt es als PDF im Netz, ein einziges Wahnsystem, eine Hegelei. Der Hinweis darauf kam von meinem Gesprächspartner in Düsseldorf, einem Alt-68er und ehemaligem Lektor im Berliner Wagenbach-Verlag. Merkwürdig. Worüber soll ich nachdenken?) Stellvertreter von Oliver Fahle ist zur Zeit ein Herr Meurer, lebt in Wien, Kultur- und Medienwissenschaftler. Empfehle ihm Das Meisterspiel und die Box von Absolut Medien.

Finde dann spätabends eine Email von Kothenschulte vor, entschuldigt sich tausendmal, peinlich, soll ihm verzeihen. Schreibe ihm dass er ja was über den Film schreiben könnte. Er fragt per Email zurück wann der Film wo läuft, wann in Frankfurt. Schicke ihm die Tourliste (die er schon zweimal bekommen hat). Natürlich wird er nichts schreiben. Vorführung: Kopie avt Nr.4, Bild o.k., Ton im Center keine Höhen, dumpf, leicht hallig Musik zu laut im Verhältnis zum Kommentar.

18.04. Düsseldorf, Kino Bambi:
Wohne im Hotel Ufer, was von Seminaristinnen einer Kosmetikfirma vollbelegt ist, bekomme das letzte Zimmer, 1.Stock, draußen fährt die Straßenbahn vorbei, eine Kirche (Geläut), Autostraße.
 Eine Stunde vorher am Kino. Mein Gesprächspartner, ein alt-68er und ehemaliger Lektor eines linken Westberliner Verlags ist schon da. 
Vom Kino ist nur ein junger Mitarbeiter zur Stelle, der anscheind nicht recht weiß, was stattfinden soll. Er fragt: Worum geht es denn im Film? Hat er den Film nicht angeschaut? Er lacht, Mann, so viele Filme, dafür haben wir keine Zeit.

Es liegt kein Flyer aus. Wo sind die? Keine Ahnung. Ich finde nach langem Suchen zwei Exemplare, in der hintersten Ecke. Wo sind denn die anderen? Wohl alle. Die Kinos scheinen nicht sehr interessiert daran was für Filme sie zeigen.
Mein Gesprächspartner ist aufgeregt. Er ist nun für die Linkspartei in NRW engagiert und erwartet Störungen durch Anti-Deutsche. Die sind hinterhältig, sagt er, die intrigieren nur im Hintergrund. Einen will er schon gesehen haben. Na, das wird was werden. Er scheint auf einen Eklat zu warten. Ein Düsseldorfer Filmjournalist kommt. Er empfielt mir am nächste Tag eine Ausstellung mit toller Malerei anzuschauen, von Dieter Süverkrüp. Was, der lebt noch? Ja, hat die Gitarre an den Nagel gehängt und folgt nun seiner wirklichen Berufung, der Malerei.
Etwas 30 Minuten vor Filmende verläßt der angebliche Anti-Deutsche die Vorführung, anscheinend hat er genug gesehen. Nachdem das Licht im Saal angeht und bevor die Diskussion losgeht, schleichen einige Zuschauer schnell aus dem Kinosaal. Von dem vom Kino versprochenen Tisch und zwei Stühlen für das angekündigte Gespräch ist nichts zu sehen, zwei junge Angestellte des Kinos trinken im Foyer gemütlich Kaffée. Erste Frage des von mir eingeladenen Gesprächspartners an mich: Koennte der Film nicht den Rechten gefallen? Wenig orginell und leicht zu beantworten, da mir seit dem Film "Zeit der Götter", also 1992, diese Frage bei allen Filmen gestellt wird. Aber denen sind die Filme zu kompliziert, auch kommen sie letztlich nicht gut weg. Worum es geht ist ein Gespräch über die Krisen der Moderne anzuregen die in Overgames angesprochen werden. Die Heilmittel die Mead, Bateson und der Kreis von Wissenschaftlern drumherum angeboten hatten, produzierten eben auch wieder nur diktaturähnliche Strukturen und einen Totalitarismus. Ob der nun Demokratie heisst oder anders gelabelt ist. Also zu sprechen gibt es genug.
Warum fehlt im Film der Marcuse, wird gefragt? Marcuse, frage ich zurück, der es fertig bringt im Kalten Krieg sowohl dem State Department Analysen des russischen Charakters zu liefern wie gleichzeitig der westeuropäischen Jugendbewegung die revolutionären Exerzitien zu schreiben? 
Ein ehemaliger Absolvent von Horkheimer und Adorno und vom Institut meldet sich ausführlich zu Wort: Er hat das aufgesogen, dieses demokratische Wesen, was gelehrt wurde. Das zu würdigen vermißt er im Film. Und wie nun die angebliche Umerziehing der Westdeutschen durchgeführt wurde, konkrete Beispiele. Ich frage Dreßen: Lass es uns doch mal direkt machen. Was hat man denn mit Euch gemacht? Erzähl Du doch mal. Das ist hier nicht das Thema, sagt er. Ein Frau sagt: Diese Show "The Price Is Right", dieses nach vorn rufen, beim Namen nennen, das ist doch wie in der Kirche. Gespräch über Religionsersatz, Substitute. Ist das nicht (auch) ein Ruf zum Sterben? Wie auch zum Trost? Ich erinnere die Inschrift am Sammelgrab meiner Mutter. Was stand da: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43). Das wird nun im Kontext einer liberal ecumene in massen- medien- und und modernetaugliche Form übersetzt. Zu etwas dazugehören. Den Schmerz der Bindungs- und Ortlosigkeit betäuben. Mein Gesprächspartner verabschiedet sich merklich aus der Situation. Und als ich sage: Gab es überhaupt etwas zum Re-Educaten und auf die Erlebnisse von Georg Stefan Troller als junger amerikanischer Soldat verweise ("...wir waren darauf vorbereitet auf ideologisierte blonde deutsche Bestien zu treffen, und trafen auf verängstigte frierende verstörte Deutsche) und auch auf Kussiel Padovers Buch ("Lügendetektor: Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45", herausgegeben von Enzensberger) hinweise sagt er: Da hören wir jetzt lieber mal auf. Klar wird: Dieses "Gemacht zu sein, statt geworden zu sein", das schmerzt. Nichts weiter gewesen zu sein wie ein Virus der angesetzt wurde im Rahmen einer Therapie. Um einen Prozeß ins Fließen zu bringen, Muskel spannen und entspannen "...das ist ja gerade das Raffinierte an diesem System, dass es nur um die Grundrichtung geht, und ansonsten sehr viel an Autonomie und an Eigensteuerung möglich ist. Und, ganz wichtig: Dieses System braucht Reformpausen, um neue Werkzeuge entwickeln zu können - um dann wieder zur „reinen Idee“ zurückzukehren...jetzt aber mit den für die komplizierter gewordenenen Systeme angemessenen Instrumenten. Dann können auch die Beschränkungen durch wohltätige und soziale Leistungen wieder wegfallen, also sprich New Deal oder Soziale Marktwirtschaft" (Aus MESSER UND UHR, Radiostück, wird im Mai gesendet).
Das Zentrum des Films kommt nicht zur Sprache: Gemacht statt Geworden zu sein: Die Technisierung des Bewußtseins, der Körper und der Seelen.
Dazu die Ökonomisierung (die Quantifizierung) von allen und zwischen allen. Das "Größte Glück der größten Zahl". Vorführung: Kopie avt Nr.5, i.O. 36 Zuschauer.

19.04. Düsseldorf, Filmwerkstatt:
Eine ehemalige Glaserei, Innenhof, kleines Kino im Keller, 98 Zuschauer, fast die 100er-Marke genkackt. Im Publikum Studenten der Kunstakademie und der FH für Gestaltung, dazu einige ortsansässige Künstler. Draußen Bahngleise, Freisitz, im Hof baut ein Kunstsammler Räume für seine Sammlung aus. Vorführung von DVD technisch in Ordnung, freundliche und interessierte Diskussion, viel Fragen zu Das Netz, einige Frager zitieren Textstellen aus dem Film. Wieder der Vergleich mit Adam Curtis. Versuche den Unterschied zu erklären, den zwischen Fernsehen und Kino. Den Unfug von "Pop-Collagen" als Filmersatz. Die Differenz der Budgetgrößen, mein Anstrengung einen so selbstbestimmten Produktionsapparat wie möglich zu bekommen usw. Stehe 00:10 auf der Straße. Menschenleer, keine Kneipe offen, laufe zum Hotel am Hofgarten, am Malkasten vorbei. Unruhiger Schlaf, haette gern noch ein Zigarillo geraucht.


20.04. Hamburg, Metropolis Kino:
Kein Schaukasten für Overgames. Nur außen hängt ein Plakat. Im Treppenaufgang dann Werbung für die Vorführungen von "Das Netz": A3-Kopie von der DVD-Hülle der Edition Kunst & Macht. Sie haben ein richtges Plakat bekommen. Und hängen es nicht auf. Der Kinoleiter ist erstaunt: Was, kein Schaukasten? Scheint ihn aber nicht sonderlich zu stören. Zunächst hatte er für Overgames lediglich einen Termin vorgesehen, erst auf meine Nachfragen dann noch zweimal zusätzlich. Der letzte der drei Termine ist Nachmittags 16:00, in der Woche. Begeisterung sieht anders aus. Ein Journalist, er schreibt für Spiegel-Online, teilt mir mit dass er vor einiger Zeit der Redaktion einen Text über Overgames vorgeschlagen hat. Nun hat die Redaktion abgelehnt hat. Es gaebe "zu viele kleine Filme". Im Kino 91 Zuschauer. In der Diskussion: Hinweis auf Prof.Mausfelder in Kiel der ein Buch über die Kriege der Amerikaner (oder einen Vortrag zu diesem Thema gehalten hat? Mal googeln) geschrieben hat, zu Seele, Individium und Gesellschaft. Der Rolle von Spielen. Wieder die Frage: Stimmt das, was der Fuchsberger erzählt hat. Scheint sehr stark zu interessieren. Was hat er denn gesagt? Spiele für Gameshows wurden in den USA aus der Psychiatrie in Gameshows adaptiert. Immer wieder dieser Hörfehler: Warum ich die unbewiesene These aufstelle, daß die Amerikaner mit Gameshows Re-Education betreiben wollten. Das kommt aber im Film garnicht vor. Eine andere Dame, stellt sich "als gute 68erin" vor, sagt: Gottseidank habe ich nie diese Spielshows im Fernsehen geguckt. Sie meint wohl: Gottseidank betrifft diese Re-Education mich ja nicht. In Dresden an der Hochschule waren die Westkollegen der Meinung, Re-Education beträfe nur den Osten, vielleicht noch China, mit Ihnen und dem Westen Deutschlands hätte das nichts zu tun. Komme mir langsam vor wie der Chefarzt in einer Psychiatrie.

Vergesse auch wieder auf den Autor der Spiele von Beat The Clock hinzuweisen und zu erzählen, warum der nicht im Film ist. Der hieß FRANK WAYNE, und entwarf die "stunts" und Spiele nicht nur für BEAT THE CLOCK sondern auch für MATCH GAME und PRICE IS RIGHT. Kam vom Vaudeville. Hatte seinen Sohn besucht, kleiner Ort an der Grenze zu Mexiko:"...mein Vater kam vom Theater, träumte davon den Hamlet zu spielen, den Romeo, machte Vaudeville, Puppentheater, Sketche in Bars, dann „Lebende Bilder“, "frozen scene", LIVING CARTOONS, das Publikum mußte raten was das Bild darstellt und der Beifall des Publikums für die beste Bildidee wurde mit einem "Laughmeter" gemessen, je lauter applaudiert wurde, desto mehr Lampen leuchteten auf. Ich hatte Mark Wayne in Albuquerque besucht. Der hatte als Junge in der elterlichen Garage das Modell für Plinko gebastel, ein Spiel in PRICE IS RIGHT. Erzähle ihm dass das exakt eine Kopie des Galton-Bretts ist, von Francis Galton (Eugenik). Interessant: die Traditionslinie Laurel & Hardy, Stummfilm, Vaudeville, Circus (P.T.Barnum, Freak-Show), Comic, Cartoons, animierte Strips - das führt ja zu Stunt-Shows wie BEAT THE CLOCK, "physical and observational". Goodson liebte diese Show nicht, war ihm nicht „intellectual“ genug, liebte mehr Shows mit Prominenten THATS MY LINE oder Quizshows wo Intelligenz gefragt war. Stuntshows machten das Publikum aber locker, entspannten. Mark: "Minute to Win It, that’s the same thing, Minute to Win It is Beat the Clock today" (wurde 2013 in Köln von Shine Germany mit deutschen Titel neu produziert, wegen schlechter Quoten aber abgesetzt). Hätte gern ein Interview mit Mark Wayne mit der Kamera gemacht, aber der litt unter den Nachwehen eines Autounfalls: War von einem Coca Cola-Truck überrollt worden. Deshalb psychisch sehr instabil, Zittern, öfter Aussetzer. Wirre Emails. Sylvia hatte Angst mit ihm zu telefonieren. Gab mir aber eine Kineskope von Laugh Line mit.

21.04. Berlin, Kino in der Kulturbrauerei:
Ein Cineplex. Im Foyer kein Plakat oder Flyer zu sehen. Kinochef hat sich am Vortag entschuldigt, Familienangelegenheiten, eine Vertretung ist da. Sie sagt mir, 8 Karten im Vorverkauf, sieht noch nicht so gut aus. Das Kino ist in eine ehemalige Maschinenhalle eingebaut. Ein Labyrinth. Es läuft laute Popmusik und weht der Duft von Popcorn. Wer soll hierher kommen um meinen Film zu sehen? Warte auf meinen Gesprächspartner Rüdiger Suchsland. Soundcheck im Kino. Bisher die größte Leinwand, schönes Kino mit 120 Plätzen. Vor der Vorführung von Overgames wird das Publikum gefühlte 20 Minuten mit Werbung und Trailern der kommenden Filme malträtiert. Es erklingt genau der Sound der in Overgames gezeigten (und hörbaren) Gameshows. Ein einziges Gedröhn. Man wird verrückt dabei, der Sound der Werbung klingt noch aufgedrehter. Erinnert mich daran als ich mal im Tonstudio die falsche Tür öffnete und in eine Trailerabnahme von Till Schweigers letztem Film geriet: Klang wie ein Raketenangriff. Das muß ja Schäden hinterlassen. Dann: Lockere Diskussion, gute Stimmung. Die Frage ob ein Künstler wissenschaftlich arbeitet und auch Wissenschaftler sein kann (Modethema Kunst und Wissenschaft) wird lange diskutiert, auch kontrovers. Sehe mich als Künstler, der Film setzt allerdings in einigen wiss. Disziplinen Standards, besser: Verschiebt durch seine Funde in Archiven und Fragestellungen Grenzen. Vorführung i.O., DCP Nr.4, geht nun nach Freiburg. Anschließend kleine Runde im "Schwarz-Sauer", 1 großes Helles, 1 Grappa. 1:20 ins Hotel. Am nächsten Tag 8:27 nach Leipzig, zum Pressegespräch im Museum der bildenden Künste. Dann weiter nach Dresden. In der Nacht kommt noch eine Email von einer Kunsthistorikerin:"...Die Frage nach entweder Kunst oder Wissenschaft halte ich auch für antiquiert, das betrifft sowohl Deinen Film, aber auch die Einschätzung der Mead. M.M. hat mit ihren Langzeitstudien und der Feldforschungsmethode (dort wird es wohl eingeordnet) unvergleichliche und unwiederholbare Erkenntnisse gebracht. Wo wäre schon absolut gültige, objektive Wissenschaft? Der Anfang ist immer die naive Frage. Dann hättest Du nach der längst bekannten Antwort, die Psychologie des einzelnen Individuums à la Freud etc. ist nicht übertragbar auf ganze Gesellschaften, Deine ganzen Recherchen auf ein paar Meter Wissenschaftsgeschichte (die so verzweigt noch einen Film ergeben hätte – ich gestehe, das Netz hab ich nicht gesehen wegen Umfeldverweigerung, also Begegnungen der alten Art) verkürzen müssen oder ganz aufgeben. Und Huizingas Homo ludens scheint auch keiner mehr zu kennen...".


22.04. Leipzig, Museum der bildenden Künste:
11:00 Pressegespräch zu Ankauf und Schenkung. Eine Wand mit ca.10 Arbeiten gehängt, ein Film ("Hommage á La Sarraz") läuft zusätzlich. Ca. 20 Leute da, läuft entspannt und locker. Was mir auffällt: die Vernähungen mit Fotoleinen und das große s-w Cibachrom wirken flach, keine Tiefe. Halt technisches Material. Auch das Video. Die beiden frühen Bilder auf Leinwand mit Farbe sind viel intensiver. Man bräuchte als zwei verschiedene Beleuchtungen und Luxzahlen. Oder muss es räumlich trennen, obwohl es inhaltlich zusammengehört. Bringe den Begriff "Kuckucksei" ins Spiel, das nun im Nest des Museums liegt. Frage der Presse: Was und wann und wie wird das Museum denn nun mit den über 400 Arbeiten von Ankauf und Schenkung inkl. Filmen arbeiten? Der Vertreter des Museums windet sich. Ich sage: 2018. Das Museum ist arm. Die Stadt, munkelt man, soll sich an der Londoner Börse verzockt haben. Nun ist der Etat aller Behörden um 30% gekürzt worden. Warum nicht, die Renter sollen ja auch künftig länger arbeiten. Irgendwie müssen ja die Schuldenberge wenigstens begrenzt werden. 13:00 weiter nach Dresden.


22.04. Dresden, Programmkino Ost:
17:30 zum Kino, Programmkino Ost. Begrüße den Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, der die Veranstaltung organisiert und bezahlt hat, der ist begeistert: Ausverkauft. Kino wird voll. 169 Zuschauer. Paar Leute sitzen während der Vorführung noch auf den Stufen.

Nach der Vorführung (etwa 5 Personen während des Films frühzeitig gegangen) ca. 15 Minuten Pause. Dann der Saal noch zu 2/3eln gefüllt. Die Diskussion wirkt auf mich bischen zu homogen, hört sich sehr Amerika- und Demokratiekritisch an. Teilweise auch verstiegen: Zum Feminismus. Verpasse zu reagieren, bin in Gedanken und dadurch anderweitig beschäftigt. Was soll ich auch sagen? Das Statement ist ja der Film. Aus dem Publikum kommt zu wenig. Keine Gegenrede, kein Zwischenruf, auch wenn manches vom Panel vielleicht zunächst unverständlich wirkt (Kohlenberger, obwohl ich eifriges Nicken im Publikum notiere, auch Beifall), der Psychiater Maaz referiert was er schon mal in seinen Büchern geschrieben hat, der Veranstalter und Direktor der Landeszentrale für politische Bildung sichert seine Funktion und Position listig ab, klingt im Nachhören aber vielleicht interessant. Einiges (auch von mir) hört sich holzschnittartig an. Aber wie macht man (ich) das in so einer nicht von mir zusammengewürfelten Situation differenzierter? Denke über Zahlen und rechnerische Konstrukte nach, dann bin ich schon wieder dran und soll was zu Gameshows sagen, anstatt weiter über das größte Glück der größten Zahl und Dhragi und die Finanzkrise nachzudenken. Das ist doch die Verbindung von Zirkus, Show und Ökonomie. Zahlenakrobatik. Ein Finanzjongleur. Eine Scheinwelt, in der es vielen ganz gut geht. Wir leben in einer Scheinwelt, einer Fiktion ("Trumans World", ein amerik. Spielfilm mit Jim Carrey), die uns gestattet die Probleme auszublenden. Wenn die angesprochen werden (z.B. im Film) nimmt man das hin. Als Entertainment. Wie Kunst allgemein. Oder wie kritische Vernunft oder Kritik der Vernunft. Ist alles eins: Unterhaltung, immerfortwährende Erweiterung von Spielräumen, aber als Selbstzweck. 
Was der Film vorführt erscheint dem Saalpublikum anscheinend als ein rein theoretisches Thema, keine und keiner (im Publikum) hat das Gefühl zu haben es gehe um sie-ihn. Man betrachtet die vorgeführte Problematik und wie es zu so einer Weltverfaßtheit kommen konnte mit Interesse, dem Interesse des (halbwegs gebildeten) Unbeteiligten. In aller Ruhe. Keine wirkliche Unruhe im Kino. Wie es ist koennte es anscheinend immer weitergehen. Keine besonderen Vorkommnisse schreibt der Wachmann nach seinem Rundgang ins Kontrollbuch. Das Bild der Schafherde im Film. Die schäfichten Deutschen (Nietzsche). Obwohl jeder weiß das der Laden in keinem guten Zustand ist. Aber er scheint halbwegs zu laufen. Das scheint zu beruhigen und zu reichen. Heisst: Den Leuten geht es gut. Auch eine Erkenntnis. Vor allem für die, die was zu sagen haben.
Nochmal: Was im Kino fehlt ist die Gegenrede aus dem Publikum zu dem was vom Panel kommt, und zu dem was der Film ausbreitet. Amerika hat nach 1945 Europa neu gemacht, ist das kein Thema? So kommt es nicht zum Streit, schon garnicht zu einem echten und offenen Gespräch.
Das Panel dient so lediglich als Projektionsfläche und zur Beruhigung von evtl. während des Films entstandener Verwirrung und Unruhe, als notwendige Fläche für einen therapeutisch nötigen Nachklang des Films. Die eigentliche Absicht des Abends (Film & Gespräch) kann so aber nicht funktionieren. Schade. Frage mich: Geht es also nicht ohne Formatbibel? Um zum Ergebnis (Interaktion zwischen panel & audience) zu kommen (Zimbardo)? Oder ist der Abend eher im Sinne der Feldforschungsmethoden von Margaret Mead interessant und ausreichend (try and error)?
Kann aber den Hinweis auf das Buch von Mead "Keep your Powder Dry" (Cromwell: Trust in God and Keep....") placieren. Da ist vieles in schönster Klarheit nachzulesen. Vergesse aber leider wieder auf die Passage von Mead hinzuweisen wo die amerikanische junge Mutter Problemen bei der Erziehung ihrer Kinder ratlos gegenübersteht (weil die Familie im klassischen Sinne weggefallen ist) und auf Ratgeberliteratur in Journalen, Radio und später TV angewiesen ist. Sehr gut die Passagen auch zu Integrations-problemen und amerikanischer Indentität. Go West, ununterbrochener Wechsel von Ort und Zeit und Neuanfang in Permanenz.
Vergesse leider auch das Bild des Büros zu bringen, wo die Blaupausen und Weltentwürfe der berühmten Wissenschaftler umgesetzt und praktisch organisiert werden sollen. Das Büro besetzt von Dummköpfen, von der Sache Begeisterten, Übereifrigen, Trinkern, Einsamen, Schusseln und Faulpelzen. Das macht es schwer bis unmöglich aus Papier Welt werden zu lassen. Das was trotzdem entsteht, reicht aber anscheinend. Lustig: Der Faulpelz, der einfach nichts macht oder Aktivität nur vortäuscht scheint im Moment der neue Revolutionär. In Konkurrenz zum Besitzbürger (kann aber auch beides in einer Person sein). Gut, mehr scheint nicht drin bei so einer Veranstaltung in dieser Konstellation. 
Gilt immer noch die Herakles-Metapher mit dem Held in einer Feedbackschleife. Ermüdend. Dann paar Glas Wein in netter Begleitung. 2:00 im Hotel. Vorführung technisch i.O. Kino will den Film weiter einsetzen. Dennoch irgendwie am nächsten Morgen mulmiges Gefühl im Magen. Irgendwas lief schief, aber was? Weiter nach Leipzig, Sonntag abend wieder Berlin.

23.04. Leipzig, Passage-Kinos:
Früh schnell in Dresden bei Karstadt noch paar neue Socken (Burlington) gekauft, ein Ritual, beruhigt mich irgendwie (auf der Pferderennbahn bekamen nervöse Pferde eine Ziege oder ein Schaf in die Box gestellt, das sollte die beruhigen). In Leipzig nach der Ankunft schnell in der DB-Lounge, paar Emails und Kritiken googeln. Das meiste erschütternd. Vieles ähnelt in Diktion und Urteilsvermögen dem was zu "Das Netz" vor 13 Jahren erschien. Nun ist eine neue Generation am Werk, die Hilflosigkeit vor dem neuen Film ist aber eher noch größer. Es fehlt an Zeit und Bildung. Alle wollen einen online-Screener und DVD. Um ins Kino und in Pressevorführungen zu gehen und sich den Film als "Film" anzuschauen haben die meisten keine Zeit. Das hat was Verelendetes, Klägliches. Auch hier: Fiktionalisierung. Und dann das medientheoretische Geschwätz, was auf Overgames nicht angewendet werden kann. (Forum Expanded).

In den Emails, noch mitten in der Nacht geschrieben im Anschluß an die Veranstaltung in Dresden, die Nachricht einer jungen Kunsthistorikerin die grad in Köln promoviert "...das ist aber (gestern) wirklich schade um Ihren guten Film gewesen. Allerdings, so denke ich, wussten sie ja wohl sehr gut, auf welche Verzerrung des Materials sie sich da eingelassen hatten. Bitte erlauben Sie mir aber dennoch zu sagen, dass ich diesen Abend in all seiner Verzerrung für ausgesprochen gefährlich halte. Bei einer solchen Besetzung des Podiums (männlich, weiß, locker über 50, Tendenz moderat-rechts) allerdings war das fast zu erwarten. Da wollten Sie es echt wissen, lieber Lutz Dammbeck. Sie haben vielleicht Nerven!!!" 
Nachmittags drei Stunden mit dem Kurator vom Museum Inventarisierung, Listen durchgehen, Archivnummern abgleichen, Werkgruppen bestimmten Nummern zuordnen.
Dann im "Herakles Archiv", schöner großer Raum, die Unabomber-cabin fehlt noch, ist zum "Begasen" bevor sie eingelagert werden kann. Der Kurator liest grad in "Besessen von Pop", sagt er. Kommt aus Münster, Vater war jahrzehntelang Direktor des dortigen Kunstmuseums. Ich glaub er fühlt sich in Leipzig auch nach paar Jahren Anwesenheit immer noch bischen wie im Ausland. Als er im Rahmen meiner Ausstellung im Museum Weserburg Ausschnitte von Overgames sah, war der Abwehrreflex sofort da: Das ist aber nicht mein Bild von ´68. Ich rufe Fred Gehler an, mit ihm soll im Anschluß an die Vorführung das Filmgespräch stattfinden. Daraus wird nichts, es gab einen Unfall im engeren Familienkreis, er muß nochmal ins Krankenhaus, da wird operiert. Schade, ich hatte mich auf das Gespräch gefreut, wir hätten über "Film" und "Kino" geredet und versucht Overgames in die Reihe meiner und anderer Filme zu stellen. Hat ja alles hier in Leipzig begonnen. Nun muss der Kurator einspringen, er hat ja ohnehin für das Museum die Veranstaltung im Kino zu eröffnen. Er zieht sich schnell zurück und beginnt in "Besessen von Pop" zu lesen.

18:00 ins Kino. Die Kinoleiterin ist erfreut, daß der Kartenvorverkauf seit dem Vortag angezogen hat. Fast ausverkauft, 90 Zuschauer. Soundcheck, wieder Pegel auf 3.9. Waaas, sagt der Vorführer, da würden mich andere Produzenten aber lynchen, die wollen dass es richtig knallt.
Kino gut gefüllt, nur die erste Reihe bleibt frei. Dann Filmgespräch. Der Kurator ist bischen unsicher, es ist nicht sein Thema und Film nicht sein Spezialgebiet. Erste vorsichtige Fragen aus dem Publikum. Immer wieder: Was ist Ihre These, können Sie die mal erläutern? Dann Thema Nation, nationale Identität, Verweis auf Pegida und deren Beharren auf "Nation". Unterschiede nach 1945 im Verschweigen und Verdrängen von Schuld.
Erwähne Tübke und sein Bild "Lebenserinnerungen des Dr.jur.Schulze" das gegenüber im Museum hängt, technisch mittelalterlicher und venezianischer Malerei, inhaltlich antifaschstisches Votivbild. Verweise auf die Zäsur 1959-1960, wo auch Fuchsbergers Show Premiere hat und zeitgleich die nächste Phase der Re-Education beginnt. Der Patient ist nun, dank Wirtschafswunders. ansprechbar. Nach dem erfolgten Zusammebruch nun Schuld anerkennen, durcharbeiten, neujustieren. Auslöser die Hakenkreuz-Schmiereien in Köln in der Sylvesternach 1959-60.
In der Adorno-Biografie von Detlev Claussen gibt es einen Verweis auf eine geplante Studie Adornos und des Instituts über das neo- und restfaschistische Potential in Westdeutschland, Auslöser sind die Hakenkreuzschmierereien auf westdeutschen Friedhöfen und an Synagogen. Meiner Meinung nach beginnt ab hier die eigentliche Re-Orientation der Westdeutschen.
Nach dem Historiker Michael Wolfsohn zwar als "Vorfall" von osteuropäischen Geheimdiensten im Kalten Krieg initiiert, aber die Auswirkungen sind enorm, und eine echte Cäsur.
"Adenauer befand sich auf einer ausführlichen Amerika- und Japanreise, die nicht zuletzt das internationale Renommee der Bundesrepublik Deutschland aufbessern sollte. Denn um die Jahreswende 1959/60 hatten antisemitische Ausfälle, darunter Hakenkreuzschmierereien an der neuerrichteten Kölner Synagoge, die Konrad Adenauer drei Monate zuvor mit eingeweiht hatte, sowie eine Reihe von Friedhofsschändungen für Empörung gesorgt. Heute ist bekannt, dass sie von der DDR-Staatssicherheit in Auftrag gegeben worden waren." (FAZ)
Siehe auch: Bundestagsdebatte 18.Februar 1960, Gründung einer „Regierungskommission zur politischen Bildung", Teilnehmer u.a. Horkheimer, Suche nach einem neuen gesunden Nationalgefühl; Heilung des verletzten Stolzes der Nation durch die Arbeit der Kommission. Bis 1965 vier Arbeitssitzungen. Dann Gespräch über Religions-Substitute, Adam Smith invisible hand,  das Eigentum ist nun „heilig“. Wer es antastet: Kopf ab. Von Hébert bis Ostblock. Die Ideen die nun an die Stelle der alten Werte gesetzt werden heißen Individualität, Vernunft, Rationalität. Der "Geist" des Kapitalismus: Preis und Ware. These: Der „Geist“ oder die "Seele" des Systems müssen verdrängt werden, weil sie nicht lebbar sind. Preis und Ware - Neid und Geiz. Ein teuflisches Quartett.
Diskussion wieder zurück zum "deutschen Knacks", zum Thema nationale Identität. Der Kurator verweist auf seine westdeutsche Sozialisation, für ihn würden solche Dinge keine Rolle spielen, er sieht in solchen Diskussionen ein rein ostdeutsches Phänomen. Bringt Kulturnation und Verfassungspatriotismus ins Spiel. Alles andere willkürliche Konstruktionen aus dem 19.Jahrhundert. Gab es in Deutschland noch nie, einen Staat. Nur Stämme. Frage: Also einen Staat zu bilden ist dem deutschen Wesen fremd? Er scheint ja zu sagen, obwohl er sich um eine klare Antwort drückt. Weiter Gespräch über das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Napoleon und 1806. Verweise auf die historische Hochbildung der deutsch-österreichisch-jüdischen Analysten und Psychiater, die nach einer originären identitären Verfasstheit der Deutschen suchten, um dort anzuknüpfen für einen Neuaufbau. Auf das permanente Scheitern der Deutschen aus eigenem Willen und Bedürfnis einen Staat zu gründen. Der letzte Versuch endete furchtbar, danach waren sie nur noch Mündel.
Im Publikum ein Herr mit österreichischem Akzent und Bierglas in der Hand. Versucht trunkenen Einwurf zur Länge des Films, stoppe ihn mit dem Hinweis auf das österreichische Trauma von 1870-1871 weil Österreich beim zweiten Versuch einer Staatsbildung nicht mit dabei sein durfte, ein Regressions-Phänomen. Erlaubt mir die Überleitung zu den Regressions-Forschungen der Amerikaner. Antworte auf langathmige und nur auf Abladen von vom Gefühl gespeister Statements ohne echte Frage nicht mehr ausführlicher, nur ein knappes "Danke sehr". Aber solche "Abladungen" sind wichtig. Ende der Veranstaltung in aufgeräumter und gelöster Stimmung, Blumen für mich und den Kurator von der Kinoleiterin. Zusammen noch ein Bier im Foyer. Wieder kommt er auf wissenschaftliches Arbeiten zu sprechen, und (scheinbar aus seiner Sicht ein Gegensatz) meine Art zu arbeiten. Das Übliche: Du würfelst wahllos und willkürlich zusammen wie es Dir passt. Unterschwellig der Vorwurf von Tendenz. Die Richtung scheint nicht zu passen, er hat es anders gelernt, nun wird der Spalt gesucht über den díe Aussagen des Films ausgehebelt werden können. Problem ist, dass die Fakten stimmen. Einspruch gegen seine Bewertung von der Kinoleiterin die Kunstgeschichte studiert hat.
Vom Museum ist niemand gekommen, weder die Direktion noch Mitarbeiter. Schätze es waren 80-90 Zuschauer. Dann ins Hotel, noch geselliger Ausklang beim Cousinentreffen der Familie meiner Frau. Alle wollen morgen Vormittag ins Museum der bildenden Künste kommen, wo Teile der durch Ankauf und Schenkung erworbenen Arbeiten zum "Herakles Konzept" (LVZ: ein Kuckucksei) vom Museumdirektor vorgestellt werden sollen.
Per Email kommt ein weiterer Kommentar zur Veranstaltung in Dresden, von einem Komponisten der dort an der Musikhochschule lehrt: "...was Sie über J. Fuchsberger gesagt haben, habe ich genauso wahrgenommen. Es war eine Mischung aus Auffallen Wollen in einem TV-Kontext und einer plötzlichen Eingebung, die ihn für den Bruchteil einer Sekunde seine gameshow-Tätigkeit als „Gehirnwäsche“ empfinden ließ, bis er sofort merkte, dass seine Beteiligung dabei ein wichtiger Punkt des Funktionierens war. Interessanterweise habe ich gestern Abend einen Hinweis bekommen, dass diese blitzartigen Eingebungen analog dazu in einem mathematischen Modell existieren könnten. Wenn Sie wollen, werde ich Sie auf dem Laufenden halten. Interessant waren auch die Bewegungsrituale in den Gameshows, vor allem dieser „Gummibandtanz“ in Blacky’s Show. Es verrät so viel vom Normalen, das sich fundamental vom Natu?rlichen unterscheidet. Siehe auch den „krankhaften“ Anteil der Bewegungsmuster aus den balinesischen Ramayana-Epos der Filmaufnahmen von Margret Mead. Der Unterschied ist offensichtlich, vor Allem in den Ergebnissen der Anwendun durch die Einbindung in ein grundlegend unterschiedlich orientiertes System...leider kam die Bildsprache, wie auch der Film selbst in seiner Vielschichtigkeit und künstlerischen Aspekte in der Diskussion nicht wirklich zum Vorschein. Das kann passieren bei so prozeßorientierten, offenen und trotzdem auf den Punkt recherchierten Beiträgen wie Ihrem, wenn die „persönlichen Hausaufgaben“ (die, jedes Einzelnen, vor allem derer auf dem Podium) nur marginal gemacht wurden..."

24.04. Leipzig, Museum der bildenden Künste:
11:00, Veranstaltung in der dritten Etage des Museums, vor der Wand mit den 12 Arbeiten und einem Video von "Hommage á La Sarraz". Der Museumsdirektor eröffnet mit der Merkung, wenn er beim Pressegespräch am Freitag mit dabei gewesen waere, haette er beim Begriff "Kuckucksei" gleich dazwischenge-grätscht. Gibt mir so die Gelegenheit das nochmal ausführlich zu erläutern. Betone das nun beide Seiten Aufgaben haben. Ich, mir das Museum überhaupt erstmal in Ruhe anzuschauen. Das Museum, sich mal in Ruhe und mit Gründlichkeit anzuschauen was nun im "Herakles-Archiv" ins Haus gekommen ist. Stelle meine Sorge in den Raum, ob das Museum inhaltlich, technisch und finanziell überhaupt in der Lage ist so einen interdisziplinären Ansatz darzustellen. Der Museumsdirektor ähnelt meinem ehemaligen Leipziger Professor, ein Filou, bringt gleich das Gespräch auf eine unterhaltsame Ebene, da folge ich gern. Das schicksalhafte schwere Blei hängt ja ohnehin hinter uns an der Wand. Gebe Anekdoten und paar Schnurren zum Besten, die Jahre im Osten erscheinen ja wie ein Paradies, wundert sich der Direktor. Werde den Teufel tun und eine bitternisgetränkte Leidensgeschichte und Klage über verlorene Jahre abliefern. (den Jüngeren geht das ohnehin auf den Geist, Opa erzählt wieder vom Krieg). Als er fragt: Warum wir nicht nach Leipzig zurückgekommen sind ruft Karin:"Nur in Handschellen!", ehe ich sagen kann: "Man zieht auch nicht zurück ins Kinderzimmer seinere Eltern." Frauen sind eben radikaler. Das Publikum dankt für den leichten und entspannten Ton mit Lachen und Applaus. Ob das das Museum in der Lage ist den multimedialen Ansatz des "Herakles Konzept" willens und imstande ist umzusetzen wird sich zeigen. Bin bischen skeptisch. Es ist nicht so einfach (auch für mich) eine Idee zu entwickeln um das adäquat darzustellen. Das kostet nicht nur Zeit sondern auch Geld. Aber ein Narrativ zu entwickeln, um das "Herakles Konzept" mal im Raum, begehbar und erfahrbar, zu inszenieren - dazu hätte ich schon Lust. Bilder, Collagen, Texte, Film und Hörspiel zusammenzuführen - das gabs noch nicht. Anruf bei Fred Gehler, berichte wie es gelaufen ist. Er liest mir am Telefon ein Zitat aus einem Buch von Imre Kertész vor, über die Hunde der Erinnerung. Großartig. Muss ich haben, unbedingt, er will es mit der Schreibmaschine tippen und mir nach Hamburg schicken. Gespräch bricht leider ab, Akku vom Handy leer. Zum Bahnhof, wieder nach Berlin, am Abend Gespräch im Kino in der Brotfabrik mit Studenten der Kunsthochschule Weißensee. Gottseidank ist heut keine Rezension erschienen, das spart Nerven.


24.04. Berlin, Caligari-Platz, Kino in der Brotfabrik
:
Im Kino 50 Besucher, paar sitzen auf den Stufen. Das Publkum vorwiegend Studenten der Kunsthochschule Weißensee, dazu paar Künstler und Stadtteil-Intellektuelle. Diskussion beginnt damit dass Claus Löser erzählt das die Gründung der Berlinale Teil des Re-Education-Konzepts der Amerikaner war. Da Cannes und Venedig noch nicht bereit waren die amerikanischen Filme "hereinzulassen" baute man sich eine eigene Plattform in Berlin. Ergänze mit Verweis auf das Literarische Kolloqium am Wannsee, wo das New American Cinema mit Geldern der Forstiftung auf Europatourneé geschickt wurde. Vergesse leider die Geschichte die mir ein Hamburger Filmemacher erzählte. Als dann alle, Publikum, die angereisten amerikanischen Filmemacher und ihre wißbegierigen jungen deutschen Kollegen besoffen waren, sagte einer der Amerikaner: Ihr blöden Arschlöcher, wißt ihr denn nicht dass das alles vom CIA bezahlt wird? Wissen und Wissen. Auch hier, wie beim Hören und Sehen von westdeutsch-amerikanischer "Propaganda" durch die Ostdeutschen: Man hört und sieht es, versteht es aber nicht. Weil die soziale Wirklichkeit fehlt. Auch weil es einem gefällt, und man es nicht wieder preisgeben möchte. Stelle mir vor dass es Ruttman, Gropius, Benn und Heidegger ähnlich ging (mit Binnendifferenzierungen, sicher). Dann weiter mit Themen wie: Transfer Wissenschaft-Entertainment und Massenkultur. Verweise auf Alan Funt, zeitweise Assistent von Kurt Lewin (Lewin: der Gott für Milgram und Zimbardo). Funt hat das Format "Versteckte Kamera" (Candid Camera) entwickelt, Vorläufer war "Candide Microphone". Ein Abfallprodukt aus der Werkstatt von Kurt Lewin, der Gestaltpsychologie. Wieder das Unbewußte, die Gotteshand: Mein Film "Dürers Erben" beginnt mit Archivmaterial das den Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler zeigt, der einen Schimpansen auf den Arm trägt, dessen Malereien vorgestellt werden. (Korrektur am 9.Juni 2016: Das ist falsch, der Ausschnitt zeigt den Kölner Zoodirektor, der von den Experimenten Köhlers mit Affen auf Teneriffa erzählt!) Köhler gehörte wie Arnheim, mit dem ich 2004 in Ann Arbor für "Das Netz" ein Interview gemacht hatte zur Berliner Schule der Gestaltpsychologie. War damals erschüttert über "das Arnheim-Archiv", die wahllos und lieblos abgestellte Kartons in einem kleinen Bürozimmer, und über Arnheims Situation im Altersheim in einem 2er-Zimmer. Den Sinnzusammenhang zu "Dürers Erben" habe ich allerdings erst 15 Jahre später begriffen. Das Thema: Ideen von Versuchsanordnungen werden in den Medien trivialisiert und kommerzialisiert.

Einer der Studenten steht auf und sagt: Ich habe nun den Film zum zweiten Mal gesehen und bin immer mehr beunruhigt. Im Film ist für mich vieles unklar, wenn Sie hier sprechen ist das viel klarer. Er fühle sich durch den Film manipuliert. Was ist Ihre Absicht? Denn manchmal sagen Sie, sie machen das absichtslos. Versuche den Unterschied von These, Absicht, Predigt und meinem Ansatz zu erklären, dass es sehr schnell technisch wird, wenn man dem Material folgt. Immer der Nase nach, wie bei den Gebr. Grimm. Das ist keine Zeit für Empathie und Vorbereitung einer Predigt. Erkläre daß Film und Gespräch verschiedene Medien sind, sich aber ergänzen.
Eine Frau sagt: "Overgames" ist offener wie der Film "Das Netz", sie fühlt sich da wohler beim Umhergehen in den Gedankenfeldern. Eine Studentin fragt wie man das Gute im Menschen fördern kann, anstatt immer nur das Böse und Fehlgeleitete in den Mittelpunkt zu stellen. Erinnere mich an die Diskussion mit jüdischen Wissenschaftlern bei Weibels Tribunal am ZKM im letzten Jahr (Gegen die Verbrechen der Moderne an Mensch, Pflanze, Tier). Der sagte: Aber bei der Milgram-Study haben eben 30% nicht die tödlichen Stromstöße gegeben. Da muß man ansetzen. Clear Elements, Frieda Fromm-Reichmann, auch Brickner in seinem Buch.
Dagegen steht: Das tödliche Quartett Neid - Geiz - Preis - Ware. Das verursacht doch gerade die Fehlbildung. Das ewige Manko der Psychoanalyse: Haus ohne Fenster. 50 Zuschauer. Noch mit Löser, seiner Freundin, einer Kamerafrau, und paar Studenten zusammengesessen. Mit der Straßenbahn zum Hotel. Früh Richtung Tübingen.


25.04. Tübingen, Kino Museum:
Spaziere eine Stunde vor Beginn bischen durch Tübingen. Im Park hinter dem Kino ein Denkmal für Carl Correns, den Statthalter Mendels "der das Zeitalter der Vererbungslehre einleitete". Gehe auch am Kino vorbei. Zunächst finde ich keinen Hinweis. Dann ein Schaukasten, aber nur selbstausgedruckte Plakate und Zettelkram. Sieht bischen rumpelig und wenig einladend aus. Frage den Kinoleiter wieso. Er hat keine Originalplakate bekommen. Der Chef des Kinos (er hat noch sieben weitere in der Stadt) und breitet die Malaise der Kinosituation aus. Interessant. Er wundert sich das so viele Zuschauer kommen.
Eine Professorin des Zentrums für Medienkompetenz der Uni Tübingen macht eine kurze Einführung zu meiner Person und Werk: Bildende Kunst - Animations-und Experimentalfilm - Dokumentarfilm. Völlig korrekt, kurz und knapp. 80 Zuschauer. Es läuft die DCP die ich in Bochum gesehen habe, dort lief sie fehlerfrei. Hier ist am Beginn des Kapitels "Quex" ein kurzer Tonausfall. Das kann eigentlich nicht sein, denn beim Aufspielen der Daten von der DCP-Festplatte wird mittels einer Prüfsumme kontrolliert, ob alle Daten überspielt wurden. Ansonsten bricht das System ab und gibt eine Fehlermeldung raus. Tja, und wo waren nun die Daten dieses Aussetzers? Kopie ist schon weitergeschickt. Muss ich in Wiesbaden nochmal testen. Bild wurde nicht vollständig wiedergegeben, oben und unten war etwas abgeschnitten. Hatte mich auf den Kinoleiter verlassen das sie eine Supertechnik haben. Hätte doch anspielen lassen, kann ja am Objektiv verändert werden. Die Tour hinterläßt bei mir langsam Spuren. Bleibe nun bis zum Ende der Vorführung sitzen.
Die Diskussion ist freundlich, viel Begeisterung und Dank, rede am meisten, habe dann doch gute Laune, verkaufe auch paar Bücher. Dann noch in kleiner Runde Maultaschensuppe und zwei Bier. Am Tisch sitzt ein Tübinger Verleiher, den ich aus Hamburg kenne. Er hat nach 1989 ein, zwei Filme in Leipzig und über den Osten gedrehtund betreibt in Leipzig das Passage--Kino, wo auch einige Tage zuvor Overgames lief. Erfahre nun das er in Leipzig geboren wurde, in Taucha. Er gibt noch eine Runde Grappa aus und läd mich ein am nächsten Morgen in seinen Verleih zu kommen, will mir noch paar Kinoadressen mitgeben.
Auf dem Weg zum Hotel erzählt mir der Mitarbeiter der Universität der die Veranstaltung großartig vorbereitet hat und paar Jahre beim SWR als Redakteur gearbeitet hat: Das Kino ist tot, aber das öffentlich.-rechtliche Fernsen bald auch. Die Dritten Programme sterben mit dem Publikum und den Redakteuren. Angesichts der trostlosen Lage auch dort ist die Pensionskasse (da gehen fast 70% der Gebührengelder hin, gleicht Onkel Dagoberts Swimming Pool voll mit Goldmünzen) Valium, Glückserwartung und Schmerzensgeld in einem.
Die Redakteurin von Zeit-Online teilt mir per Email mit, dass kein Text über Overgames erscheinen wird. Ihr Autor habe kurzfristig abgesagt. Schon merkwürdig. Vor drei Wochen hatte sich ein Autor gemeldet und eine DVD erbeten. Dann meldete sich ein anderer Autor drei Tage vor Filmstart. Er habe den Auftrag einen Text zu schreiben. Beide sind am Film gescheitert? Frage bei Zeit-Online nach und biete exklusiv das Tourtagebuch an, sollen sie es doch online stellen. Keine Rückmeldung.

26.04. Tübingen, Arsenal Filmverleih:
Kurzer Schnack über Hamburg und Leipzig, er stellt mir seine Mitarbeiter vor. Längeres Gespräch mit einem ehemaligen Studenten von Walter Jens. der nun Chef für Verkauf und Vermietung ist. Gutes Gespräch über 68, moderne Massengesellschaft und vor allem die Entwicklung von Film und Kino. Düsteres Panorama. Erschreckend: Studenten kommen nicht mehr in die Filme, auch wenn es leichtere und unterhaltsamere Kost ist wie Overgames. Sitzen in Blockbustern. Oder schauen auf dem Laptop. Also Reduktion. Bereden die Idee im Herbst nochmal eine kleine Südwest-Tour um Tübingen und das Arsenal herum zu stricken. Er gibt mir zwei Branchenjournale mit, BLICKPUNKT:FILM und Filmecho/Filmwoche. Blättere das im Zug durch: Box Office, Branchentips, wieder die Fotos von den Feiern und Empfängen wenn sich Produzenten, Förderer und Filmbeamte treffen. Wie beim Hausarzt, wenn man sich neugierig und angewidert den in Gala und der Bunten abgebildeten people-Zoo betrachtet. Lasse die Hefte im Zug liegen. Gibt nur schlechtes Karma. Mit mir und meinen Filmen hat das nichts zu tun.

26.04. Würzburg, Kino Central:
Das Kino ist eine ehemalige Schule. Das Gebäude wirkt etwas verwahrlost, auch bedingt durch die lange Zeit des zwischenzeitlichen Leerstands, Erinnert mich von außen an Kulturhäuser in der russischen Provinz. Innen aber angenehmes Foyer, gute Infos zu den Filmen, der Kinosaal sehr schön, dann auch technisch gute Vorführung. Das Kino wird betrieben von einem Verein, 500 Mitglieder, eine GmbH. Bürger wollten in Würzburg ein Kino behalten, wo gute Filme gespielt werden, und organisierten sich. Bald gibt es einen Neubau auf dem Gelände einer ehemakligen Brauerei. 
31 Zuschauer. Die lokale Presse berichtet nicht mehr über das Programm des Kinos, die Zeitung wird gefüllt mit Beiträgen einer Zentralredaktion, um die nur noch lokal ein Mantel gelegt wird. Während des Abspanns huschen 2/3el der Zuschauer aus dem Saal. Mit dem Rest angeregtes Gespräch. Frage: Warum nicht kürzer geschnitten, es wird zuviel Zeit mit Bildern verbraucht die nutzlos erscheinen, vor allem wenn Sie (ich) im Atelier sitzen. Das würde doch reichen nur einmal zu zeigen. Die vielen Schnitte die Bücher zeigen. Was soll das für Informationen bringen? Im Internet sind die Filme komprimierter. Gegenfrage: Stört Sie das ich 4-5 mal im Bild zu sehen bin? Nein, aber kürzer und den Film eher als Serie á 20 Minuten. 
Schauen Sie sich den hier an, sagt die Kinochefin zum Abschluß der Veranstaltung und zeigt auf mich, einer der letzten Autorenfilmer. Seine größte Leistung ist, das es diesen Film überhaupt gibt.
Im Anschluß mit der Kinochefin zum Italiener. Wir kennen uns aus Berlin, Sie hatte 1993 meinen Film "Zeit der Götter" ins Kino gebracht. Erinnere mich an den gemeinsamen Auftritt bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig, an ihren weißen italienischen Sportwagen mit roten Ledersitzen und das Essen nach der Vorführung im Festivalpalast unter Bäumen in einem kleinen Landgasthof. 
Was hat sich seitdem verändert? Das Kino ist eine Maschine geworden. Auch hier Technisierung und Ökonomisierung, Hand in Hand. Mitte der 1980er Jahre ist sie mit anderen Verleihern und Kinobetreibern nach Brüssel gefahren. Dort war gerade einer der ersten Cineplexe eingeweiht worden. Ein Kasten aus Sichtbeton, kackbraun angestrichen. Alle waren entsetzt: So sieht also die Zukunft des Kinos aus. Es ging um Kostenreduzierung. Ein Projektor bespielt nun fünf oder mehr Säle. Das Konzept kam aus den USA. Das technische System hieß "Interlock" (heute noch? googeln). Ganze Jahrgänge von Heranwachsenden werden inzwischen in Cineplexen, oft am Stadtrand, sozialisiert. Fahren als Gruppe dahin. Essen gehen (Fastfood, Tacos, Cola), dann einen Blockbuster mit Dolby-Dröhnsound, dann Abtanzen. Einer muß nüchtern bleiben, um die Gruppe nach Hause zu fahren. Hier werden Geburtstage gefeiert, Partys und findet Sozialisierung statt. Keiner muß das Cineplex, eine Box, verlassen. Oft werden heute die Cineplexe in Malls gebaut. Erinnere mich an die Gameshow "Supermarket Sweep", die wurde praktischerweise gleich in einem Supermarkt gedreht. Werbung und Programm gehen ineinander über. Wer von den Kandidaten die meisten Produkte in seinem Einkaufswagen packen konnte, hatte gewonnen. Inzwischen sind schon drei Generationen "Cineplex-sozialisiert". Die sind für Arthouse-Kinos verloren. Was heute Arthouse ist, war vor 10 Jahren noch kommerzielles Kino. In einem der Inserts in Overgames verwende ich das Wort "Mutti". Wo hast Du das her, fragt sie. Sie hat es zum ersten Mal gehört nach 1989, von Leuten aus der DDR. Das Wort gabs im Westen nicht, da hieß es "Mutter". Ost-West-Sprache: Im Osten hieß es "Führerschein". Im Westen "Fahrerlaubnis". Entspricht "drivers license" in Amerika.

27.04. Freiburg, Kommunales Kino:
Früh Fahrt nach Freiburg. Erfahre per Email daß das Kino vergessen hat rechtzeitig ein Zimmer zubestellen. Nun stellte sich raus das gerade eine Bürstenmesse in Freiburg ist. Das Zimmer hat keine Dusche, die ist auf dem Flur. Teil der Erziehung zur Bescheidenheit.
In DIE WELT auf Seite 1: "Deutsche Teenager verlieren Lust an der Rebellion....sie sehnen sich nach Geborgenheit und Halt, mehr Toleranz für eine multi-ethnische Gesellschaft - aber auch nach Entschleunigung". Der Artikel bezieht sich auf eine neue Sinus-Jugendstudie. Die stellt auch ein Unbehagen angesichts permanenter Verfügbarkeit fest. Keine Angaben wer Auftraggeber oder Produzent der Studie ist. Im Hotel dann die Überraschung: Ein schönes Zimmer mit Blick auf den Dom. Die Stimmung steigt.
Im Kino 45 Besucher. Vorführung ist technisch o.k., auch der Bildausschnitt stimmt. In der Mitte des Films verlassen drei ältere Herrschaften mit dem Habitus des Freiburger Alt-68er schimpfend die Vorführung. Die Passagen im Kapitel Quex, in dem die amerikanischen Wissenschaftler den deutschen Nationalcharakter analysieren und von einer deutschen Therapie für die Krisen der Moderne die Rede ist, scheinen sie in Rage versetzt zu haben. "Wann hört denn die Märchenstunde endlich auf", hatten sie vorher gut hörbar zum besten gegeben..
Klaus Theweleit trifft kurz danach ein, er kommt vom Volleyball. Dann das Gespräch. Zunächst lobt er meinen Film "Zeit der Götter". Der war großartig, geht inhaltlich und ästhetisch über Syberberg hinaus, ist ihm auch in der Haltung viel sympatischer. Leider findet er "Overgames" nicht gelungen. Sogar mißlungen! Vor allem der Schluß mit dem Kapitel zu ´68. Das war ja alles ganz anders. 
Nein, wir sind GEWORDEN! und nicht GEMACHT!
Und Leihidentitäten! Da muß er auch scharfen Protest anmelden Das war damals eine neue, echte Identität. Mit der Befreiung von Familie, Herkunft. Alles wurde anders, neu, und Verkrustungen wurden aufgebrochen. Wir haben uns teilweise sogar als Schwarze (Black Panther?) gefühlt, nicht als Deutsche. Das Publikum schaut verdutzt. Und die Musik war wichtig. Dann zählt er auf was diese 68er Generation geprägt hat. Und bestätigt so, ohne es anscheinend zu bemerken, mit seinem biografischem Material alle Punkte die im Film aus der Blaupause für die Re-Education zitiert wird.
Frage aus dem Publikum nach meinen Intensionen, warum habe ich den Film überhaupt gemacht? Die Fuchsberger-Story als Zündfunke, das Gefühl nach 1986 einen fremden Stamm zu besuchen. Eine Frau sagt: ich weiss, wovon Sie sprechen, ich bin aus Westdeutschland nach Ostdeutschland gegangen, und musste auch einiges lernen. Ja, aber sie gingen dahin als Sieger, ruft es aus dem Publikum, nicht als Mündel. Das ist etwas ganz Anderes. Einer aus dem Osten der nun in Freiburg lebt. Fahre fort: Sich wie ein Anthropologe fühlend, fremde Zeichen und Codes studierend, um sich in der Wildnis zurechtzufinden. Nach Mustern suchen. Was mir dabei auffiel waren bei bestimmten Themen neurotische Reaktionen. Das schienen Un-Themen: Deutsch, Idendität, Nationales, Wer bin ich. Man wollte anscheinend nicht gestört werden beim (durch Re-Education unterstützten) Fluchtversuch vor den auch nach 1945 fortwährenden Indentitätsproblem der Deutschen (in Ost wie West) in eine trans-nationale Postmoderne. Dazu als Hymne: "Ich will alles, ich will alles, und das sofort!" von Gitte. Einerseits total amerikanisiert, andererseits amerikakritisch. Unamerikanische Amerikaner. Das Erscheinen des (der) Ostler schien einen überwundenen Zustand wieder aufzurufen, das störte. 1989 als Beleidung und Zumutung.
In dem Umfeld, in das wir 1986 hineingerieten, war man sich einig im Hass auf diesen Staat, dessen Angebot für Spielwiesen und Freiräume für eine Flucht vor dem eigenen Anteil an der trans-genrationalen Aufarbeitung der Geschichte gern angenommen wurde. Zugegebenermaßen, es ist nicht einfach sich nun das "Gemacht statt geworden zu sein" im Film anzuhören.
Th. versucht es dann auch kleiner zu dimmen, indem er meine Einlassungen und den Film Ergebnis von Anpassungsproblemen eines Ostdeutschen deklariert. Aus dem Publikum kommt die Frage an Th.: Wie sehen Sie denn Ihre Biografie, als Ostpreuße, in Bezug auf die Meltingpot-Konzepte von Mead und Bateson? Th. erzählt wie er mit Familie nach Norddeutschland kam, nach Schleswig-Holstein, das Fremdsein dort. Erst auf dem Gymnasium wurde das besser, da waren die Flüchtlingskinder in der Überzahl und gaben den Ton an. Die Kinder der ortsansässigen Bauern besuchten die Schule nur bis zur mittlerer Reife. Mache dann einen Fehler. Um auch mal das Seriöse und Bedeutsame von Mead und Bateson zu betonen verweise ich auf die Rolle bei der Entwicklung von Kinder- Familie- und Paartherapie nach 1945 in Westeuropa hin. Ha, ruft Th., schon falsch, das wissen Sie anscheinend nicht, mit Kinderpsychiatrie hat der Bateson aber garnichts zu tun, da waren Frieda Fromm-Reichmann, Anna Freud wichtig. Hmm, er hat leider recht, ein Fehler im Eifer des Gefechts. Suche am nächsten Tag in meinen Unterlagen: "Den größten Beitrag zur theoretischen Basis der Kinderpsychiatrie lieferte die Psychoanalyse, basierend auf Sigmund Freud's Arbeiten." Natürlich Namen wie Adolf Meyer, Chicago, nahm auch an der Brickner-Konferenz in der Columbia Universität teil. "Child Guidance Movement», Arnold Gesell. Zitat aus "A history of clinical psychology" von John M. Reisman: "Angesichts der besorgniserregenden Veränderungen der aktuellen sozialen Umstände, insbesondere der Schwäche der Familie als einer Institution, gibt es zwingende Gründe, darunter auch die von uns beschriebenen, der Psychiatrie der Familie und ihrer Theorie und Praxis die Türen zu öffnen".
Was aber richtig und auch wichtig ist: Bateson und sein technokratisches Verständnis von Psychotherapie, seine Rolle im Westen für die Familientherapie nach 1945, die systemische Familientherapie. "Doubkle bind". 1960 erscheint bei Suhrkamp 'Schizophrenie und Familie' . Vieles läuft vor 1945 in der Entwicklung von Familientherapie und Gruppentherapie über die Orthopsychiatry-Bewegung, und da sind wir zumindest nah an Bateson und Mead. Gut, das hatte ich leider nicht parat.
Natürlich gibt es, wie bei den bisherigen Vorführungen, auch Komplimente: "Sehr anregend“, „ein gross angelegter Versuch einer Ideengeschichte vom 18. Jahrhundert bis heute“. Aber die kritischen Einwürfe und Fragen finde ich interessanter, was da rauskommt aus den Leuten. Erwartungsgemäß kommt auch der obligate Vorwurf, eine Verschwörungstheorie zu verbreiten. Aber wer sollen denn die Verschwörer gewesen sein? Zu welchem Plan haben die sich verschworen? Th. sagt, dieses Wort "Verschwörungstheorie" lassen wir mal raus, das streichen wir, das ist Quatsch und vergiftet nur die Debatte. Es gibt Leute die machen einen Plan und suchen für dessen Umsetzung Unterstützer und Geld. Punkt. Stimme zu. Wir beschließen dass das nun für Alle zu gelten hat. Die Deklaration von Freiburg. Muß an das Interview mit Heinz von Förster im Film "Das Netz" denken, wo er sagt:"Sagen wir, es ist eine Lücke in meiner Theorie, da kann ich nicht mehr drüber springen. Da sag ich als Physiker einfach: na, hier sind neue Teilchen, die entweder grün, gelb oder .....ich weiß nicht was sind...die ersetzen das Loch in meiner Theorie. So behaupte ich: jedes Teilchen, von dem wir heute in der Physik lesen, ist die Antwort auf eine Frage, die wir nicht beantworten können.“
Die Formulierung im Kapiel "Golem", dass am Ende der Revolution steht der Besitzbürger steht "(und nicht die Veränderung der Besitzverhältnisse) verursacht ihm und einigen im Saal auch Bauchschmerzen. Denn damit fällt die Französische Revolution als linkes Projekt oder besser, als dessen Vorspiel, weg. Natürlich gibt es zur Zeit der Franz. Revolution noch keinen Kapitalismus wie wir ihn heute kennen. Aber, die in die Individualität entlassenen Einzelnen werden wenig später (Schafherde!) eingefangen, als verfügbare Masse für eine moderne Industriegesellschaft, heute mit unbegrenzter Verfügbarkeit.

Es wird hitziger, Th. und ich reißen uns nun fast jeweils das Mikro aus der Hand um uns gegenseitig oder auf Fragen des Publikums zu erwidern.
Es gibt jetzt viele Wortmeldungen, fast entsteht ein richtiges Gespräch zwischen den im Kino verbliebenen (ca. 30) Personen. Nur erzählt jeder aus seiner Perspektive und trägt erstmal seine Wahrheit vor. Natürlich habe ich das mit dem Film auch so gemacht. Einige wünschen sich etwas was ihnen im Film fehlt: Die russischen Experimente und Versuche die Masse Mensch zu formen, zu modellieren. Warum nicht China? Oder Verweise auf die Vielfalt der amerikanischen Realität? Verweise darauf dass der Film nur die Suche nach Werkzeugen zeigt, mit denen der Laden zusammengehalten werden kann, damit er nicht auseinanderfliegt.
Einige versuchen das Gefühl zu beschreiben, das der Film hinterlassen hat: Der deprimiert zu sehr, zeigt keine Lösungsvorschläge, zeigt nicht was als Alternative im Angebot ist, zeigt keine Perspektive wie es ANDERS weitergehen könnte. Overgames habe etwas Totalitäres, Eindimensionales. Der Wunsch nach einem Happy End, einer klaren Botschaft am Filmende ist unüberhörbar. Wende ein, dass ja dafür ja gerade das Medium des Gesprächs gedacht ist. Sehe aber (auch bei mir) wie schwer das ist, sich öffentlich zu zeigen, öffentlich nachzudenken ohne vorgefertigte und gelernte (angelesene) Schablonen zu benutzen.
Verweise auf Begriffe wie "Diffusität" - "Zwielicht" - "Unschärfe", statt "Eindeutigkeit". Deren Nähe zu Propaganda. Insofern ist der Film menschlich. Einen stört daß zu viele Gameshows gezeigt werden, die lenken ihn ab vom Eigentlichen, der Ideengeschichte einer Permanenten Revolution. Ein bedenkenswerter Einwurf, ob nicht durch dieses wiederholte Aufgreifen von Fuchsbergers Geschichte und den damit verbundenen Zitieren von Ausschnitten aus Gameshows der Film an Attraktivität verliert. Denn die grossen Linien laufen Gefahr durch diese „Schleifen“ überdeckt zu werden. Dadurch verschwinden die größeren und wichtigeren Themen vielleicht zu schnell nachdem sie aufgetaucht sind, und bevor sie ihre Wirkmächtigkeit beim Zuschauer voll entfalten konnten. Denn nicht jeder hat einen ethnologischen und psychologisch geschulten Hintergrund und ist mit den im Film angesprochenen Aspekten vertraut. Damit wird die Tiefendimension des Films vielleicht zu sehr verdeckt weil der (falsche) Eindruck entsteht, es ginge hauptsächlich um die Beantwortung der Frage, ob Fuchsbergers Behauptung stimmt. Und das sei das zentrale Anliegen des Films. Stimmt, ich hätte in der Mitte des Films sagen müssen dass mich Fuchsberger aus bestimmten Gründen irgendwann nicht mehr die Bohne interessiert, und dass ich viel interessantere Fragen gefunden habe und versuchen werde diese zu beantworten. Hier ist dann doch der Druck des Fernsehens und diese ganzen Benimmregeln betreffend Verständlichkeit, Massenwirksamkeit und Erzählkonvention zu nennen - und wie auch ich diesen Druck anscheinend verinnerlicht habe. Ich erinnere mich noch gut an die Angst dass die Fernsehsender auf den im Vertrag fixierten 90 Minuten Länge bestehen. Die Erleichterung und wilde Freude als die Länge von 164 Minuten akzeptiert wird (aber für uns kostenneutral, lieber Herr Dammbeck). Wie mag es denen gehen, die noch existenzieller davon abhängig sind, für das Fernsehen arbeiten zu dürfen?
Auch die Frage nach dem Guten, was dieser Weltheilungsversuch "Permanente Revolution - amerikanisches Modell" doch AUCH hat, ist berechtigt. Sitzen wir nicht gemütlich mit einem Glas Rotwein in der Hand im Kino, den Film gibt es ja (such dank der staatlichen Filmförderung und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens), und diskutieren? Hat dieses System (nicht bestrafen, kein "Kopf ab!") nicht auch bunte, sympatische, komfortable Seiten? Sollen oder muessten die nicht auch oder umfangreicher im Film gezeigt werden? Einer fragt: Was sollte das mit den Freimaurern? Wieso ich überhaupt in die Freimaurer-Loge gegangen bin? Fällt mir im Moment nicht ein. Ja, gute Frage, wann und wieso kam es dazu?
Nach dem Ende der Veranstaltung noch in kleiner Runde im Foyer ein Glas Rotwein. Th. sagt daß ihm beim Anschauen der DVD zu Hause die Musik gestört hat, die war viel zu laut. Im Kino hat es ihn nicht gestört, da war es o.k. Ja, ein Dilemma. Fast alle Rezensenten schauen den Film auch nur auf DVD oder einem kleinen mp4 auf ihrem Laptop. Heißt: Die sehen und hören eigentlich garnicht den Film. Scheiben aber über "Film". Also Lutz, sagt Th. dann zum Abschluß, das Kapitel mit den 68ern mußt Du rausschneiden. Das geht so nicht. Und im "Quex" gibt es eine viel wichtigere Szene als Du gezeigt hast. Welche denn? Der Quex, der Heini, heißt ja mit Nachnamen Völker, Heini Völker. Und in der Szene, wo ihn der Vater zwingt die Internationale zu singen und ihn schlägt hört man im Hintergrund das Lied "Völker hört die Signale". Bin überrascht, werde ich aber mal nachprüfen. Ich glaube, Th. hat die Veranstaltung gefallen. Mir auch. Hat mich gefreut dass er gekommen ist.
Dann mit dem Veranstalter zu Fuß durch das nächtliche Freiburg. Sage, hier scheint doch alles in Ordnung zu sein. Er lacht. Das ist, neben Berlin, die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychoanalytikern und Psychologen. In der nahen Schweiz sind viele Ausbildungsinstitute. Heißt das, hier gibt es eine hohe Krankheitsdichte? Nein, nicht alle, die zum Psychologen gehen, sind krank. Für viele ist dieser Schritt immer noch verbunden mit der Hoffnung ein erfüllteres Leben führen zu können. Im Fernsehen läuft die Wiederholung des Spiels Bayern München-Athletico Madrid. Schaue bis 2:00, schlafe dann dabei ein.

Am nächsten Morgen noch auf einen Kaffée mit der Historikerin, mit der ich in der Vorbereitungszeit des Films einige sehr interessante Gespräche über die Französische Revolution (ihr Spezialgebiet) geführt hatte. Sie hat bei einigen Stellen im Film Probleme, Sie würde da gern das in sich Komplizierte, Widersprüchliche bestimmter Prozesse mehr ausgebreitet sehen. Also nicht nur formale Analogien von Symbolen, Ausdrucksformen oder Interessen, etwa gegeben bei einer Kontinuität von Erziehungsideen seit dem 18. bis ins 21.Jahrhundert, sondern, so verstehe ich es, dem Durch- und Gegeneinander bei der Durchführung mehr Raum geben. Zeigen das es in unterschiedlichen Kontexten stattfindet. Aber am Ende gibt es doch den Verweis auf den Wirrwarr in dem viele Konzepte untergehen, sich auflösen oder verändern? Reicht ihr nicht. Dann würde das aber einen Film ergeben, der zwei Tage läuft. Klar, das wärs. Nur, wer finanziert oder zeigt den dann? Und, wer will das anschauen? Weiterfahrt nach München.

28.04. München, Kino im Filmmuseum:
Der Film läuft in der Reihe "Die besten deutschen Filme 2015", ausgewählt von einer Jury aus Filmkritikern. Zunächst war der Leiter des Filmmuseums skeptisch, ob jemand zu "Overgames" ins Kino kommt. Er war zur Uraufführung beim Filmfest München im Arri-Kino gewesen und hatte die turbulenten Szenen und Angriffe auf den Film nach Ende der Vorführung miterlebt. Nun 65 Zuschauer im Kino. Mein Gesprächspartner Geog Seeßlen erscheint. In der Einführung nennt er "Overgames" einen Diskurs-Film. Einen Film als offenes System, wo man jemand beim Denken zuschauen kann. Einen Film dessen Suchbewegungen man gern folgt, aber wo die Ergebnisse dieser Suche auch Gegenwehr erzeugen. Frage ihn was er damit meint. Bei welchen Passagen erzeugt der Film, bei ihm? Gegenwehr? Das geht leider unter und wird an diesem Abend von ihm auch nicht beantwortet werden. Wieder mein Gefühl des Unwohlseins beim Gegenüber.

Aber es geht nicht um ein weiteres "68er Bashing", wie Theweleit in Freiburg vermutete. Aber 
dieses „GEMACHT“ zu sein statt „GEWORDEN“ zu sein wird als narzistische Kränkung empfunden. "Labormaus" ist schon hart. Was übersehen wird: Das Absetzen von den NS-Vätern, die Anklage von derem verstockten Verschweigen des Geschehenen ist noch kein Persilschein und Freispruch von transgenerational existierenden Schuldanteilen, der unbewußten Identifikation mit NS und familiären Verstrickungen. Viele waren noch auf NS-Eliteschulen gegangen, der NS hatte den Alltag und das Denken der Meisten bestimmt.
Dass der Sprung "auf die andere Seite", zu den Guten, gescriptet, ein Sprung nach Drehbuch war, ist sicher nicht leicht zu ertragen. Also, was als frei gewählt und als eine aus sich selbst heraus vollzogene Neuwerdung verinnerlicht wurde, wird im Film als das Ergebnis eines Erziehungsplans dargestellt. Die in den Medien ventilierten Bausteine dieser Erzählung vom Anderswerden: Kiffen, lange Haare, Schah-Besuch, Ho Ho Ho Chi Minh, Beat Club, später dann Spex und Geniale Dilletanten. 1968: ein Hoax? Was paradox erscheint: diese 68er kämpfen gegen die Amerikaner, die ihnen das ermöglichen was die 68er dann als ihre "Neuwerdung", besser "Selbst-Neuwerdung" bezeichnen und den Ruhm dafür einkassieren, der zu Ansprüchen berechtigt. Belohnt zu werden.
Amerika wird zwar als der neue Faschismus bezeichnet, aber die Segnungen der amerikanischen Kultuindustrie werden begeistert aufgesogen und verinnerlicht. Denn auch im Underground und in der Counterculture heisst es wie im Mainstream: Sie spielen unser Lied. Nur eben anders instrumentalisiert.
Was diesen Generationen erspart bleibt, ist die Anstregung transgenerational übernommene Schuldanteile anzunehmen, und aufzuarbeiten. Man entzieht sich dieser unangenehmen Situation. Sie sind nun bei den Guten. Man entgeht dem Tribunal, indem man es wird. (Odo Marquard).
Das führt zum satten Gefühl von Siegern, die dann in den 70ern und 80ern im dunklen, grauen Osten Lehrstunden geben: Schaut doch mal wie wir das machen, seid doch mal mutiger. Macht mal ein sit in, getraut euch mal was. Schaut, wir machen Revolution und krempeln alles um. Getragen vom Gefühl: der Faschismus kommt zurück. Woher kam diese Parole? Wer hat die verbreitet? 
Was ist, wenn der Faschismus garnicht wiederkommen konnte?

Nach dem Film wieder Gespräch. Einer vermißt die positiven Seiten der Re-Education, die Demokratisierung der Deutschen. Erinnert an die Rohstock-Pädagogik der 50er und 60er Jahre, die alten Faschisten in den Ämtern, Schulen und Behörden.
Seeßlen spricht über Hybridfilme, Mischung von Film und Kunst. Erkläre das zu postmodernem Unfug. Das Kino oder besser der Film wird im Museum und der Galerie sterben. Aber in Schönheit wirft Seeßlen ein. Als seltsamer Hybrid im Kunstmarkt. Den Museen und Galerien gehen die technischen Ansüprüche das vorzuführen schon jetzt auf die Nerven, auch der Aufwand das technisch verfügbar zu halten und die Schwierigkeit es zu verkaufen. Dann über das Verwischen der Grenzen am Beispiel der Shows im TV: Studiogäste spielen Studiogäste. Die müssen nicht mehr gebrieft und unterwiesen werden, die wissen was von ihnen erwartet wird und bieten das selbst an. Aufheben der Trennung von Bühne und Saal, von Moderator und Saalpublikum, dem "Schwenkfutter", das nun aber selbst aktiv werden und Rollen übernehmen darf. Schrecklich, seufzt es im Kino. Dann wieder über das Medium des Gesprächs, das den Film ergänzt, ergänzen muß. Das es doch darum geht - unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung des im Film skizzierten Gesellschaftsentwurfs - darüber zu sprechen wie es weitergeht. Weiß nicht mehr wie ich es formulierte, aber es gibt plötzlich Szenenapplaus. Ohne "Warm-up Session". Eine Frau sagt: Der Film ist doch ein einziges wirres Amalgam nicht zusammengehörender Einzelteile. Sie meint es kritisch. Seeßlen erklärt den Begriff des Amalgamisieren, die Vereinigung verschiedenartiger (auch sozialer) Teile zu einem neuen Ganzen, eine Verschmelzung zu etwas Neuem. Goldgewinnung. Alchemie. Als die Erregungskurve der Veranstaltung bischen flacher wird, gebe ich die in Würzburg ergebnislos erörterte Frage nach dem Ursprung des Wort "Mutti" in den Saal. Seeßlen sagt er kann das erklären: "Mutti" ist protestantisch, eher kühl und hart (Mutti Merkel), und "Mutter" oder "Mamma" ist katholisch. Eher weich, mütterlich. Nun kommt nochmal Bewegung auf. Einige melden sich zu Wort und erzählen wie es bei ihnen in der Familie zuging, Mutti, Vati oder Mutter, Vater. Einer verweist auf den Wortstamm "mamma", Brust, säugen. Anschließend lustiger Ausklang im Bistro des Filmmuseums, viel gelacht. Gute Stimmung, schöner Abend.

Am nächsten Tag vor der Fahrt nach Seefeld an den Starnberger See: Meine Tochter Sophie war gestern auch im Kino und kritisiert mich weil ich einen der Frager bischen arrogant abgebürstet hätte. Ich erinnere mich. Der Mann hatte eine lange Suada gehalten über die positiven Seiten der Re-Education, und dann sehr massiv den Film kritisiert. Er könne sich überhaupt nicht der Einschätzung anschließen, der Film sei ein offenes und diskursives System. Für ihn war der Film ein einziger Wirrwarr, mutwillig zusammengewürfeltes Material. Bitteschön, was hat das Stanford Prison Experiment mit Ausschwitz oder Abu Ghraib zu tun? Ich hatte ihn bischen kurz abgefertigt und auf das Buch von Zimbardo verwiesen wo der über diese Zusammenhänge schreibt, und das mir den Anlaß gab ihn danach zu fragen. So kamen diese Namen und Zitate in den Film. Lesen Sie erstmal das Buch, hatte ich gesagt, und wenn es dann noch Einwände gibt bin ich gern bereit mit Ihnen weiter zu diskutieren. Das war arrogant, sagt meine Tochter, ich fand die Frage interessant.Stimmt, sie hat recht. Und der Frager auch. Aber ich war genervt. Vielleicht wäre es auch gut gewesen, das Buch in der Anmoderation von Zimbardo zu erwähnen? Dann wäre im Interview klar geworden, wo er das her hat und warum das dann so massiv im Film auftaucht. Muß ruhiger werden, ich rege mich zu schnell auf und falle den Fragenden oder nur was loswerden Wollenden zu schnell ins Wort. Ausreden lassen
Sophie hatte mich bei den Recherchereisen nach Frankreich begleitet, auch wegen ihrer guten Kenntnisse der französischen Sprache. Frage sie ob sie sich erinnern kann, wann und warum wir in Paris in die Freimaurerloge gegangen sind. Denn danach wurde ich in Freiburg gefragt, und mir war das nicht eingefallen. Nun kommen wir beide drauf: Ich war auf der Suche nach Bildmaterial, vor allen den Entwurfszeichnungen für die künstlichen Berge die für das Fest des Höchsten Wesens gebaut nach Gießen geraten, wo eine Gruppe von Wissenschaftlern um Prof. Reichardt ein Bildlexikon der europäischen Revolutionen erarbeitete, speziell zur Französischen Revolution. Ich hatte gehofft dort Skizzen oder Konstruktionszeichnungen für diese Berge zu finden, aber die Bildwissenschaftler dort konnten mir nicht weiterhelfen. Und hatten mich nach Paris verwiesen. Der Chefdesigner für das Fest des Höchsten Wesens war der Maler David, und der war Freimaurer. Gehen Sie doch mal zu Prof. Philippe Bordes, DEM Spezialisten für David, oder am besten gleich in die Loge, die haben eine tolle Bibliothek und Kunstsammlung. Vielleicht finden sie da etwas. Und so war es gekommen. Und der Direktor der Bibliothek hatte dann nach einem interessanten Diskurs über Deismus und den Kult des Höchsten Wesens (mit einem Verweis auf ein Buch von Zola wo ein Gespräch zwischen einem Revolutionär und einem Priester über das HW vorkommt) mich an die junge Historikerin verwiesen, die nun in Freiburg an der Universität lehrt.

29.04. Seefeld, Kino Breitwand:
Fahre mit der S-Bahn, ab Pasing leert sich der Wagen. Herrliches Wetter, die S-Bahn fährt durch eine schöne Landschaft. Das Kino ist in einem ehemaligen Schloß, über eine Brücke gelangt man in den Schloßhof. Künstlerwerkstätten, Ateliers, Lesungen, ein Restaurant. Das Kino hat zwei Säle, "Overgames" läuft im Kleineren. Es stehen breite Ledersessel und Couches vor einer im Verhältnis zur Raumgröße sehr großen Leinwand. Ein Riesenbild. Kein Fernsehen mit Riesenscreen, sondern Kino. 15 Zuschauer, gutbürgerlich, aus dem Einzugsbereich des Starnberger Sees. Freundlicherweise läßt der Filmvorführer die Werbung ausfallen.
Dann im Anschluß kommt das Gespräch schnell auf die Führung und Manipulation von Massen, auf eine moderne Massengesellschaft. Auf die Rolle von Medien, die zunehmende Skepsis über den Gehalt von Nachrichten und die Absichten die möglicherweise dahinter stecken. Den Zustand der Demokratie. Eine sagt das System ist gut, nur die echten Demokraten fehlen, die Masse wird nur verwaltet. Verwunderung als ich sage dass der Film für mich auch sehr viel komische und lustige Momente hat. Ich musste beim Schnitt oft lachen. Eher tragikomisch, sagt eine Frau. Darauf können sich alle einige,
Erzähle dass ich mittlerweile Zeitungen und TV-Nachrichten darauf filtere, was gemeint sein könnte und mit welcher Absicht das gerade plaziert wird. Als etwas Uneigentliches. Das es schwer und mühsam ist rauszufinden warum das jetzt - und gerade jetzt - in den Medien erscheint. Die Rolle des Zufalls dabei einbeziehend. Ein Paar, Mann und Frau mittleren Alters, sagt unisono und verwundert: Das ist ja Wahnsinn. Der Mann fragt: Hat das vielleicht etwas mit ihrer Herkunft aus dem Osten zu tun? Sicher, die hat mir erlaubt ein gesundes Mißtrauen und Skepsis gegenüber Verlautbarungen aller Art zu trainieren. 38 Jahre Diktaturerfahrung. Zwischen den Zeilen lesen. Den doppelten Boden suchen und erkennen.
Ich hätte allerdings 1986 nicht geglaubt, dass ich diese Techniken noch mal anwenden werde. Der Mann ist jetzt ein offenes System, und man sieht, auch körperlich, wie in ihm eine Erkenntnis aufsteigt und sich ausbreitet. Die Dinge so zu sehen ist neu für mich, sagt er langsam und zögernd, vielen Dank, so habe ich das noch nicht gesehen. Die Frau nickt. Faszinierend, so müssen sich Wissenschaftler fühlen die zusehen wie vor ihren Augen sich etwas verändert, etwas wächst.
Im Publikum ein Fotograf mit seiner Frau, den ich aus Berlin kenne. Er hat viele meiner Installationen fotografiert. Jetzt ist er als Consulter tätig und lebt mit Familie im Münchner Umland. Seine letztes Foto hat er im Berliner Martin Gropius Bau von meiner Installation mit dem Nachbau der cabin von Ted Kaczynski gemacht, das war 2003. Richtung München ist der Nahverkehr eingestellt, es fahren ab Pasing nur noch Ersatzbusse. Da ist jetzt Chaos, sagt der Kinoleiter. Der ehemalige Fotograf fährt mich mit seinem truckähnlichen Wagen nach Pasing, vor dort weiter mit dem Taxi ins Hotel, es ist 1:00 Uhr.

30.04. Karlsruhe, Kino Schauburg
Am Nachmittag findet eine Vorführung von "Das Netz" im Rahmen der ZKM-Ausstellung "Global Control and Censorship" in einem Kino der Karlsruher Innenstadt stattfinden.
Es soll die 35mm Kopie gespielt werden. Obwohl das Format das vorgeführt werden soll (1:1,66) auf Kopie und Versandkarton steht, gibt es Diskussionen. Das ist falsch, wir müssen 1:1,87 vorführen, sagen die Vorführer. Nein, sage ich. Für einen Test ist keine Zeit eingeplant. 
Natürlich ist 1:1,87 falsch, die Köpfe werden oben abgeschnitten, unten sitzen die Untertitel auf der Kante vom Kasch. Ich rase zur Vorführkabine, es geht eine steile Leiter hoch, der junge Vorführer wird nun nervös und hantiert aufgeregt mit mehreren Objektiven. Fragend hält er mir zwei entgegen, welches ist nun das Richtige? Ein Kollege kommt dazu. Sie wechseln das Objektiv. Nach ca. 8 Minuten ist es erträglich. Das Kino ist eines der wenigen das überhaupt noch Film technisch vorführen kann, aber die Erfahrungen älterer Vorführer fehlen. Die Filmkopie: verblasene Farben, weggebrannte Stellen. Nun ist das Auge doch die Brillianz und Farbgebung der digitalen Kopien gewöhnt, auch beim Ton. Deshalb wird, wo möglich, mehr und mehr Digibeta oder DVD zum Einsatz kommen, wenn es noch keine DCP gibt.
Es ist vorbei. Das Staatliche Filmarchiv wird "Das Netz" und "Das Meisterspiel" im Juni spielen. Schlage denen nun vor statt der 35mm-Kopie eine Digibeta vorzuführen. Keine Lust mehr auf Eiertänze dieser Art.

Dann mit dem Kurator zum ZKM, dort läuft 19:00 "Overgames". Sitze noch mit ihm in der riesigen Halle des ZKM. Das Café schließt im 18:00. Langsam leert sich die Halle. Bischen unheimlich. Im Veranstaltungsraum 48 Besucher. Harte Stühle, Projektion mit einer Blue Ray.
Peter Weibel beginnt das Filmgespräch mit dem Verweis auf ´68, er hatte sich während der Vorführung Notizen gemacht, und bringt nun Beispiele für den Einfluß der Amerikaner auf die Entwicklung der Nachkriegskunst.
Wie reife Früchte fallen nun die Beispiele für den Einfluß der Amerikaner vom Baum der Erkenntnis: Berlinale, Bildende Kunst, New American Cinema, Alpach in Österreich, Portopak für Paik, die Zeitschriften, die Verlagslizenzen, der Umbau der Schule und der Universitäten, die Radiostationen, die Frequenzverteilung für Radio und Fernsehen bis hin zu den Zentralservern und Rootern des Silicon Valley. Es hört garnicht wieder auf. Ein großer Berg von Beispielen liegt nun im Raum, der ungläubig betrachtet wird. Aber was heißt das nun? Gut, es wird Einfluß auf uns ausgeübt. Aber was ist die Alternative?
Einer wirft ein, daß die Nazis normale Menschen zu Paranoikern machten, und die Amerikaner dann Paranoiker zu normalen Menschen. Widerspruch aus dem Publikum. Wieso waren die Deutschen Paranoiker? Eine Nation oder eine Kultur kann nicht paranoisch sein. Das geht nur im Cartoon. Oder als Geschäftsidee, um etwas zu verkaufen. In der amerikanischen Wissenschaft geht es zu wie in der Marktwirtschaft, wirft ein anderer ein, das ist wie in der Wirtschaft. Spreche über Freuds (falsche) Definition von Paranoia, die durch seine Jünger in die USA gelangte. Kann mit Hilfe eines Hoax oder einer, wissenschaftlich gesehen, falschen Theorie am Ende etwas bewirkt werden? Denn einen Mentalitätswechsel hat es ja in Deutschland (und gar erst in Japan, wo noch umfangreicher "re-educated wurde!) gegeben. Ein anderer verweist auf einen russischen Film der dem "Hitlerjungen Quex" ähnelt. Auch hier ein junger Revolutionär, der geopfert wird, oder besser: sich selbst opfert. Der russische Film ist "Die Beschin Wiese" von 1937 (Originaltitel »Beschin lug«), von Serge Eisenstein. Weil der »Junge Pionier« Stjopka einen geplanten Sabotageakt seines Vaters verrät, wird er von ihm erschossen. Eisenstein erzählt diese Geschichte nach Motiven von Iwan Turgenew »Aufzeichnungen eines Jägers«, vor allem aber mit Assoziationen an das zeitlose Sujet von Abrahams Sohnesopfer, wofür Partei und Filmbürokratie ihn heftig kritisierten: Der Film wurde verboten und vermutlich vernichtet. 
Bringe nun das Beispiel von "Tomorrow The World" von 1944. Der "Hitlerjunge" Emil aus Deutschland besucht während des Zweiten Weltkriegs seinen Onkel in den USA. Emils Vater ist im KZ umgekommen. Der als autoritär dressiertes Monster charakterisierte Junge wird nun im amerikanischen Familienlabor zu Demokraten umgebaut, und in die amerikanische Familie aufgenommen. Aber nicht mit Druck und Zwang, sondern mit Freundlichkeit und guter Pflege.
Vier Stunden sind wieder rum. Das ZKM ist bis auf das Grüppchen der ca. 20 verbliebenen Diskutanten leer, ein riesiger leerer Kasten. Weibel umarmt mich, es geht ihm gesundheitlich nicht so gut, aber er ist gekommen und freut sich über den Film. Es geht um trojanische Pferde, sagt er. Dann Diskussion wo in Karlsruhe noch etwas offen ist. Ausgewählt wird die Bar in meinem Hotel. Noch Diskussion an der Bar mit einigen Leuten von Uni und Kunsthochschule. Plötzlich flammt Streit auf, immer wieder ist das "Geworden statt gemacht zu sein" Auslöser, auch die "Leihidentitäten". Biografische Details werden hervorgekramt, Beweise für und gegen die Aussagen des Films. Der Kurator der Ausstellung über digitale Überwachungssysteme hat mit Edward Snowden geskypt. Alles läuft über einen Anwalt in New York. Frage ihn ob er sich sicher ist ob das wirklich Snowden war, ob er weiß wo der sich befindet? Hmm, sagt er, da habe ich noch nicht drüber nachgedacht, das Auftauchen dieser Figur sei allerdings seltsam, immer in Verbindung mit der Filmemacherin Poitras. Er hatte mal einen Aussteiger aus der NSA im Museum, der tourt schon seit zehn Jahren mit solchen Enthüllungsgeschichten durch Europa. Um den gab es aber keinen Hype. Nach meinem Film würde er nun allerdings drüber nachdenken, inwieweit das alles Inszenierungen sind. Denn, was erfahren wir denn eigentlich? Und wer steuert diese "Aufklärung", diesen Informations- und Datenfluß der den Weg in bestimmte Medien findet? Ich bin erschöpft. Mit dem ältesten Fahrstuhl Karlsruhes, ein Artefakt regionaler Industriegeschichte, auf meine Etage. Am nächsten Morgen mit dem Zug sieben Stunden nach Hamburg.

01.- 02.05. Hamburg, Ruhetage
Fred Gehler hat einen Brief mit dem erbetenen Kertesz-Text geschickt: "Die Erinnerungen sind wie verwahrloste herrenlose Hunde, sie umringen und starren einen an, sie hecheln und heulen zum Mond. Du möchtest sie verscheuchen, aber sie weichen nicht, gierig lecken sie deine Hand und hast du sie im Rücken, beißen sie zu..." (aus: Imre Kertesz, "Ich-ein anderer", 1997, Rowohlt-Taschenbuch Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg, Oktober 1999).
Mal einen Tag ohne Film & Gespräch, Wäschewechsel. Im Fernsehen läuft ein Film über die Umerziehung in China unter der Herrschaft von Mao. In Abständen werden immer neue und schrecklichere Programme entwickelt und Versuche, diese umzusetzen. Mit Schlägen, Folter, Töten mit Stöcken und Steinen, Schauprozessen und physisch-psychischer Vernichtung aller Art. Das Inszenieren und erfinden von Sündenböcken, und deren öffentliche Opferung. Um die Materie Mensch in die richtige Richtung zu zwingen, so zu formen dass sie zur Konstruktionszeichnung passt. Der Kommentar spricht von 43 Millionen Opfern. Dagegen wirken die auf Therapie angelegten Re-Education-Programme der Amerikaner menschenfreundlich.
Aber was konnte die 68 an Erziehungsdiktaturen wie den von Stalin, Pol Pot und Mao interessiert haben? Ein unbewußtes Ausleben der tief verinnerlichten autoritären Erziehungsmodelle von NS und Eltern? Trotz der soften und auf "long-range" bauenden behutsamen Umformungsversuche der Amerikaner begeisterte man sich für solche schrecklichen Erziehungsversuche? Oder nahm beides an? Die Rolle des Sündenbock. Braucht das amerikanische Modell einen Sündenbock? Reicht "das größte Glück der größten Zahl" damit die Menschen Halt finden können, um sich nicht allein und schutzlos zu fühlen? Für eine existenziell notwendige Vergewisserung des Selbst? Etwas das Halt gibt wenn es ans Sterben geht, an letzte Dinge, wenn der Mensch endlich begreift dass er allein ist, geworfen auf sich?

Am 03.Mai früh nach Berlin zum RBB, das Radiofeature muß noch um eine Minute gekürzt werden, da es sich während wir schon im Studio sind rausstellt, daß der Sendeplatz beim DLF kürzer ist wie der von RBB und MDR. Die Kürzungen funktionieren, einiges wird sogar besser. Gute Laune.
Dann wieder zurück über Hamburg nach Kiel. Bei Emailcheck in der DB-Lounge eine schlechte Nachricht: katastrophale Zuschauerzahlen im Münchner Werkstattkino, an zwei Tagen nur insgesamt 16 Besucher. Nun will das Maxim Kino zwei Wochen nachspielen. Ich glaube, es funktioniert nur mit anschließendem Gespräch. Nur den Film zeigen ist (leider) zu wenig.
Dann im Zug die Nachricht über den Bordfunk: die Abfahrt verzögert sich um unbestimmte Zeit. Es ist noch kein Lokführer da. Der sitzt in einer U-Bahn fest, die wegen einer Streckensperrung festsitzt. Rätselhafter Kosmos der Bahn.

03.05. Kiel, Kommunales Kino in der Pumpe
Im Kino einige Studenten der Muthesius Kunsthochschule, zwei Professoren, paar Künstler und
"normale" Besucher, zähle 38. Technisch gute Vorführung, aber im Anschluß kaum Fragen. Also erzähle zunächst ich. Einer der Professoren der Kunsthochschule, gebürtiger Amerikaner, erzählt dann als das Gespräch langsam anläuft wie er in New York an der der Columbia Universität für ein paar Semester Anthropologie studiert hat. Mead war da eine Ikone, unantastbar. Nun ist er überrascht über deren politische Aktivitäten. Sein Professor war Spezialist für Turkvölker und Usbekistan. Es war kein Geheimnis dass er für die CIA arbeitete, und Expertisen lieferte. Andere Professoren machten das auch. Ebenso am MIT, wo dann weiterstudierte. Mir fällt der Brief ein den ein amerikanischer Künstler an György Kepes schrieb (der in Boston das Center for Advanced Visual Studies am M.I.T. und das New Bauhaus mitbegründet hatte) um seinen Ausstieg aus einem Ausstellungsprojekt anläßlich der Weltausstellung zu begründen (zu finden auf meiner Webseite zum Film "Das Netz" www.t-h-e-n-e-t.com "Art & Technology" - "Dear Mr.Kepes" - Brief des amerikanischen Künstlers Robert Smithson an Gyorgy Kepes, in dem Smithson sein Teilnahme an der X Sao Paulo Bienale 1969 absagt). Kepes war der Leiter des amerikanischen Biennale-Projekts. Smithson schrieb:"....The "team spirit" of the exhibition could be seen as endorsement of NASA's Mission Operations Control Room with all its crew-cut teamwork. Some (-) see the "advances" of technology as a military byproduct"). Dann mit den beiden Professoren noch zum Türken, dem letzten offenen Restaurant in Kiel.

04.05. Kiel, Seminar in der Muthesius Kunsthochschule
Schönes Wetter, Sonne, aber frisch. Auf dem Weg zum Kino sehe ich eine Radfahrerin die frohgemut in Shorts und kurzämligen T-Shirt dahinradelt. Habe noch etwas Zeit bis zum Beginn der Veranstaltungen mit den Studenten. Auf dem Weg zum Hafen durch einen Park. Ein Denkmal für Klaus Groth, grauer Stein, ein Relief, Ein Brunnen.
Die Inschriften: ACH, FREUE DICH AN DER SCHÖNEN WELT 
UND SEI NICHT ZU VERNÜNFTIG. LASS SIE MAN LAUFEN WIE SIE LÄUFT RUND BLEIBT SIE AUCH ZUKÜNFTIG. UND 
MEINE MUTTERSPRACHE SO SCHLICHT UND RECHT 
DU ALTE FROMME REDE
 WENN NUR EIN MUND "MEIN VATER" SAGT
 SO KLINGT´S MIR WIE EIN GEBET!
Abends wird in der Kunsthochschule "Zeit der Götter" gezeigt, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe "Perspektive Film". Miserable Tonwiedergabe, an- und abschwellender Ton, der Archivton knallt raus, Kommentar meist zu leise. So habe ich das noch nie gehört. Mache mir Notizen, das muss ich nochmal überprüfen. Im Anschluß sitzen die Studenten stumm im Raum. Keine Fragen. Während der Vorführung wischten einige Studenten über ihre Smartphones. Als der veranstaltende Professor nachbohrt und nach dem Verhältnis von Kunst und Macht fragt sagt eine Studentin, dass es für sie normal ist, dass Kunst politisch sein muss und sie auf Kontexte achte.
Hmm. Was mir auffiel: der Film läuft gut bis knapp über die Mitte (Wriezen), und fällt dann bischen auseinander. Die Chronologie, der er zunächst locker zu folgen scheint, zerbröselt. Ist unklar, warum. Ich hätte (im Kommentar des Films) dazu was sagen können (müssen).
Auch gestern im Kino bei "Overgames" waren mir wieder Schnittfehler aufgefallen. Ein Paradox.
An mehreren Stellen sind es 1-2 Felder wo der Schnitt zu früh oder zu spät kommt. Denke wehmütig an die Zeit beim Animationsfilm, wo die Cutterinnen den Blick und das Timing für solche Feinheiten hatten, um genau raus- oder reinzugehen. Aber damals ging man auch mit der Schnittfassung in die Vorführung um sich die auf großer Leinwand anzuschauen. Da sah man das, was am Screen des Schnittcomputers schlecht oder garnicht zu sehen ist. Oder verführt der digitale Schnitt zur Ungenauigkeit?
Wie ich sitze und ratlos in den 24 Jahre alten Film starre fällt mir wieder eine Stelle in "Overgames" ein, die auch hätte besser gelöst werden können. Wieder der Druck der selbstverinnerlichten (Fernseh-) Konvention. Warum lasse ich zu Beginn des letzten Kapitels (Sanatorium) den Sprecher nochmal sagen:"...wo sich meine drei Geschichten nun in einer einzigen aufzulösen scheinen", und stoße den Zuschauer ohne Not nochmal auf die drei Geschichten vom Anfang? Es hätte doch vollkommen gereicht zu sagen: "Es beginnt in einem Labor, und endet in einem Laboratorium". Pause."Hier scheinen sich Margaret Meads Träume von...." usw. Wäre so am Ende offener geblieben. Auch bei Zimbardo hätte ich eher rausgehen können, ohne nochmal nach Fuchsberger zu fragen. So bliebe es offener, härter in seiner Aussage über die "Black Box" in der wir gehalten und gefüttert werden.

05.05. Schwerin, Kino unterm Dach
Herrlicher Sonnenschein, Zugfahrt im Regionalexpress durch Schleswig-Holstein. Im Abteil eine Farmerin aus Südafrika, zu Besuch in der alten Heimat. Wein und Gemüse. Der Stand des Mondes ist wichtig, sonst wächst nichts. Le-mi-mo? Ja, sie hat vorher in Deutschland Demeter-Anbau betrieben. Erzählt von "ihren Schwarzen" und deren anderem Zeitbegriff. Anscheinend spricht sie mit denen wie mit Kindern. 200 Angestellte, die leben in Townships. Ihr gehts gut. Der Sohn verkauft den auf den Weinbergen der Farm angebauten Chardonnay und Sauvignon Blanc in alle Welt.
Es ist Vatertag. In Schwerin ist alles ist auf den Beinen, die Seen in und um die Stadt sind mit Segelbooten übersät, auf den Straßen und Gassen zum See Männergruppen mit Bollerwagen, lauter Musik und Bier. Die Stadt ist voller Touristen und Ausflügler. Seit Dienstag läuft das Schweriner Filmkunstfest. "Overgames" wird zweimal gespielt, heute abend im kleinen Kino unterm Dach, in der Volkshochschule. Die Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern hatte Geld für die Herstellung gegeben, eine kleine Summe, und mich nach der Uraufführung in München gemahnt, dass vertragsgemäß auch eine Premiere in Mecklenburg-Vorpommern stattfinden müsse. Ich hatte daraufhin den Film an das Festival geschickt. Der Direktor hatte lange rumgedruckst und gezögert ob der den Film ins Programm nehmen soll und will, und den Film dann an das kleine Kino weit vom Festivalkino entfernt abgeschoben. Dann folgten langwierige Verhandlungen, weil der Filmclub, getragen von einem Verein aus ehrenamtlichen Mitgliedern, arm wie eine Kirchenmaus ist und nichts bezahlen wollte-konnte. Nachdem das geklärt war meldete sich der Festivalleiter und bot am Freitagvormittag eine zusätzliche Vorführung im Festivalkino an. Er hatte den Artikel in edp-Film gelesen.
Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn laufe ich schon mal in Richtung Volkshochschule, um mir den Ort und die Umgebung anzuschauen und einen Technikcheck zu machen. Habe Pech, vor der Volkshochschule klebt gerade ein Vereinsmitglied Plakate auf das Pflaster, die Besuchern den Weg weisen sollen, und erkennt mich, der ich auf der anderen Straßenseite entlangspaziere.
Ich erfahre, dass es statt 19:00 Uhr nun 19:30 Uhr beginnt. Steige mit ihr die drei hohen Treppen bis zum Veranstaltungsort unterm Dach hinauf. Erfahre dabei auch, dass gleich jemand kommen wird der mich betreut und einen Stadtrundgang anbieten wird. Im Saal werden Stühle gestellt, ein Techniker (der örtliche Antiquar) werkelt an Kabeln, es liegt eine Schmalzstulle bereit, man möchte sich auch gern unterhalten. Der Saal ist nicht komplett zu verdunkeln, die provisorische Leinwand bewegt sich leicht im Luftzug der durch die geöffneten Fenster strömt. Wenn die dann geschlossen sind, wird es nach drei Stunden warm werden. Mein Betreuer erscheint und möchte mir die Stadt zeigen. Er hat sich vorbereitet sagt er, drei Seiten Fragen. Ich wehre ab, ich kann nicht mehr, ich möchte allein sein um etwas zu schreiben. Gut sagt er, ich zeige ihnen die besten Plätze dafür. Nachdem wir zweimal vor schon geschlossenen (18:00 Uhr) Cafés stehen sage ich, ich gehe mal noch ein Stück allein. Befürchte ein Desaster. Wer soll bei diesem Wetter in dieses Kino kommen? Ja, sagt er, das wird schwierig. Schwerin ist die Stadt der Segler. Auch läuft eine große Podiumsdiskussion über das polnische Kino, wo eigentlich alle "Offiziellen" hingehen, auch der Vorstand der Kommunalen Kinos in MV. Hmm, das war ja nun eigentlich einer der Gründe weshalb ich den Termin überhaupt zugesagt hatte. Dieser Verband betreut 70 Abspielstätten und Leinwände, und kauft dafür die Lizenz des Films. Wir waren im Gespräch, und sie sollten sich den Film mal "life" anschauen.
Setze mich eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn vor eine Konditorei, mit Blick auf den Eingang der Volkshochschule. Plötzlich springen und tanzen eine junge Frau in langem Rock und ein Junge tanzend aus einer Seitenstraße um die Ecke und verschwinden im Eingang zum Kino. Ein Bild wie aus einem Kinderbuch des 19.Jahrhunderts. Ein schönes Bild.
Im Kino unterm Dach haben sich 13 Zuschauer eingefunden, darunter drei alte Bekannte, ein Schauspieler den ich noch aus Leipzig kenne mit seiner Frau, und ein Maler. Der jüngste Zuschauer ist 12, es ist der Junge den ich mit seiner Mutter gerade auf der Straße beobachtet hatte. Beide gehören zum Antiquar. Das arme Kind, raunt einer im Publikum. Von der Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern ist niemand erschienen (zur Hamburg-Premiere vor Tagen kam auch niemand von der Hamburger Filmförderung).
Der Antiquar eröffnet die Veranstaltung, und sagt, in der Mitte des Films machen wir eine Pause, weil der Film so lang ist. Nein, rufe ich, auf keinen Fall, der Film muß in einem Rutsch geschaut werden. Ich habe hier wohl garnichts mehr zu sagen, murmelt der Antiquar. Er ist nun bis Ende der Verandtaltung bischen beleidigt.
Es ist leider draußen noch nicht dunkel, so markieren sich helle Sonnenflecken auf der Leinwand, vor allem bei Passagen mit schwarzen Flächen. Der Beamer ist zu rotstichig eingestellt, ein Check voher war nicht möglich. Der Ton ist zu laut, als ich bitte ihn etwas leiser zu drehen dreht der Antuquar so abrupt am Knopf, dass sich die Laustärke halbiert. Ups, nun wieder mehr - und es ist wieder wie vorher. O.k. gut so. Ich sitze oben auf der Empore, wo der Beamer und das Mischpult steht, starre auf die geschnitzten Deckenbalken der Raumverkleidung im altfränkischen Stil. Hatte vorher einen Aperol Spritz getrunken, der meinen Kopfschhmerz nun verstärkt. Was mache ich hier? Muss ich mir das antun? Das macht doch alles keinen Sinn. Stehe den Film durch, bemerke zu ersten Mal dass einige Passagen mit Archivfilm die kein volles Format haben, es gibt einen mal mehr mal weniger breiten schwarzen Streifen links und rechts am Bildrand. Wie das? Überprüfen.
 Dann ist es zu Ende. Bin wie gerädert. Steige hinunter in den Saal, wo noch 7 Zuschauer sitzen. Auch der 12jährige Junge. Was, du bist noch da? Hats Dir gefallen? Ja, sagt er, und strahlt. Seine schöne schwarzgelockte Mutter auch. Konzentriere mich, schließlich ist der Junge das Publikum von morgen. Mein Betreuer, ein ehemaliger Journalist, nun in der PR-Branche, möchte nun gern seine Fragen loswerden. Übernehme bald, und dann kommen wirklich gute Fragen aus dem Publikum, auch von ihm. Interessante Fragen. Auch Lob, sehr dezidiert und gut formuliert vorgetragen, auch mal was zur Form des Films. Der Junge lauscht. 
Einer sagt, im westdeutschen Außenministerium waren nach 1945 mehr NSDAP-Mitglieder als unter Ribbentrop. Ich frage: und haben die eine NS-Außenpolitik gemacht? Gespräch über den Kalten Krieg, die Konfrontation der Blöcke, die Guten und die Bösen. Wenn also ehemalige NSDAP-Mitglieder die Politik der NATO oder der Amerikaner umsetzen, ist das doch gut? Waren die also ent-ideologisiert (worden)? Re-Educated? Dann wäre das also kein Zeichen für "Refaschisierung", sonder eher für einen "Controlled Institutional Change" á la Talcott Parsons, wo mit Hilfe der Wirtschaft ein Werte- und Mentalitätswandel erzeugt werden sollte? Aus SS-Kadern werden Konzernchefs. Und Punkt.
Angeregtes Gespräch unter den Besuchern, gute unds gelöste Stimmung, verkaufe einige Bücher. Und: es ist die erste Vorführung wo WIRKLICH DAS GANZE BILD GEZEIGT WURDE. Ein Besucher stellt sich als Architekt vor, der in Hamburg und Paris Kunst studiert hat und nun von Paris nach Schwerin gezogen ist und alte Häuser originalgetreu saniert und rekonstruiert. Reden über echte Häuser und Haus-Simulationen. Er erzählt von Freunden die im Burgund mit etwa etwa fünfzig Handwerkern daran arbeiten, eine Burg ausschließlich mit den Techniken und den Materialien, die im Mittelalter verwendet wurden, aufzubauen. Die Idee ist, so habe ich es verstanden, eine Transformation von Techniken aus dem Mittelalter in zukünftige grüne Gewerke. Also Nachhaltigkeit, und eine neue (alte) Qualität die der im Computer gerechneten und dann zusammengeleimten Betonkisten dekoriert mit Glas- und Plastikgardinen gegenübersteht. Die Baustelle vermittelt Kenntnisse über das Herstellen von über Lehmwänden, das Zusammenfügen von Bausteinen, das Auftragen von Kalkputz auf Wände, die Herstellung von Dachziegeln aus Ton oder Holz, den Gebrauch natürlicher Pigmente, die Seilerarbeit mit Leinen oder Hanf usw.
Alle für den Bau benötigten Rohstoffe finden sich in der näheren Umgebung: Stein, Holz, Erde, Sand, Ton usw. Die Steinbrecher, Steinmetze, Maurer, Holzfäller, Zimmerleute, Schmiede, Ziegler, Fuhrleute, Seiler und andere bauen hier eine Burg. Burg Guédelon ist eine Neuschöpfung, welche den von Philipp II. August im 12. und 13.Jahrhundert eingeführten Architekturkanon nutzt. Interessant, da werden wir im August auf der Rückreise vom Atlantik vorbeischauen.
Merke im Hotel das ich meinen Pullover im Kino vergessen habe. Die Stadt dunkel und still, Rauschen des Windes. Im Laufschritt zurück zur Volkshochschule. Das Tor verschlossen, alles dunkel.

Am nächsten Morgen in einem der Cafés, wo ich hoffe niemand vom Festival zu treffen. Blättere meine Notizen durch. Der Faschismus kehrt zurück, das war doch eine Parole mit der Wolfgang Fritz Haug, Professor für Philosophie an der FU Berlin (Das Argument) Generationen von Studenten beeinflußte. 
Eine der Grundannahmen in der westdeutschen Linken, vor allem an den Universitäten war die Annahme, der Faschismus kehrt zurück. Der Vater von Gudrun Ensslin soll zu seiner Tochter gesagt haben: Du sehnst den Faschismus ja herbei! Was ist, wenn der gar nicht kommt?“
Ja, was ist, wenn der Faschismus gar nicht kommt? Dann provozieren wir ihn, er hat sich ja nur versteckt und gut getarnt, wir müssen ihn aus seinem Versteck locken, ihn so lange reizen, bis die Infektion ausbricht, und er aus seinem Versteck ans Licht kommt. Aber wenn er garnicht mehr kommen konnte? Wenn er sich wie Zuckerstücke in einem Wasserglas, das in diesem Falle das westdeutsche Wirtschaftswunder war, aufgelöst hatte? Wenn diese Warnung und dieses "Angst machen" vor der Rückkehr des Faschismus auf falschen Prämissen und Einschätzungen beruhte? Wenn die Analyse des "paranoiden deutschen Nationalcharakters" und der deutschen Nachkriegssituation von Mead, Lewin, Brickner, Marcuse, Adorno und Anderen nicht stimmte? Nicht stimmen konnte? Wenn nicht Wissenschaft, sondern Gefühle, konkret Ängste, und zwar gut nachvollziehbare Ängste, diese Forschungen leiteten? Wenn diese Ängste erforderten: wenn die historische Situation nicht die Legitimation liefert, dann arbeiten wir solange daran, bis sich die Anlässe einstellen, die diese Legitimation liefern. Angst von Adorno in den Tagebüchern: nicht hungern, nicht frieren, nicht geschlagen werden.
Denke auch an Freud und seine Paranoia-Definition. Er hat eine Theorie (Ursache für Paranoia ist Homosexualität, und sucht einen Fall der zu seiner Theorie paßt. Und findet, nach dem Hinweis eines Freundes, den sächsischen Senatspräsidenten Schreber. Dessen Fall nun seine Theorie belegt.


Dann ins Festvalkino Capitol. Die Vorführung beginnt 11:00 Uhr. Ein Scheißtermin! 9 Zuschauer. Nach Filmende noch 3. Mit denen aber fast 40 Minuten Gespräch. Sind marxistisch geschult, sprechen über Trotzki und den Begriff der Permanenten Revolution. Merke, dass sie den Osten und was war noch nicht hergeben wollen, aber mit ihrem starren Negativbild von den "imperialistischen USA" und dem Film nicht klarkommen. Ist interessant. Sage auf die Frage nach Pegida und den Trends in Westeuropa, dass mir mehr Sorge macht auf welche Defekte des gesellschaftlichen Systems, in dem wir leben, diese Reaktionen verweisen. Es sind Reaktionen, keine Aktionen. Wieder das Bild der Schafherde im Film, die unruhig wird. Sie fühlt etwas, irgendetwas ist im Gange, aber was? Am Ende sagt die Frau, als ich ihr anbiete Informationen zum Hörspiel zu schicken: Wir haben kein Email. Sie ist gerade entlassen worden, arbeitslos. Nette, interessierte Leute.
Vom Leiter des Festivals ist nichts zu sehen. Auch wenn der Druck der Stadt oder des Lands sicher auch auf so kleine Festivals enorm ist und die Zahlen stimmen und Jahr für Jahr erhöht werden müssen - er hätte schon mal andeuten können dass er was von Film versteht indem er den Film, auch wenn er als "schwierig" gilt, nicht versteckt sondern seinem Publikum anbietet. Oder als Geste den angereisten Regisseur und Gast begrüßt? Wieder niemand von der Filmförderung da. Interessiert die nicht, was sie da fördern?

07.05. Hamburg, Ruhetag
Aus Köln kommt eine Email. Ein junger Absolvent der KHM und Fan meiner Filme. Er will unbedingt dass ich die social media nutze um meine Filme zu pushen. Also Facebook ("Bei Facebook können Sie dies ab 9,00 Euro schon tun und Alter, Geschlecht, etc. selber bestimmen!"), ständiger update aller Texte und Termine auf der Overgames-Webseite, tumbir, youtube, online-shop, mir schwirrt der Kopf. Das ist ja Arbeit für Tage und eigentlich dann für IMMER, denn das muß ja ständig aktualisiert und bearbeitet werden. D.h., ich komme von der Maschine nicht mehr weg. Und die "user", die es ja anscheinend ausreichend gibt, auch nicht. So werden alle an die Maschinesysteme angebunden, freiwillig, und arbeiten gern und ausdauernd UMSONST. Solche Sklaven hätte sich der Pharao gewünscht. Mein Fan schreibt auch:" Bitte nicht erschrecken! Ihr Film "Das Netz" ist natürlich hier auch zu finden und wurde schon über 33.000 mal schon gesehen. Ein Kommentar: Eines der wichtigsten Uploads auf ganz YT, sollte in jeder Schule als Pflichtfilm gesehen werden! Danke!. Meine Empfehlung: Lassen Sie diesen Film nicht sperren! Es hätte keinen Sinn...der Film ist mehrmals auf youtube zu finden und würde
1. immer wieder upgeloadet werden.
2. Nutzen Sie das lieber, um mit Ihrem eigenen Youtube -Account über die Kommentare auf den neuen Film zu verweisen und natürlich wie immer auf das Booklet bzw. zum Shop verlinken." Seine Email endet: "Wenn Sie diese Punkte umsetzen, pusht das die Tournee sowieso und Verkauf steigt dadurch garantiert. Meine Zukunfts-Prognose, die ich jedem Klienten anvertraue: In den nächsten 10 Jahren stirbt jedes Unternehmen, egal aus welcher Zunft, das den Online-Wahnsinn nicht mitmacht. In diesem Sinne frohes Schaffen". Er meint es gut. Er will den Film pushen. Als ein Kollege vor ein, zwei Jahren seinen Dokumentarfilm rausbrachte saßen in der Verleihfirma auch einige junge Leute, die auf den Einsatz solcher Werbekanäle trainiert worden waren - den neuen Normen um Botschaften zu versenden. Die lernen das auf ihren Werbe- Fach- und inzwischen sogar Kunsthochschulen. So mußt du es machen. Aber im Falle meines Kollegen funktionierte es nicht. Denn es wurde übersehen, dass durch diese Werbekanäle nicht alles problemlos fließt. Um diese Fluidität zu erreichen, braucht es nicht nur bestimmte Formen, sondern auch Inhalte. Sonst flutscht es nicht. Also Form und Inhalt müssen sich diesen technischen Systemen anpassen. Unterwerfen. Es wird von Elektrobastlern- und tüftlern mit Sound und Bits gern übersehen, dass auch die Form politisch ist. Um zu verkaufen, ist erstmal was zu bezahlen. Der Preis ist mir zu hoch. Um in einem System zu funktionieren zu dürfen, das im Grunde paranoisch ist. You Cant´ Eat The Cake and Have It Too.
Und was mir noch einfällt: 1988 hatte ich die Idee den "digitalen Herakles" in einen Film "Herakles Höhle" einzubauen, und mich bei einem der Gründer des Chaos Computer Clubs in Eppendorf eingemietet. Es gab erste BTX (?) Systeme wo man sich als Bürger einer digitalen Standt (electronic city) einloggen konnte, um dort Kontakte aufzunehmen und mit "Mitbürgern" zu chatten. Den Chat hatten wir dann auf einer eingestöpselten Beta Maschine auf Tapes mitgeschnitten. Als "Herakles" eingeloggt mußten wir aber bald feststellen dass es in dieser "electronic city" nur um virtuelle Fickerlebnisse ging und "Herakles" leider solo bleiben musste. Soll sich da in dreißg Jahren wirklich etwas geändert haben?

Mehrfach kommt Kritik an der Kommentarstimme, die sei zu belehrend. Am Text liege es nicht, der sei sehr gut. Aber die Stimme des Sprechers! Nach vielen Tests und Probeaufnahmen fiel die Wahl auf Sebastian Rudolph. Eine sanfte, unagressive Stimme, einen Tick ironisch und mit understatement, und vor allem: leicht. Nicht zu schwer, bedeutsam, wertend, moralisch, geschauspielert.
 Das hatte er abgeliefert, und am Schneidetisch klang es genauso, wie ich es wollte. Das änderte sich als die Sprache im Tonstudio bearbeitet wurde. Auf einmal klang die Stimme härter, lauter, schwerer. Der Charakter war verändert. Als Antwort auf meine Frage nach dem warum und wieso wurde auf technische Anforderungen der Kinos verwiesen, die Anlage in den Kinos erfordere diese "Härtung" um die nötige Präsenz zu liefern. Der Mischtonmeister verstand nicht was ich meinte. Klar, von anderen Regisseuren, Produzenten und Verleihern hörte er ständig: mach es knackiger, präsenter, schärfer. Daran hielt er sich. Da stand ich da und wußte nicht weiter. Ich hörte zwar, daß der Charakter der Stimme nicht mehr war wie ich es wollte, hatte aber keine Argumente um auf etwas anderem zu bestehen. 
Gut, ich hätte abbrechen können. Aber mitten in der Mischung das Studio wechseln? Mit 100 Elefanten über den Paß gekommen, und nun vor der nächsten Paßhöhe zurück, und wieder von vorn beginnen? Mit dem Risiko auf andere, neue Probleme zu stoßen? (bei "Das Netz" war es mir so gegangen: ich hatte gewechselt, zum "Champion" der Mischtonmeister, und war nach zwei Tagen drauf und dran abzubrechen. Es hatte Geld und Nerven gekostet das danach mit einem anderen Kollegen einiges auszubügeln.) Zudem war dieses Problem in diesem Moment nur eines von vielen gewesen und es war nicht klar, ob überhaupt das Größte und beim fertigen Film später dann überhaupt von Relevanz. Dazu kommt, dass die Kinos den Film generell etwas zu laut abspielen, was den Effekt noch verstärkt. Wenn ich anwesend bin, kann ich den Regler dann etwas leiser einstellen. Nun mußte ich mir das Verdikt "belehrender Tonfall" in Renzensionen und als Kritik vom geschätzten Achim Freyer anhören, der nun wirklich etwas von Sprache und Sprechern verstand, den Text lobte, aber den Sprecher verriß. Ich weiß, daß ich an dem konkreten Moment während der Mischung tat was zu tun und möglich war, ärgerte mich aber nun trotzdem.
Vor allem über mich - und denke wieder über die generelle Abhängigkeit von Technik, Maschinen und Apparaten und ihren Normen und Gesetzen beim Filmemachen nach, denen zu folgen ist. Film ist Maschinenkunst. Für den Luxus der Kopierbarkeit muß auch etwas hergegeben werden.

08.05.-09.05. nach Kassel, dann Stuttgart, Wiesbaden und Hannover.

08.05. Kassel, Kino Bali
Früh 6:41 von Altona nach Kassel. Der Zug fährt immer noch auf dieser Strecke einen Umweg, und dadurch eine Stunde länger. In Kassel Bombenwetter. Das Kino Bali ist im „Kulturbahnhof“ Kassel, ein ehemaliges Bahnhofskino. In den Schaukästen in der Bahnhofshalle kein Plakat von „Overgames“. Das Kino ist noch geschlossen. Vor dem Treppenaufgang sitzt ein Bettler und hält seine Basecap den wenigen Ausflüglern hin, die mit Fahrrädern ins Umland fahren wollen. Noch eine Stunden zeit bis Veranstaltungsbeginn. Vorm Bahnhof steht eine Frau, die ihre Brille nicht auf der Nase sondern über dem Mund trägt, und unterhält sich mit einem als Rocker verkleideten Einheimischen, der das Kostüm mit weißen Socken in Sandalen komplettiert.
Ansonsten ist der Vorplatz leer. Der Bahnhof liegt auf einem Plateau, man kann die Berge um Kassel sehen. Bin so groggy dass mir alles recht ist. Freue mich darauf wenn bald Feierabend ist. Das ist neu. Auch dass sich der Magensäurespiegel wieder anhebt. Die 20er Dosis Blocker scheint, bedingt durch den Stress der Tour, nicht mehr zu reichen. Die Vorführung soll 12:00 Uhr beginnen, also high noon.
Meine Gesprächspartnerin Susanne, die Direktorin vom Museum Fridericianum kommt frohgemut und zu Fuß. Sie freut sich den Film im Kino zu sehen. Im Foyer warten nun schon einige Besucher. Wo sind die Flyer? Anscheinend alle, sagt der Kinomensch. Glaub ich nicht. Dann Ton- und Bildcheck, schönes Kino, große Leinwand - aber wieder kein volles Bild. Auch sind die Dolbyboxen nicht gut ausgemessen, der Center ist im Verhältnis zu den seitlichen Boxen wo die Musik und das Klacken der Shows abgespielt wird zu leise.
Überraschend sind auch ca. 15 Studenten der Kunsthochschule gekommen, und bleiben auch bis zum Ende der Diskussion nach dem Film. Insgesamt sind es knapp unter oder über 30 Besucher. Das ist o.k. Meine Gesprächspartnerin beginnt das Gespräch, sie macht das gut. Sie hat den Film nun erstmals komplett gesehen, und im Kino. Ein Riesenunterschied zu anschauen als Stream oder auf DVD. Sie ist unsicher was sie eigentlich gesehen hat, und sagt das auch. Das ist gut. So behält das Ganze den offenen Charakter den der Film hat. Die Überwältigung und Überforderung für Teile des Publikums wird so nicht noch mal verdoppelt durch ein „noch eins Draufsetzen“, die Packung verdoppeln. Wird schnell belehrend. Lieber Zeit zum Nachdenken lassen, auch mal Ratlosigkeit zulassen. Susanne sagt warum sind keine Inserts im Bild die sagen welchen Text die Sprecherin vorträgt? Würde für mich die Funktion dieser Ebene reduzieren. Die ist für mich ein freies Element durch das die Interviews und einzelnen Kapitel aber zusätzlich aufgeladen werden. Am Ende des Schnitts hatte ich Angst es wird zu didaktisch. Lachen im Publikum. Ich würde gern auf alle Inserts und Erklärungen verzichten, eigentlich auch auf die deutschen Untertitel. Man würde genug verstehen, bin ich mir sicher. Die Studenten sind immer noch aufmerksam, manchmal lächeln sie sogar. Was wir vorn vor der Bühne machen ist für das Publikum wichtig, die Wucht des Films abklingen lassen, da stehen zwei Menschen die nicht das (unbewußt) erhoffte Happy End verkünden, nichts besser wissen, die über einzelne verstandene oder unverstandene Aspekte des Films sprechen, vor allem nicht belehren. Im Kino auch zwei junge Kunsthistorikerinnen, die auf der Fahrt nach Köln extra in Kassel die Fahrt unterbrochen haben. Die eine hat den Film nun zum dritten Mal gesehen, und ist immer noch nicht damit fertig, wie sie sagt. Sie war schon in Berlin und Dresden im Publikum (und hatte mir auch die scharfe und sehr kritische Email zum Diskussionsverlauf in Dresden geschickt) und sagt es ist jedesmal ein Gespräch mit ganz anderem Charakter.
Ja, der Film muesste eigentlich 48 Stunden lang sein statt nur knapp drei, und zwei Tage lang laufen. Das waere toll, sagt Susanne, den würde ich gern sehen. Im Hotel rechne ich das dann mal aus: ca. 80.000 € nur für technische Kosten, wenn das reicht. Und ein paar Sachen müßten noch gedreht werden, klar.
Was, das wüßte ich schon. Heiterer Ausklang am Kafféhaustisch auf dem Bahnhofsvorplatz. Dann ins Hotel.

09.05., noch Kassel
Vor dem Termin in der Kunsthochschule nun das erste Mal Zeit für eine Stadterkundung. Von Kassel kenne ich bisher nur die potthäßliche Innenstadt und deren Anhängsel, die Documenta-Bauten.
Steige am Staatstheater ein paar Treppen hinab und finde mich urplötzlich an einem Fluß wieder. Kassel liegt am Wasser? Folge dem Flußlauf der kleinen Fulda (Drusel), Wehre, Boote, es soll auch Fische geben: Rapfen, Gründling, Karpfen, Döbel, Hasel, Plötze, Rotfeder, Ukelei (Laube). Schöner Uferwegs, passiere das Karlsspital, um 1720 das Zuchthaus der Markgrafschaft und diente auch zur Besserung „ungehorsamer Kinder, von Müßiggängern und Landstreichern“. Wurde finanziert auch durch die Eintrittsgelder „vergnügungssüchtiger Schaulustiger“, eine Freakshow also. Ab 1941 NSV-Messerschmidt-Küche und NSV-Kindergarten. Weiter über Finkenherd und die Bleichen, um 1143 Fränkischer Königshof. Lagere auf einer Wiese am Ufer. Kinder auf einem Schulausflug. Schwarz, braun, gelb, weiß. Die Jungs spielen Fußball, die Mädchen spielen mit Bändern und Seilen. Ein Junge und ein Mädchen kommen und fragen wie ich heiße. Wie heißt ihr denn? Emir und Marjana. Ich heiße Lutz. Luutz, fragt Marjana? Dann rennen sie davon und schreien noch im Laufen den Wartenden anderen zu, er heißt Luuz. Alle lachen und rufen nun paarmal im Chor: Luuz, Luuz.
Sie spielen ohne zu streiten, scheinbar absichts- und ziellos, nur so. Erikson scheint weit weg. Die Grillen zirpen, die Blätter der Bäume rascheln und rauschen. Würde gern Bäume, Büsche die Durchblicke zu den dunklen Stämmen und die Schatten zeichnen können. Die Palette der Grüns.
Zurück über die Orangerie. Bin überrascht von den Ausmaßen der Parkanlage. Die Documenta-Bauten, ja die ganze Innenstadt, erscheinen mir wie kleine Implementierungen in ein größeres, durchdachtes System, eine Ideenlandschaft. Gegen die die Documenta aller vier Jahre anzurennen versucht.
Nachmittags und abends dann Termine in der Kunsthochschule, habe zugesagt Einzeltermine mit Studenten zu machen und zeige „Das Netz“. Eine Studentin hat ihren Batchelor über meine Filme gemacht und wird die Veranstaltung betreuen. Bin gespannt.

09.05. Kassel, Kunsthochschule
Die Hochschule liegt am Rand der Karlsaue, in Nähe der Orangerie.

Auf der einen Seite von einer Straße begrenzt, auf der anderen Seite zum Park geöffnet. Ein Summerhill. Früher eine „Schule für Handwerk und Kunst“, später „Werkkunstschule“, aber immer mit einer Ausbildung für Kunstlehrer verbunden. Nun wird hier auch „Freie Kunst“ gelehrt. Es gibt eine Klasse für „Virtuelle Realitäten“, was immer das ist. Denke, das wird im Kultusministerium sicher mit Stolz registriert. „Wahnsinn, was wir da alles haben, virtuelle Realitäten!“.
Auf den Rasenflächen vor den Ateliergebäuden wird gegrillt, junge schöne Menschen lagern entspannt plaudernd auf Rasenflächen.
Ich habe zugesagt, vor der Abendveranstaltung für Einzeltermine zur Verfügung zu stehen. Angemeldet haben sich zwei Studenten der Filmklasse. einer ist Südamerikaner und lebt seit einigen Jahren in Deutschland. Sie wollen einen Spielfilm machen. Hauptakteure sind ein Mann und eine Frau, und deren Liebesgeschichte soll mit aktuellen politischen Entwicklungen in Südamerika und Europa verbunden werden. Die beiden haben nichts mit, kein Papier, keine Fotos, kein Film- oder Videomaterial. Sie sprechen stattdessen ausschweifend über Details einer möglichen Geschichte, wirr, noch ohne Vorstellungen von einer filmischen Struktur. Ich versuche zu erfassen, worum es ihnen geht. Vielleicht um Fragen der Indentität, des Eigenen und des Fremden, um das, was man hergeben muss in der Fremde und das was man dort gewinnen kann? Ob man sich dort Amalgamisieren soll und muß, oder auch als Fremder leben kann? Sie scheinen erleichtert. Ja, genau. Kopfnicken. Ja, so in diese Richtung. Ich erzähle von Vivien und Juan, die Mitte der 1970er Jahre vor Pinochet in die DDR flohen und die wir dann Mitte der 1990er in Chile wiedertrafen, und über die Härten der Emigration. Eigentlich gibt es an dieser Schule keinerlei Voraussetzungen für so ein Projekt. Weder Handwerk noch Technik. Andererseits: mal was zu Ende bringen. Für viele dieser Studenten wird die Zeit an der Hochschule die schönste Zeit ihres Lebens, von der sie später noch oft erzählen werden. 2% werden es zum Künstler schaffen. Die schaffen das aber auch ohne Kunsthochschule. Das Elend der Kunsthochschulen. Klar müssen nun Enddreißiger und Mittvierziger Professoren-innen werden. Aber oft haben die bei Leuten studiert wo es auch schon kein Handwerk und Grundlagen mehr gab, weil die wiederum bei Leuten studiert hatten, die die Zerstörung von Tradition und Handwerk zu ihrer Lebensaufgabe, zumindest künstlerischen Aufgabe (Handwerk autoritär, Narration: autoritär. Was, ich soll einer vorgegeben Handlung folgen? Was, der Film diktiert mir die Reihenfolge der Szenen?) gemacht hatten. Diese Kette wird sich nun endlos fortsetzen?
Denke wieder an die paar Kurz- und Langfilmprojekte die ich in Dresden betreut hatte. Man hatte den Professorentitel, die Funktion, das Gehalt und wurde nun mit Projekten konfrontiert, die vom offenen Kunstbegriff (ich will alles, ich will alles, und das sofort) und der These „Jeder kann alles“ inspiriert waren. Ehrlicherweise hätte man 90% der Studenten sagen müssen: Aus euch wird niemals ein Künstler werden. Sucht Euch bitte rechtzeitig etwas anderes. Oder sie hätten garnicht erst bei der Aufnahmeprüfung angenommen werden dürfen. Das würde, konsequent gehandhabt, natürlich zur Schließung der Kunsthochschulen und zu einer Menge von arbeitslosen Künstlern führen. Der Markt kann und will nicht alle ernähren. So ist ein in sich geschlossenes System entstanden. Mit der Zusatzfunktion als Verwahranstalt für überflüssige Menschen. Ohne Professur oder Dozentenstelle ist für viele Künstler ein Überleben unmöglich. Wo sollen sie sonst auch hin? Gasset, Riesman, Hermann Broch "Ekstase und Panik".

Dann die Vorführung von „Das Netz“. Der Klassenraum ist gut gefüllt. Mein Publikum sind vorwiegend Studenten der Orientierungsklassen, kaum jemand aus den Film- und Medienklassen. Doch, eine Videokünstlerin, die sich als Nanokosmetikerin vorstellt, und zudem boxt. Sie will nun auf einem Kreuzfahrtschiff Nanokosmetik anbieten. Rate ihr das doch mit dem Boxen zu kombinieren.
Nach etwa 10 Minuten verlassen zwei Studenten, demonstrativ die Tür zuschlagend, die Vorführung.?? Nicht weit von mir sitzt eine Studentin die alle fünf Minuten eingehende Emails auf dem I-Phone checkt und umgehend beantwortet. Dann schaut sie wieder paar Minuten den Film. Würde mich interessieren wie das bei dieser Disposition weitergeht. Danach Diskussion. Sitze vor den Studenten mit der Professorin die die Veranstaltung liebevoll organisiert hat, rechts neben mir die Studentin die über meine Filme gearbeitet hat. Sie ist bischen schüchtern, aber wach. Ein gutes Gesicht. Und stellt gleich eine interessante Frage: Wie offen und ehrlich ich mit meinen Protagonisten umgehe, was die erfahren um was es in dem Film gehen wird. Wie man sich als Filmemacher gegen eventuelle spätere Ein- und Widersprüche dieser Protagonisten (und ihrer Anwälte!) absichert. Das ist nicht so einfach zu beantworten, auf jeden Fall nicht lügen. Aber auch nicht alles erzählen. Was ja auch objektiv nicht ginge, denn zum Zeitpunkt wo die Interviews geführt werden, weiß ich ja selbst nicht, wohin der Film läuft, und mit welchem Material diese Interviews später zusammenmontiert werden.
Dann kommen Fragen zum Einsatz von Gewalt. Mir fiel während des Films, beim Interview mit David Gelernter, ein: Für Gelernter fällt Ted Kaczynski aus dem Diskurs, weil er tötet. Der Ausschluß, der verhindert dass über TK´s politische Kritik gesprochen wird, ist legitimiert durch die öffentliche Meinung und die Medien, und die dort verbreiteten Moralvorstellungen. Aber was wäre, wenn die Medien Kaczynskis Tat zur politischen Notwendigkeit erklären würden, und Gelernters Wirken (Börsensoftware entwickeln, Börsentransaktionen möglich machen, Ergebnis seiner Tätigkeit Finanzblase, Finanzkrise usw.) als moralisch verwerflich und den Angriff darauf als moralisch berechtigt? Dann wäre Ted ein Herakles und Gelernter Teil der Hydra.
Verwende das Bild dass Amerika und Europa sich nicht verstehen können. Nach Ende der Veranstaltung kommt eine Studentin, eine Amerikanerin, und bittet um eine Erklärung. Ja, ich hatte das so leicht dahingesagt, möglicherweise sogar nicht selbst gedacht oder nur gehört. Denn, was ist der Unterschied, warum können sich Amerika und Europa nicht verstehen? Nun muß ich nachlegen. Die konsequente Quantifizierung von allem und zwischen allen ist vielleicht der Unterschied? Eine totale Ökonomisierung, alles ist Ware und hat seinen Preis. Das ist ehrlich und brutal. Da gibt es keine „Sozialpartnerschaft“ die das verschleiert. Aber gibt es in Europa noch träumerische und idealistische Räume, die davon freigehalten werden können? Die „Quantifizierung von Allem und zwischen Allen“ ist ja in den USA keine große Geschichte, sondern das wird von klein auf verinnerlicht und täglich gelebt. Die Studentin sagt sie ist nach Deutschland gekommen weil sie deutsche Logik kennenlernen möchte. Denke an John Baldessari, mit dem ich 2009 zusammen auf einem Symposium im Getty Research Center in LA auftrat, der lange und inniglich von seiner Zeit in Kassel und der Beschäftigung mit dem deutschen Wald, den Gebr. Grimm und dem deutschen Mythos erzählte.
Erfahre dann später beim Italiener dass in Kassel aller vier Jahre die Hochschule Dienstleister für die Documenta ist, angeschlossen an ein die Documenta begleitendes Bildungs- und Schulungssystem, das sich bis in die normalen Schulen erstreckt. Stolz erzählt der lange Jahre für die Auswahl und Vermittlung der Künstler in die Schulen mitverantwortliche Pädagogikprofessor wie das ablief. Aber nicht alle waren so freundlich in der Diskussion wie Du vorhin, sagt er lachend. Am arrogantesten und unangenehmsten waren die, von denen man es nicht vermutet hätte, Hans Haacke zum Beispiel. Was? Der bei unseren Treffen und Gesprächen in New York für „Das Netz“ so freundliche Hans Haacke? Kaum zu glauben. Dann zweimal Riesenpizza bestellt, die unter die Professoren und Studenten der Kunsthochschule am Tisch aufgeteilt wird. Wider die Vernunft noch einen Grappa, dann zu Fuß ins Hotel.

10.05. noch Kassel, kurz vor dem Frühstück und der Weiterfahrt nach Stuttgart. Vor dem Frühstück: schreibe Rechnungen für die zwei Tage in Kassel und lese bischen online in den Zeitungen. Finde in einer Literaturrezension: „Einem Autor muss man aber zugestehen, dass er einen bestimmten Aspekt seiner Geschichte nicht weiter verfolgt. Weil er davon keine Ahnung hat. Weil es ihn nicht interessiert. Oder weil es ihm für das, was er erzählen will, schlicht nicht wichtig erscheint.“ Na bitte, so kann man es auch sehen. Mittlerweile kommen Anrufe und Emails die mir zeigen dass das Tour-Tagebuch gelesen wird. Wahrscheinlich habe ich mittlerweile mehr Leser der Texte über den Versuch den Film im Kino zu zeigen, wie Zuschauer im Kino. Bin also in der (selbstgebauten) Falle, vor der ich immer warne? Was wäre, wenn es den Film garnicht gäbe, sondern nur diesen Blog? Der den Lesern eine Kinowirklichkeit liefert, die es garnicht (mehr) gibt, aber das Bedürfnis darüber etwas zu lesen? Ohne ins Kino gehen zu müssen-zu wollen? Wer will (den Schwindel) kontrollieren, den ich da schreiben könnte? Wäre da ein schlechter bitterer Geschmack im Mund? Der Ruch des Betrugs? Schaue mich später im Zug um: 70% der Zugreisenden starren auf ihre Medienmaschinen. Nur nicht nervös werden.

10.05. Stuttgart, Kino am Bollwerk
Gutes Kinowetter, es hat sich etwas abgekühlt, leichter Nieselregen. Bin eine Stunde vor Beginn am Kino. Der Sohn vom Kinochef betreut die Veranstaltung. Mein Gesprächspartner, der Direktor des Kunstvereins erscheint. Im Foyer schon eine größere Gruppe gutsituierter Weißhaariger. Er begrüßt sie herzlich, ah, unserer Freundeskreis, da hat ja meine Info über Facebook mal was gebracht. Nur wollen die Senioren in den Film über Peggy Guggenheim, der im großen Kino läuft. (Zur Strafe müssen sie dort dann 20 Minuten Werbung und Trailer in tosender Lautstärke ertragen).

„Overgames“ läuft im kleineren Kino, 120 Plätze. Bitte um einen Technikcheck. Das Bild ist oben und unten sehr stark beschnitten. Der Juniorchef sagt, ein anderes Objektiv haben aber wir nicht, und tippt ratlos auf seinen Touchscreen verschiedene Buttons an. Ich bitte darum mal im Film zu den Passagen mit Untertiteln zu springen. Das geht auch nicht mehr bei diesem System. Also im Tempo 1:1 bis Minute 18. Klar, die Untertitel sind zur Hälfte abgeschniiten. Ein Objektiv um 1:1,77 vorzuführen haben wir nicht. Dann muß die Vorführung ausfallen, sage ich. Draußen staut sich nun das Publikum, es scheint doch voll zu werden. Der Juniorchef flitzt durchs Gebäude, ein Techniker kommt hinzu. Plötzlich geht es. Es war etwas umprogrammiert worden. O.k., Einlaß. Knapp über 80 Besucher. Meine Toneinstellung vom Technikcheck wird durch einen Werbejingle für europäische Arthouse-Ciinemas wieder rausgeworfen. Nun muß ich während der Vorführung Stück um Stück wieder nachregeln. Der Juniorchef begrüßt das Publikum, stellt mich und den Direktor des Kunstvereins vor, und sagt dann:"Im Anschluß an den Film gibt es ein Gespräch. Aber der Film spricht für sich selbst.". Die Vorführung selbst  ist dann technisch sehr gut.
Die Tonboxen sind gut eingestellt, endlich mal das Verhältnis von Center (Sprache) zur Musik o.k.
Nach Ende des Films bleiben fast alle sitzen. Es geht gleich weiter. Zunächst spulen zwei junge Damen ihr universitär erworbenes Wissen über Namen und Theorien der Postmoderne ab, ohne eigentlich eine Frage zu stellen. Gut. Danke. Dann wieder: wo ist das „Andere“, das „Positive“, das muß es doch geben? Frage an wen gedacht wird? Wer sich da anbietet als Person, welche Theorie, Plattform, Die 30% die bei Milgram nicht den Knopf drücken um „full level of shock“ zu geben? Warum verweigern die den Befehl? Ist das mal untersucht worden? Denke an einen der Maler der, wir waren an einer Ausstellung junger Künstler beteiligt, nicht fähig war dem Vorsitzendes der Abteilung Kultur, Schirmherr und somit auch Finanzier der Ausstellung, die weiche und schwammige Funktionärshand zu geben. Der Körper weigerte sich. Wie können solche Reflexe und Instinke verstärkt werden, durch Wissen gestützt werden?
Einspruch aus dem Publikum. Nur Instinkt? Also Biologie, Natur? Am Ende die Gene? Die Vertreter des Poststrukturalismus ringen um Argumente. Muß nicht das, wie von Mead und ihren Nachfolgern vorgeschlagen erst gerechnet und dann implementiert werden? Sie sind gefangen im Gefängnis der konstruktivistischen Ideen dass alle Realität und Wirklichkeit nur Konstruktion ist. Im Grunde geht es nun nur um Worte für ein Unbehagen zu finden, das der Film auslöst. Das Aufzeigen einer Kontinuität, die nicht klassen- oder soziologisch beschreibbare Ursachen hat, die sich nicht wegkonstruieren lassen. Denn das Großlabor der technisch-ökonomischen Revolutionierung ist eine Realität.
Natürlich können sich die von Ort und Geschichte (Genealogie) bestimmten Dispositionen der Menschen, aber auch »überspielte« Naturgegebenheiten (wie das drohende Ende der nat. Resourcen z.B.) zurückmelden. Gottseidank. Aber wie den Prozeß einer permannten technisch-ökonomischen Optimimierung unterbrechen? Die Funktionalisierung aller Lebensbereiche stoppen? Den Golem einer Welt als als kybernetisches System, als ein mit Sozialstrukturen zusammenhängender Rechenkomplex, wo Markt und Demokratie, Aufklärung und rationales Denken im Universalismus der permanenten Revolution ineinander aufgehen - und sich die Werte und Verfahren ausformen, die künftig für alle gelten?
Gab es nicht Leute wie Heiner Müller, Walter Benjamin, Peter Weiß wird gefragt, deren Untersuchungen zeigen dass es etwas Querstehendes, Aufhaltendes zu diesen Erziehungsdiktaturen geben könnte? Aber, zeigt nicht gerade Müller mit seiner Herakles-Figur, die er zudem selbst-biografisch beglaubigt, wie die anderen genannten auch, das es immer nur um Fehleranalyse geht, um das Notieren des Scheiterns solcher Wünsche. (und die Wiese mit den Kindern in Kassel?). Sein Herakles (die Idee für diese Figur als Teil einer Feddback-Schleife hat er aus der Antike) ist Teil des Systems, das er bekämpfen will, der Hydra, und sein Kampf notwendig für deren immer besseres Funktionieren. Denn die ist fähig, die Energie ihrer Gegner zur eigenen Stabilisierung und Perfektionierung zu nutzen. »Zwischen uns und den Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!« lautete eine der Parolen der RAF. Doch das gelang ihren Protagonisten weder im Leben noch im Tod. Denn die Parole barg eine unmögliche Forderung, wenn der vermeintliche Feind im eigenen Inneren sitzt. (Nach einer Vorführung von „Das Netz“ in Graz vor vielen Jahren hatte einer der Diskutanten resigniert geseufzt: Da bleibt ja niemand mehr übrig, es waren ja alle dabei und involviert.)

Zum wiederholten Male wird zwar gelobt dass der Film versucht Symptomen einen Rahmen zu geben, Zusammenhänge aufzuzeigen. Dann wieder das relativierende ABER, wird geqengelt, es wird nicht gezeigt wie viele Nuancen es gibt, wieviele andere Meinungen, Bücher, Konzepte. Aber darauf wird doch am Ende verwiesen? Nein, das reicht nicht. Gut, vieles was nun (nach fast drei Stunden Film) vermißt wird, liegt ja in meinen Archivkästen, das Material ist ja da, zum Teil auch schon in als Sequenz gedreht (Freud-Schreber-Paranoia-Orthopsychiatrie; das minute von Brickner und Mead und der Prozess von dessen Umsetzung in einen Kongress; die Zusammenhänge mit anderen Initiativen, Kongressen und Analysen und wie die dann zusammengefaßt wurden; der Transfer von deren Konzepten aus einer Sprache der Wissenschaft, Soziologie und Medizin in die Verwaltungssprache des das Military Handbook der US-Army; die Auswirkungen der Hakenkreuzschmierereien in Köln 1959 und der aufzuzeigende zeitliche und inhaltliche Zusammenhang mit „Nur nicht nervös werden“; die Beispiele der darauffolgenden Veränderungen in Schule und Universitäten und und und.) Solche Wünsche nach MEHR und LÄNGER sollten mal die Redakteure von Arte, rbb und WDR hören, denen ich 4 oder 5 Teile á 60 Minuten vorgeschlagen hatte. Der leicht amüsierte, zerstreute Blick mit dem damals das Angebot registriert wird. Hieß: Trottel, du glaubst du kannst mit uns in diesen Größenordnungen dealen? Ich hatte auch nicht den Eindruck dass diese Frage wirklich das Großhirn erreichte. Aber das wäre dann reines Fernsehen geworden. Interessiert mich das? Eigentlich nicht. Vielleicht noch etwas mehr wie nur in den Kunstkontext verwiesen zu werden. An die "Schnittstelle bildende Kunst". Fröstel.
Die Frage eines Film-Professors von einer der örtlichen Kunsthochschulen irritiert mich. Ich hatte auf den Unterschied von Kino- und TV-Ästhetik verwiesen. Er sieht da keinen Unterschied, Bild ist doch Bild, oder? Einer sagt: der Film zeigt doch wie gut sich die Masse Mensch erziehen läßt, warum soll das nicht klappen die zum Guten zu erziehen? Mit Bildung, der Film zeigt doch wie es klappen kann! Den rechten Weg zu weisen. Ich glaube an die Lernfähigkeit der Menschen. Verblüffung im Kino. Mein Hinweis auf das Humane der amerikanischen Re-Education vor dem Hintergrund der chinesischen Variante mit 43 Millionen Opfern unter Mao sorgt für Irritation. Das ist ja zynisch, ruft eine. Im Grunde hat man sich ganz gut mit den Amis als Buhmännern, die auch die Drecksarbeit machen, eingerichtet. Insgesamt gute Stimmung im Saal. Verkaufe paar Bücher. Zwei Studenten aus Karlsruhe sind angereist, die die Vorführung im ZKM verpaßt hatten. Wollen mich im Herbst nochmal nach Karslruhe zu einem Seminar einladen. Die neue Regierung in Baden-Württemberg hat Mittel für solche studentischen Aktivitäten freigemacht. Das ist zu loben. Der eine will wissen was man denn nun praktisch tun kann, wie läßt sich Kritik praktisch umsetzen, eine fast in allen Veranstaltungen auftauchende Frage (wäre ein Wohltat für Religionsgründer und Propheten). Für seine Generation ist das sehr schwer rauszufinden. Wir haben so wenig Zeit. Das Master und Batchelor-System sorgt für einen vollen Terminplan und dreht das Mäuserad der Selbstoptimierung.
Danach am Tisch beim Italiener. Im Kino war auch der Psychoanalytiker, der die Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft organisiert hat, die eine Woche zuvor in Stuttgart stattfand. Ihm hat der Film gefallen, auch fachlich war nichts auszusetzen. Er wundert sich aber, warum der Fuchsberger sich nicht bewußter zu dem bekennt, was er da gemacht hat. Denn er hat ja was Gutes gemacht. So arbeiten wir ja auch. Die verkrampften und in ihren Spannungen feststeckenden Menschen zu lockern, von diesen Verspannungen zu befreien. Aber warum baut Fuchsberger da in seine Geschichte eine Distanz ein? Und die anderen in der Runde? Deren Gelächter über "die Patienten“ ist ja nichts anderes wie das Abweisen des beunruhigenden „Anderen“, vor dem man auch Angst hat. Der „Irre“, der ausgesondert und abgespalten werden muß, der zu den „Normalen“ nicht dazugehört. Sondern auf ein Narrenschiff, das weit draußen vor der Küste ankert. Mit einigen Kollegen der Merz-Akademie noch weiter, ins Bonny and Clyde in Stuttgart-Ost. Wieder guter Tag. Halb drei im Hotel.

11.05., noch Stuttgart
Kurzer Besuch bei einer Kuratorin in der Staatsgalerie Stuttgart auf einen Kaffée.
Als ich Richtung Innenstadt schlendere, gerate ich ins große Defilée zur Wahl des neuen Ministerpräsidenten im Landtag. Jede Menge Polizei, Hunde- und Reiterstaffeln. Gemessenen Schrittes geht die Blüte Schwabens zur Wahl ihres neuen Chefs und seines Kabinetts. Das war am Abend vorher Thema der lokalen Kulturschaffenden am Tisch beim Italiener gewesen. Wie wird sich die Ernennung neuer Minister und Staatssekretäre auf Fördergelder und Haushaltstitel auswirken? Kretschmann, massig, müde, bleich, grauer Anzug, neben ihm der solargebräunte Strobl in Blau, sein Adjudant. Kretschmann macht große Schritte, Strobl viele kleinere, um Schritt zu halten. Ab und an bleiben beide stehen, und scheinen staatspolitisch bedeutsame Gespräche zu führen. Darstellung von Verantwortung und Politik im allgemeinen. Tableau vivant. Erinnert mich an die Fotos von Unterredungen des Kaisers oder Kronprinzen mit seinen Ministern. Im Vorbeigehen raunt einer der um würdevolles Schreiten bemühten Abgeordneten seinem Nebenmann zu:“ Das ist heute schon ein erhebender Tag!“.
Abends in der Merz-Akademie. Versuche meinen Werkansatz zu veranschaulichen. Grafik-Animationsfilm-found footage-Experimentalfilm-Mediencollagen-Dokumentarfilm - im Wechsel mit den bildkünstlerischen Arbeiten. Das Zusammenführen unterschiedlicher Teile eines Ganzen und deren Bearbeitung in verschiedenen Medien. Das klappt ganz gut, mit Hilfe von Filmausschnitten und dem Material auf der Webseite www.herakleskonzept.de. Was ich lange Zeit vergessen hatte: im Vorspann zu „Einmart“ wird aus einem DDR-Handbuch für Kybernetik zitiert, im Film werden dann Sprachbilder von Weber, Spengler und Bildzitate aus Tarkowski „Andrej Rubljow“ verwendet. Dann wieder mit den Merzlern ins Bonny and Clyde.

12.05. Fahrt nach Wiesbaden.
Der Zug schon voller Pfingsurlauber. Die meisten steigen in Frankfurt-Flughafen aus. Ein wohlhabendes Volk.
Freue mich auf das Kino (Caligari) in Wiesbaden, auch wenn der Vorverkauf, mit dem mich der Kinoleiter schon mal telefonisch auf Moll stimmt, schleppend läuft. Egal. Sogar scheißegal. Es ist wieder kühl und regnerisch, Kinowetter.
Gehe noch bischen in Wiesbaden spazieren, essen im Restaurant von Karstadt. Das ist einfach und praktisch, fast in jeder Stadt gibt es das, und das Publikum ist speziell. Komme an der Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler vorbei. Verschuldung des Landes aktuell, Stand 12.Mai 2016: 2 Bill. - 26 Mrd. - 926 Mio. - 67 Tsd. - Zuwachs pro Sekunde 115 €.
Im Kino dann um die 30, 35 Besucher. Das Kino ist renoviert und restauriert, der Blick von der Bühne in den Saal ist großartig. Allein schon deswegen hat sich die Tour gelohnt. Technisch gute Vorführung, die Boxen allerdings bischen zu präsent im Center ausgemessen und eingestellt. Während der Film läuft fragen mich die Kinoleute in der Regel ob wir essen gehen wollen. Meist habe ich das bisher ausgeschlagen, noch mit dem Publikum im Film zu sitzen ist wichtig um dann gleich nach Ende des Films „drin“ zu sein, um evtl. auch gleich etwas aufzugreifen was mir selbst gerade aufgefallen ist.
Diesmal nehme ich die Einladung an. Wir sprechen über den nun schon paar Jahre alten digitalen Alltag im Kino, die Fehleranfälligkeit der digitalen Kopien und den Wirrwarr der Formate, Codecs und Spezialaspekte. Es fallen prozentual mehr Vorführungen durch technische Ursachen aus wie früher mit 35mm Film, erfahre ich. Die Verleiher schicken in der Regel die Kopien am Montag raus, wenn der Film ab Donnerstag laufen soll. Die Festplatten kommen aus verschiedenen Zwischlagern, und werden durch unterschiedliche Kurierfirmen zugestellt. Im günstigsten Fall am Mittwoch. In den Kinos ist aber vor Nachmittag in der Regel niemand da. Also geben die Kuriere die Festplatten irgendwo ab, auch mal im falschen Kino, oder es kommt zur Zweitzustellung erst am Spieltag. Das verteuert den Transport empfindlich. Wenn dann etwas mit der Festplatte sein sollte und die Zeit zum rebooten nicht ausreicht, fällt die Vorführung aus. Eine Festplatte kann in der nächsten Sekunde oder erst in vier Jahren sterben, das weiß niemand vorher, weil es sich nicht ankündigt. Probleme sind auch die Speicherkapazität, die Verschlüsselung, verschiedene Server-Projektor Kombinationen usw. Es ist auch nicht mehr einfach möglich per Hand in den Vorführprozeß einzugreifen und zu versuchen etwas zu korrigieren, wie z.B. den von mir in fast allen Vorführstätten bemängelten Bildausschnitt. Das ist nun eine Blackbox. Ja, sage ich, keiner konnte mir bisher sagen warum von „Overgames“ nicht in jedem Kino das gleiche und das volle Bildformat vorgeführt werden konnte. Er lacht. Wir haben im Caligari für ein und dasselbe Format, z.B. 1:1,85 vier Varianten um die Unterschiede in den angelieferten Datensätzen auszugleichen. Die neue Technik wurde als Vereinheitlichung und als kostengünstiger angepriesen. Viele wissen, dass das nicht der Wahrheit entspricht, aber keiner kommt mehr aus diesem System raus. Die DCP (Festplatten) die nun gespielt werden sind nur eine Zwischenstufe. In (baldiger) Zukunft werden die Daten des Films gefunkt werden, und direkt, von den Großen aus den USA direkt oder von Zwischenstationen in London etwa, ins Kino auf dessen Server übertragen. Dann fallen natürlich materielle Bildträger oder Kurierdienste weg. Und Arbeitsplätze. Das ist dann Industrie 4.0 auch im Kino.
Filme wie meiner sind dann noch mehr die Ausnahme, der weiße Rabe, können aber sicher noch eine Weile vorgeführt werden. 16mm oder 35mm aber sicher bald nicht mehr, obwohl die Projektoren in einigen wenigen Kinos noch vorhanden sind. Das Problem ist, dass die jungen Vorführer keine ausreichenden Erfahrungen mehr haben, um diese Kopien vorzuführen. Weil zu wenig geübt werden kann. Die Filmarchive werden in Zukunft ihre Filme + einen erfahrenen Vorführer ausleihen müssen. Wer will und kann das bezahlen? Zurück ins Kino Caligari.
Im Filmgespräch wiederholen sich nun die Fragen, wahrscheinlich auch einige meiner Antworten. Aber ich sehe an den Gesichtern und gelegentlichen Lachern dass Spannung im Saal ist. Wieder einige Bücher verkauft, neue Adressen in den Email-Verteiler notiert. Im Foyer kommt ein Mann und stellt sich als gebürtiger Deutsch-Lette vor, der schon lange in Deutschland lebt. Er hatte mich in der Diskussion nach meinen Beweggründen gefragt den Film zu beginnen. Nun erzählt er von seinen Erfahrungen, als die Familie nach der überstandenen Umsiedlung nach Turkmenistan unter Stalin nach 1945 nach Westdeutschland kam. Sie fühlten sich als Deutsche, blieben aber „die Russen“. Die Westdeutschen wiederum wollten am liebsten keine Deutschen mehr sein, kokettierten mit etwas „Anderem“. Zugleich die Angst der Westdeutschen, später im Kalten Krieg, vor den Russen. Aber was wenn die Russen kommen, habe er gefragt, dann müßt ihr euch doch entscheiden ob ihr Deutsche seid oder nicht. Ob ihr euch selbst oder Deutschland verteidigen wollt? Damit haben wir nichts zu tun, war die Antwort, das machen die Amerikaner.

Verschicke die Daten für die Radiocollage über meinen Verteiler:

Messer und Uhr
Eine Radiocollage von Lutz Dammbeck

Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb)
Mi, 18. Mai 2016 - 22:04 Uhr

Länge: 51:05

Mitteldeutscher Rundfunk (MDR )

Mi. 18.Mai 2016 -22:00 Uhr

Länge: 51:05

Deutschlandfunk DLF
Fr 27. Mai 2016 - 20.10 Uhr

"Das Feature"
Länge: 49:50

13.05. Hannover
Nachmittags Termin im Sprengel Museum. Anfang Juni soll die Sammlung im Erweiterungsbau festlich präsentiert werden. In einer Loggia mit Blick zum Maschsee soll "Zeit der Götter" auf einem Sony-Monitor mit Kopfhörern gezeigt werden. Inhaltlich macht das Sinn: der Blick auf den Maschsee, einem künstlich geschaffenen See an dem bis 1936 mit Hilfe von NS-Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen gewerkelt wurde, und auf zwei von Arno Breker 1938 geschaffene Löwen-Skulpturen an der so genannten Löwenbastion. Wie immer beim Einsatz von Filmen in Galerien und Museen bleiben viele Fragen. Eigentlich kann man nur mitteilen, dass es den Film gibt, und den durchs Museum flanierenden Besuchern ein Aha-Erlebnis vermitteln. Vielleicht kauft sich dann jemand die DVD um sich den Film als Video in Ruhe anzuschauen, vielleicht gelingt es dann einzelnen den Film mal im Kino auf einer Leinwand zu sehen. Das wärs ja eigentlich. Freue mich dass es nun im Herbst eine DCP geben wird. Als (16mm-) Film ist der Film schon nicht mehr vorführbar.

Dann 19:00 Uhr ins Kino.
Der freundliche Mitarbeiter an der Kasse teilt mir mit dass der Chef schon im Urlaub ist. Klar, Pfingsten. Ich werde also meinen Gesprächspartner, den Direktor des Sprengel Museums vorstellen, und der mich. Im Kino dann 30 - 35 Zuschauer. 
Eine Frau geht in der Mitte des Films raus. Als ich mir Minuten später ein Mineralwasser hole sehe ich sie entspannt auf einer der Couches im Kinocafé liegen und mit dem Mann an der Kasse plaudern. Ich spreche sie an. Warum sind sie denn rausgegangen? Die Musik ging mir auf die Nerven, dieses pling-pling. Ich wollte dem Text folgen, und das war mir dann zu anstrengend. Ich sage, kommen sie mal wieder mit rein, jetzt kommen gleich zwei spannende Kapitel und dann ist auch Schluß. Sie kommt mit und bleibt dann nicht nur bis zum Schluß, sondern löchert mich dann auch noch nach Ende der Diskussion mit Fragen.
Die Diskussion verläuft zunächst unspektakulär. Aus Uelzen ist ein Pärchen angereist, das den Film unbedingt sehen wollte. Sie ist Kunstlehrerin und fragt warum ich nicht wieder mit ausgeschnittenen Figuren wie in den anderen Filmen gearbeitet habe, zum Beispiel in "Das Meisterspiel"? Versuche zu erklären dass die Form für jeden Film sich aus dem Sujet entwickelt, da gibt es nichts, was vorher feststeht. Manches Inhaltliche entwickelt sich auch aus der Form. Wenn ich bestimmte Formelemente nebeneinander liegen habe und Kongruenzen sehe, kann daraus Text oder ein neuer Gedanke entstehen. Verweis auf Warburg, die Bildtafeln der Atlasmacher, meine Tableaus mit den vielen Zitaten die Fußnotenfunktion haben.
Mein Gesprächspartner fragt nach den 1.539.841 Babies, woher ist die Zahl? Natürlich, dagt er, hat der Künstler das Recht so eine Zahl zu erfinden, großzügig mit den Fakten umzugehen. Frage zurück: was meinen Sie, Wahrheit und Erfindung zu mischen? Ein Rekurs auf den postmodernen konstruktivistischen Quatsch von "alles ist (unsere - meine) Konstruktion", der gerade in der Adoption der heimatlosen Film- und Videokünstlerwaisen durch Galerien, Museen und den Kunstmarkt an Bedeutung gewonnen hat?
Na ja, sagt er, Wissenschaftler würden anders arbeiten. Da wäre so eine Zahl mit Statistik hinterlegt. Er greift also die Zahl an. Und damit das, was im Film dranhängt. 1968, die gemachten statt gewordenen Generationen der westdeutschen Nachkriegsgenerationen. Nun ist das Gespräch auf einmal wieder interessant geworden. Wieder das Unbehagen das eigentlich hinter dem Angriff auf die Zahl steht, aber nicht offen ausgesprochen wird. Wenn es "nur" Kunst ist und die Zahl eine Erfindung um zu polemisieren, dann wäre es gemütlicher. Muß nachdenken, wo habe ich die Zahl denn her?
 In meiner Erinnerung aus den Konferenzunterlagen der Brickner-Konferenz in der Columbia Universität. Da ging es um Kindererziehung, und wo und wie angesetzt werden sollte. In den Papieren des State Department, die aus den Texten und Vorschlägen der Wissenschaftler und Mediziner dann das ausfilterten was ihnen kriegsbedingt schell umsetzbar und praktikabel erschien, fanden sich dann konkrete Punkte wie diese frühkindliche Erziehung aussehen sollte. Allerdings stand diese Zahl dann nicht mehr im 18-seitigen Abschlußbericht der Konferenz, und auch nicht in dem darauf aufbauenden und im Film gezeigten Papier des St.Dept. Weder da noch da war der Hinweis auf eine Statistik gewesen. Da wurde mit einfachen methaphorischen Bildern gearbeitet. Und Erfindungen, "Therapeutic Peace" z.B. Um die potentiellen Auftraggeber zu beeindrucken und den Forschungsansatz "idiotensicher" verständlich dalegen zu können. Aber entwertete mein wissenschaftlich genauer Transfer dieser Fakten, Zahlen und Daten meinen Film?
Vielleicht war der in Teilen wissenschaftlich genauer wie die Arbeit der Wissenschaftler mit denen er sich beschäftigte, plus einem künstlerischen Mehrwert?
Eine Museumskollegin fragt: und woher sind die Bilder von den Babies? Gute Frage, das ist nun Jahre her dass ich das Archivmaterial gesichtet und die Quellen verschriftet hatte, in meiner Erinnerung war es amerikanisches Material im Rahmen der Vorbereitung auf den Sprung nach Europa.

15.05. Hamburg, im Atelier
Die Sache mit den 1.539.841 Babies beschäftigt mich, der versteckte Vorwurf der Manipulation und sogar Faktenverdrehung ärgert mich. Also, ab ins Archiv. Was finde ich: ich hatte mich nicht, wie die meisten derjenigen die dicke Bücher über Re-Education und die sogenannte "Brickner-Konferenz" geschrieben haben, mit dem einzig bekannten und im AMERICAN JOURNAL OF ORTHOPSYCHIATRY 1945 (VOLUME XV) erstmals und ananym veröffentlichten Konferenztext zufrieden gegeben, und im Mead-Archiv in Washington nachgegraben. Und in den umfangreichen Tagesberichten zur Konferenz etwas mehr gefunden, u.a. die nun umstrittene Zahl. Die Quelle war:
"Library of Congress/Manuscript Division, Library of Congress, Washington, D.C./
Margaret Mead papers and South Pacific Ethnographic Archives, 1838-1996/ Margaret Mead, Institute For Intercultural Studies - "National Character Studies".

Das file hieß: "CONFERENCE ON GERMANY AFTER THE WAR, und da hatte ich unter (By Carl Binger, M.D.) folgendes Zitat gefunden:
"I agree and subscribe to the paranoid nature of certain dominant German institutions as enumerated by Brickner and Lyons on p. 283 of their reprint A NEUROPSYCHIATRIC VIEW OF GERMAN CULTURE. How can these culture be changed? Have we a better one to give them which the Germans can accept and make their own? The job we have is at least a two generation one. It must begin with the 1.539.841 babies born in Germany last year (1943). We must supervise their feeding, their kindergartens and primary schools and all their secundary education – through the gymnasia...If we believe in Democracy ourselves it is that we must teach them or help them to learn. Selection of personnel for this work and their training and status might form a spezial subject for our discussion. (-)."
Wo Dr.Binger die Zahl her hat, weiß ich nicht, es gab keine Quellenangabe. Sicher ließ sich das nachprüfen. Aber, selbst wenn die Zahl sachlich nicht stimmte, war es doch korrekt, diese zu zitieren. Man wollte an die 1943 geborenen Babies. Und das hatte dann ja auch, in Westdeutschland zumindest, und im übertragenen Sinne, auch geklappt. Sicher bewegte man sich hier im Bereich der Übernahme und des Zitierens von Propaganda, von Vereinfachungen, Überhöhungen, Methaphorik. Steht das dem wissenschaftliches Arbeiten wirklich (immer) diametral entgegen? Meine Überprüfung der Fußnoten aus den Standardwerken zum Thema „Re-Education“ in der Library of Congress hatte so manche Abweichung und Ungenauigkeit ergeben. Zudem waren die Papiere des State Department von einem Mitarbeiter (Harley B. Notter) „in Form“ gebracht und bearbeitet worden, ehe Forscher Zugang bekamen. Margaret Mead hatte selbst sicher auch schon eine Vorauswahl getroffen, ehe sie die Papiere ins Archiv gab. Folgten dann Forscher wie ich dann nicht einer von ihr vorgegebenen Dramaturgie? Konnten dann die Bücher von Historikern und anderen Wissenschaftlern zum Thema »Re-Education«, in denen Zitate aus diesem Archiv als Belege verwendet wurden, mehr abbilden als eine von Margaret Mead vorgegebene Lesart? Deren Ordnung höchstens gestört werden konnte durch den zufälligen Glücksgriff in diesen oder jenen Folder, in diese oder jene Archivbox? Durch naturgegebene Schlampereien wie das Verschwinden von einzelnen Seiten beim Umsortieren der Papiere durch die Archivare? Oder durch Forscher, die hofften durch das gezielte Verstecken von Seiten in Foldern, in die sie nicht hineingehörten, alleiniger Besitzer dieser Information zu bleiben? Zudem wurden diese Ideen und Vorschläge der Wissenschaftler und Mediziner nun von den Mitarbeitern im Außenministerium in eine Verwaltungssprache umgeformt, aus den soziologischen, psychiatrischen und psychoanalytischen Metaphern wurden nun Handlungsanweisungen für Militärs und Beamte. Die Zahl fand sich in den Texten des Außenministeriums dann zwar nicht mehr, aber konkrete Handlungsanweisungen die sinngemäß und verallgemeinernd ausformulierten, was nun mit den Babies zu tun war. Und wie hoch war, ganz allgemein gefragt, der Wert von Statistiken anzusetzen?

Und die Filmbilder mit den Babies?

Die hatte ich aus der siebenteiligen US-amerikanischen Serie Why We Fight (sinngemäße „Warum wir Krieg führen“), eine Serie von Propagandafilmen aus dem Zeitraum 1942 bis 1945. Die Filmreihe wurde kurz nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg vom Kriegsministerium in Auftrag gegeben und mit Hilfe des Research Council Academy of Motion Pictures produziert. Prelude to War, der erste Film der Reihe, wurde 1943 als „Bester Dokumentarfilm“ mit dem Oscar ausgezeichnet. Mein Ausschnitt mit den Babies stammte aus Part 5: The battle of Russia, von 1943.
Die amerikanischen Propagandakrieger waren gebildete Leute. 
Vor den Babies gibt es Sequenzen, die auf den Rasse- und Zuchtgedanken im NS verweisen. Im Schnitt direkt vor den Babies wird Dr.Willibald Hentschel aus DER HAMMER zitiert und dessen Idee in eigens eingerichteten Zuchtanstalten rassisch reine und arische Babies zu produzieren. Im Schnitt danach werden diese Babies dann gezeigt. Und da der US-Film 1943 produziert und veröffentlicht wurde, waren das möglicherweise sogar in irgendeiner deutschen Wochenschau gefundene und kopierte Bilder von 1943 in Deutschland geborenen Babies (diese Quelle wäre nun zu überprüfen), von den Dr.Binger, einer der Teilnehmer der Konferenz, spricht. Denn auf dieses Material wollten amerikanische Wissenschaftler, Ärzte und Pädagogen ja Zugriff haben, denn die Formung bzw. Umformung im frühesten Alter versprach ja den größten Erfolg. Also: die Wissenschaft liefert die Zahl, möglicherweise sogar statistisch belegbar), der Film das Bild. Das habe ich nun zusammengebracht.

Auch die Wissenschaftler, die in Text und Film zitiert werden, sind interessante Referenzgrößen.

Carl Alfred Lanning Binger (1889–1976):
was an American psychiatrist who wrote books and articles on a wide range of topics including medicine and psychiatry, a pioneer in the field of psychosomatic medicine. ("Pressures on College Girls today", 1961). The author of The Doctor's Job and of other books related to medicine and psychiatry, and editor in chief of Psychosomatic Medicine, Dr. Carl Binger is presently serving as psychiatric consultant to the Harvard University Health Services.
Dr.Willibald Hentschel (1858-1947)
:
Assistent bei Ernst Haeckel, 1885 bis 1886 nahm Hentschel an einer Expedition nach Sansibar und Ostafrika teil. Nach seiner Rückkehr ging er an die Universität Jena und kam als Chemiker durch Patente und Erfindungen auf dem Gebiet der Indigo-Herstellung zu einem beträchtlichen Vermögen, schrieb die Bücher Varuna (1901) und Mittgart (1904), in denen er Projekte einer arischen Rassenzüchtung propagierte. Menschenzuchtpläne: nach den Vorstellungen Hentschels sollte aus einer vornehmlich landwirtschaftlichen Produktionsstätte ein „Menschen-Garten“ werden, eine „Stätte rassischer Hochzucht“ mit dem Ziel eine „neue völkische Oberschicht“ zu bilden. Beteiligt 1923/24 an Aufrufen zur Bildung von Artamanenschaften (mit Bruno Tanzmann, Wilhelm Kotzde), das Gründungsmoment der Artamanenbewegung, s.a. Bruno Tanzmann und die völkische Bewegung in Dresden (Gartenstadt Hellerau).
Uff, das müßte eigentlich vor dem Kritiker-Gericht doch für Freispruch ausreichen?

17.05., Greifswald
Umständliche Zugverbindung von Hamburg über Berlin nach Vorpommern: Bernau, Eberswalde, Prenzlau, Pasewalk, Anklam, Züssow, die Strecke bin ich noch nie gefahren. Habe noch Zeit, gehe durch die Stadt. Das Geburtshaus von Caspar David Friedrich. Im Fenster das Plakat für die aktuelle Ausstellung eines meiner ehemaligen Studenten. Ich erinnere mich, er hatte vor Jahren den Caspar-David-Friedrich Preis gewonnen, und ich hatte in diesem Haus die Laudatio auf ihn gehalten. Dann ins Alfried Krupp Wissenschaftskolleg. Ein Neubau, moderen und technisch hochgerüstet, zwei studentische Hilfskräfte sorgen sich um mich und die Veranstaltungstechnik. Alles vom Feinsten. Berthold Beitz, der Vorsitzende des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, ist hier in der Nähe zur Schule gegangen und so landete dieses UFO westdeutschen Mäzenatentums in Greifswald.
Ich soll hier einen Vortrag zu "Overgames" halten, ehe dann 19:30 Uhr die Filmvorführung im Theater, in Kooperation mit dem örtlichen Filmclub "Casablanca", beginnt.
18:00 Uhr ist der Saal im Krupp-Kolleg gut gefüllt, der Chefdramaturg des Theaters macht eine Einführung zu meiner Person und Werk, und er macht das interessant und gut. Er schließt mit einem Verweis auf die 11.These von Marx über Feuerbach über die Veränderbarkeit der Welt (11. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern), setzt das ins Verhältnis zu "Overgames" und dass es heute vielleicht mehr darauf ankommt, die Welt (neu und anders?) zu interpretieren und schließt mit der Frage "Wer erzieht den Erzieher?". Ja, gute Frage.
Wer hat Mead, Bateson, McLeish, William Benton, Rockefeller, Rosenwald, Adorno oder Horkheimer erzogen? Wie erzieht man solche Leute?

Im Theater dann zwischen 40 und 50 Besucher, vielleicht sogar mehr wie 50. Der Filmclub hat eine mobile Leinwand aufgespannt, wir sehen wieder mal das volle Format, das ist gut. Der Ton ist zunächst bischen gewöhnungsbedürftig, etwas verhallt, in den tiefen Bässen beginnt die Anlage zu rumpeln, aber nachdem sie es bischen leiser gedreht haben geht es, und irgendwann ist man drin. Im Publikum auch zwei "fellows" des Wissenschaftskollegs, einen kenne ich noch aus Dresden, wir saßen mal zusammen im ersten Vergabegremium der sächsischen Filmförderung. Beide sitzen vor mir und können erkenn- und hörbar nicht so viel mit dem Film anfangen. Während meines Vortrags war einer von Ihnen sogar eingeschlafen. Dann Diskussion. Vorne dran der "fellow", ihm ist alles zu wirr und unbewiesen. Interessanter die Wortmeldungen zu 68. Eine junge Frau sagt ihr gibt gerade dieses Kapitel zu 68 einen "frame" wo sie biografische familiäre Erfahrungen verorten kann. Gerade weil der Film offen bleibt, gelingt ihr das. Der wissenschaftliche Leiter des Krupp-Kollegs meldet sich als "Sohn einer westdeutschen Labormaus" und fragt davon ausgehend ob wir alle uns nun als Erziehungsprodukte und fremdbestimmt begreifen müssen, oder ob es irgendwo Chance gibt für einen selbstbestimmten "freien" Ansatz für Tun. Ein anderer wundert sich wie distanziert die Diskussion verläuft, als ob es uns, das Publikum, nichts angeht was im Film verhandelt wird. Geht es uns so gut?
Dann die Frage was ich von der Feststellung in einer großen überregionalen Tageszeitung halte, die Ostdeutschen hätten ihre Hausaufgaben in punkto Integration (sprich „Re-Education“) noch nicht gemacht. Wohl wahr, die müssen jetzt nachsitzen und erhalten Nachhilfeunterricht, bis sie das westdeutsche Level erreicht haben. Der Frager meinte wohl auch, ob da in Ostdeutschland ein Widerstandspotential schlummert, das sich der im Film ausgebreiteten westlichen Erziehungsdiktatur entgegenstellen könnte? Das wäre eine interessante Frage. Waren wir im Osten von den Russen "angefasst" worden? So wie die Gleichaltrigen im Westen von den Amerikanern? Zu Antiwestlern erzogen worden? Oder waren da eher im Abstabndwahren zu viel "Materiellem", "Oberfläche", "Äußerlichkeiten", "Profitgier" noch Reste der NS-Erziehung wirksam, die uns von den Eltern mitgegeben worden waren? Und mit den deutsch-proletarisch-sowjetkommunistischen Glaubenssätzen seltsame Amalgame eingegangen waren? Mehr sein als scheinen. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Was fragt ihr dumm, was fragt ihr klein, ein BDM-Lied. Den Verweis auf das Lied fand ich bei Christa Wolf. Sie ist in den USA und muß sich mit den Stasivorwürfen im fernen Deutschland auseinandersetzen. Sie läuft die ganze Nacht durchs Zimmer und singt das BDM-Lied, um ihrer Unruhe Herr zu werden. Auch meine Mutter war bis an ihr Ende überzeugt vom Geist der Kameradschaft und Gemeinschaft bis über das Kriegsende hinaus. Das in der jungen Bundesrepublik in der Familie Beschwiegene (nicht zu vergessen das von der 68er Generation ausgeblendete transgenerational übernommene Erbe) und durch das „Wirtschaftswunder“ wie „68“ scheinbar zum Verschwinden Gebrachte scheint sich nun nach 1989 im Osten zu zeigen, vor den Augen der peinlich berührten Westverwandschaft. 

Am Ende ein gutes Bild: der Filmclub Casablanca packt seine Gerätschaften ein, Holzstative geschultert, Verstärkerboxen vor dem Bauch und die eingerollte Leinwand über der Schulter ziehen sie ab - eine frohgemute russische Treidlertruppe. Als ich ihnen zurufe, seid froh dass ihr eine Blue Ray vorgeführt habt und keine 35mm-Kopie rufen sie fröhlich, schon auf dem Treppenabsatz, kein Problem, wir können noch 35mm-Film vorführen, mit der TK 35, dein Film, das wären auch nur sieben Rollen gewesen!
Dann noch einen Wein mit dem Theaterleuten im leeren Foyer. Der Chefdramaturg zitiert Hegel: "Hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins Leben getreten." Denn eine Revolution gelingt nur wenn sich keiner (im Wald, wie Ted Kaczynski, sic!) verstecken kann, alle müssen von der Revolution erreicht werden können. Vor dem Theater wartet ein Wagen, ein Mitarbeiter des Theaters fährt mich nach Hamburg zurück, der letzte Zug fuhr vor vier Stunden. Ankunft 2:15 in Altona. 5:53 geht es weiter nach Mainz.

18.05., im Zug nach Mainz
Habe nun doch, mit leichtem Unbehagen, ein Tagesticket für einen Onlinezugang gekauft, und die Kreditkartendaten eingegeben. Muss aber vom Zug aus den DCP-Verkehr regeln. Zu meinem "Hannover"- Eintrag von gestern kommt ein Kommentar per Email:
"Übrigens bin ich nicht der Meinung, dass sich hinter der seltsamen Frage des Direktors des Sprengel Museums, nach der wissenschaftlichen Belegbarkeit der „Zahl“ der Babies, ein tieferliegendes Unbehagen versteckte. Eher hatte ich den Eindruck, dass er sich da in etwas verstiegen hat – einfach weil ihm keine interessante Frage mehr eingefallen ist (Man könnte natürlich entgegnen, das Unbewußte habe ihm da einen Streich gespielt…). Was mir aber nach beiden „Diskussionen“ (in Dresden und Hannover) aufgefallen ist: Mit der Hauptthese des Films wird sich fast überhaupt nicht auseinandergesetzt, keiner ist empört, kaum einer ist verstört. „Diskutiert“ wird überwiegend an Nebenschauplätzen (beispielhaft: Rousseau in Dresden, Formfragen in Hannover). Ein Symptom der heutigen Zeit?"
Da ist was dran. Vielleicht war meine "Rechtfertigung" der Baby-Fakten doch bischen übereifrig? Sogar unnötig? Aber über die Form des Films zu reden finde ich wichtig. So arbeitet doch niemand anderes. Der Chefdramaturg aus Greifswald schickt per Email noch eine Ergänzung zum Hegelzitat und schreibt: Ich gebe hier mal den größeren Zusammenhang, ist wirklich interessant, in der Philosophie der Weltgeschichte behandelt Hegel natürlich auch die Neue Welt, also Amerika.„Dass ein Staat die Existenz eines Staates bekommen könne, dazu gehört, dass er nicht auf fortwährende Auswanderung bedacht sein, sondern dass sich die ackerbauende Klasse nicht mehr nach außen drängen kann, vielmehr sich in sich zurückgedrängt, sich zu Städten und städtischen Gewerben zusammenfasst. Erst so kann ein bürgerliches System entstehen, und das ist die Bedingung für das Bestehen eines organisierten Staates. Nordamerika ist noch auf dem Standpunkte, das Land anzubauen. Erst wenn wie in Europa die bloße Vermehrung der Ackerbauer gehemmt ist, werden sich die Bewohner, statt hinaus nach Äckern zu drängen, ein kompaktes System bürgerlicher Gesellschaft bildend zu dem Bedürfnis eines organischen Staates kommen. Eine Verleihung der nordamerikanischen Staaten mit europäischen Ländern ist daher unmöglich; denn in Europa ist ein solcher natürlicher Abfluss der Bevölkerung, trotz aller Abwanderungen, nicht vorhanden: hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins Leben getreten. Mit Europa könnte Nordamerika erst verglichen werden, wenn der unermessliche Raum, den dieser Staat darbietet, ausgefüllt und die bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre." Quelle: Hegel, G.W.F.: Philosophie der Weltgeschichte. Leipzig 1944. (S. 199)
Sehr gut, das werde ich der amerikanischen Studentin in Kassel zukommen lassen.

Endlich kann ich auch mal die Email von Haus des Dokumentarfilms beantworten. Die fragen an “…bei Doku-Regisseurinnen und Regisseuren und weiteren Dok-Experten zu den wichtigsten Dokfilmen aus dieser Zeit. Außerdem wäre uns wichtig zu erfahren, was Dir am Dokumentarfilm besonders wichtig ist. An der Umfrage kannst Du Dich einfach über diesen Link beteiligen (Link hier gelöscht).
Heiliger Strohsack. Das schöne Geld was ununterbrochen verbrannt wird. Muß wieder daran denken wie einer vor Jahren bei der sounsovielsten Feier zum Bestehen der Hamburger Filmförderung auf die Tafel, wo die Gäste Geburtstagsgrüße mit einem Edding aufmalen sollten, schrieb: DAS GELD IST WEG DIE SCHANDE BLEIBT.
Ergänzend zur Umfrage soll auch ein Symposium mit dem Titel "Transmedial Erzählen – Film, Webdoku, Game, 360°" stattfinden. Im Mittelpunkt des Programms stehen "Finanzierung, Ausbildung und Verbände. Anhand ausgewählter Case Studies wird die Entwicklung einer Geschichte auf verschiedenen Plattformen thematisiert." Ich war schon einige Male zu solchen Treffen, man hofft Redakteure zu treffen, Unterstützung für Projekte zu finden und, wenn man jünger ist, sich bekannter zu machen. Man kann auch seinen Namen im Programmheft lesen. Ansonsten ist es meist folgenlos.
Der Medienrealität- und Entwicklung sind diese Symposien schnurz, die dampft vor den erstaunt-erschrockenen Augen der Teilnehmer vorbei und weiter in die von der „permanenten Revolution“ angezeigte Richtung.
Ankunft in Mainz, noch eine Stunde Zeit bis das Seminar bei den Filmwissen-
schaftlern der Uni beginnt. Setze mich ins Grüne und höre bischen den Vögeln zu.

18.05. Mainz, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft
12:00 Uhr. Das Seminar ist ein Gespräch mit der Leiterin des Instituts, mit Oksana Bulgakowa. Wir kennen uns schon lange. Sie hat den Film letztes Jahr in der Akademie der Künste gesehen.
Oksana hat sich gute Fragen ausgedacht, die Lust machen, zu antworten. Werkansatz, die Materialien, Zuordnungen zu Genres, das Verhältnis von bildender Kunst und Film. Oksana sagt dass ich nicht wie im formatierten Dokumentarfilm den Verbrecher und das Verbrechen zeige. Einspruch: Oh doch. Nur dass das „Verbrechen“ und der „Verbrecher“ für mich kein zeitlich abgeschlossener Vorgang oder eine konkrete Person ist, sondern multifunktionale Netzwerke, Konglomerate oder ich könnte sogar sagen: WESEN sind, die sich aus Personen, Ideen, Orten und Beziehungen zusammensetzen. Dafür suche ich nach einer genuinen Form, um die sichtbar zu machen.
Über meine Mediencollagen, ein „Kino im Raum“ der 1980er, kommt Oksana auf der Suche nach filmischen Reverenzen auf Eisenstein (Idee eines kugelförmigen Buchs). Das paßt, das nehme ich an. Ergänze mit Heartfield, wenn es um die bildende Kunst geht. Endlich mal ein echtes Gespräch über FILM! Die zwei Stunden vergehen wie im Flug, die Gesichter, Minen und die Körperhaltung der Studenten und anderen Dozenten, schätze um die 40 sind im Hörsaal, bleiben bis zum Ende gespannt.
Dann kurz ins Hotel. Bin aber zu müde um mich kurz hinzulegen. Bin auch mit einem jungen Journalisten verabredet, der mich in Wiesbaden im Kino Caligari nach der Vorführung angesprochen und um ein Interview gebeten hatte. Nun sitzen wir vor dem Medienhaus der Uni, und er nimmt meine Antworten auf seine Fragen mit einem kleinen Gerät auf, nicht größer wie ein Handy. Vor zwei Monaten hat er sein Studium der Germanistik beendet und hofft nun auf einen Job beim ZDF in einer der Online-Redaktionen, die versuchen mit ihren Programmen jüngere Zuschauer zu erreichen.
Er gehört zu einer Gruppe von Enthusiasten, die quer durch das Land zu Kinos reisen die noch Filme als „Film“ vorführen, also mit Filmkopien. Seine Fragen sind interessant, auch weil sie aus dem Blickwinkel der ganz Jungen gestellt werden.
Das bearbeitete Interview will er nun verschiedenen Filmmagazinen anbieten die online erscheinen.

18:00 Uhr zum Kino Mayance, das sich im Gebäude des französischen Kulturinstituts befindet. Vor dem Eingang stehen mehrere Aufsteller mit Plakaten.Ein Plakat für „Overgames“ ist nicht zu sehen.
Bin gleich bedient. Im Haus ist das Kino schwer zu finden, der Besucher muß eine Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen. Ein junger Mann., studentische Hilfskraft an der Universität, stellt sich als Filmvorführer vor. Gut, machen wir einen Test. Das Bild ist dunkel wie die Nacht. Er sagt, das ist die Einstellung in der wir immer vorführen. Ich bitte ihn die Einstellungen am Beamer zu verändern, so können wir das nicht zeigen. Das darf er nicht, wir müssen warten bis der Chef kommt. Warum ist vorm Haus kein Plakat ausgehängt? Weiß er nicht, würde er auch gut finden. Die Frau des Chefs erscheint, eine kleine Asiatin mittleren Alters. Als sie von meiner Beanstandung der Projektion hört, bekommt sie einen Wutanfall. Noch nie hat sich jemand beschwert, immer war alles super, das ist eine Unverschämtheit, die DCP ist schuld. Erkläre ihr dass ich diese DCP nun schon dreimal persönlich in verschiedenen Städten und Kinos von Anfang bis Ende in bester Qualität angeschaut habe. Sie rastet aus und knallt mir das Case mit der Festplatte auf den Tisch: dann kan nikt spielen! Ende, aus. Gut, seufz. Ich hole die Blue Ray aus dem Rucksack. Die wird eingelegt, und tatsächlich sieht das Bild heller aus, näher am Master das ich abgenommen habe und kenne. Wie kann das sein? Der Vorführer und die kleine Frau triumphieren. Ha, an unserem Beamer liegt es nicht! Quatsch, wer will das wissen, das Signal geht ja nun ganz andere Wege. Das Rätsel bleibt. Dann kommt der Kinochef. Er zieht einen Rollkoffer hinter sich her und verschwindet in einem der Räume am Ende des Ganges. Ein Altbohemian mit dem Habitus des Intellektuellen. Ich versuche es noch einmal mit ihm. Er scheint freundlich, wir gehen zusammen in den Vorführraum, verfolgt vom bösen Blick der kleinen Frau. Geh mal raus und beruhige sie ein bischen, sagt er zur studentischen Hilfskraft. Dann macht er sich am Menü des Beamers zu schaffen, und versucht nun Schritt für Schritt nach meinen Anweisungen das Bild zu korrigieren.
Nach einer Weile, es sitzt schon Publikum im Saal, sieht das Bild erträglich aus. Es ist immer noch zu dunkel, wo schwarze Flächen sein sollten ist es grau-flau, die rechte Seite der Leinwand ist dunkler wie die linke, es ist insgesamt zu gelb, aber gut. Es geht los. Als die ersten Passagen mit Musik kommen höre ich, dass leider die Tonboxen schlecht ausgemessen sind, die Musik ist sehr, nein: viel zu leise.
Ich höre nun mit dem Publikum, es sind 30-35 Zuschauer, eine Version des Films die vom Kommentartext dominiert wird. Das war eine Frage die bei der Mischung lange diskutiert wurde: nur Kommentar und O-Töne? Nun höre ich diese Variante im Kino. Geht nicht, ist zu kraftlos. Die Musik, auch wenn sie an einigen Stellen anstrengend ist, muss sein.

Können sich diese Kinos nicht bischen mehr Mühe geben? Habe nun doch schlechte Laune. Gehe raus und einen Tee trinken. Ein Bistro in der Nähe des Kinos, sitze im Freien mit Blick auf einen Brunnen dem sie Lichtspiele in verschiedenen Farben verordnet haben. Auch merkwürdig. Eine Frau um die sechzig, vielleicht ist sie auch fünfzig setzt sich ungefragt an meinen Tisch, schräg gegenüber, zündet sich eine Zigarette an und bestellt eine Tasse Kaffée.
Na gut, warum nicht. Nun schaut sie mehrmals in meine Richtung. Auch o.k. Plötzlich fragt sie, sich leicht über den Tisch beugend: sind wir verabredet? Ich muß lachen. Ein blind date? Ja, sagt sie. Ich schaue an mir herunter, ob zufällig eine Blüte am Pullover hängengeblieben ist. Aber was ist denn das Erkennungszeichen? Der Platz an der Eingangstür. O.k., da sitze ich. Sie ist die Witwe eines Juweliers. Nun ist ihr langweilig. Warum nicht mal was riskieren, sagt sie, und lacht. Soll ich mich woanders hinsetzen, frage ich. Nein, nein, sagt sie, der Treff ist erst für 21:00 Uhr verabredet. Es ist erst kurz nach halb neun. Jeder Mann der in der Nähe der Eingangstür stehenbleibt wird von ihr unauffällig gemustert. Ist es der junge Afghane im Seidenhemd mit I-Phone? Der ältere Mann im Strickpulli mit dem Tatoo am Hals? Oder der junge Mann im Bankerlook und gegeltem Haar? Ich habe aber das unbestimmte Gefühl, sie verdächtigt mich, der eigentliche Kandidat zu sein, der sich nun nach Prüfung der Kandidatin verleugnet. Hmm. Es beginnt zu regnen. Trinke meinen Tee aus und gehe wieder ins Kino. Dort sitzen nun noch etwa 20 Besucher, von den 15 Studenten haben sich nach und nach mehr als die Hälfte rausgeschlichen. Eine Stunde haben sie durchgehalten, das ist so das, was sie vertragen können, sagt der Professor für Medientheorie an der Hochschule in Mainz, der mir mir nach Ende der Vorführung das Gespräch führt.
Die Fragen aus dem Publikum beginnen sich nun zu wiederholen, das gelernte Wissen über die Bedeutung der Frankfurter Schule für die Neuwerdung der (West-) Deutschen. JA, Adorno hatte einen anderen Ansatz bezogen auf das Individium, nicht behavioristisch - kam damit aber leider in den USA nicht zum Zuge. JA, das Buch über den autoritären Charakter wurde in den USA gelesen (siehe „Das Netz“, Macy Konferenzen) - aber nicht in dem Zeitraum der mich interessiert. Da spielten die Frankfurter keine Rolle. Wieder fällt mir blöderweise nicht der Name meiner Referenz dafür ein (es ist Prof.Martin Jay in Berkeley, den ich besucht hatte). Und dreimal JA: Margaret Mead hatte sich mal gegen Atomwaffen im Kalten Krieg ausgesprochen. War das aber Beweis und Beleg für eine Wandlung nach 1945? Wohl nicht. Nach wie vor betrachtete sie Wissenschaft als Kulturkampf, Ethnologie als angewandte Kriegswissenschaft auch im Kalten Krieg und war nach wie vor von dem konstruktiven Beitrag der Ethnologie, von einem "relevant policy input", felsenfest überzeugt. Ihr Resümee von 1979 läßt diese Phase der amerikanischen Ethnologie zu einer einzigartigen, unwiederholbaren Erfolgsgeschichte werden. Für Margaret Mead stand fest, daß der zweite Weltkrieg für die beteiligten Humanwissenschaften als Periode des Triumphs zu gelten hatte, als “worn-out relic of early culture-and-personality studies“. Theoretisch war Mead eine Gegnerin der Atombombe, praktisch unterstützte sie die amerikanische Anti-Kriegsbewegung nie. Richtete sich ihr Kampf während des Krieges gegen deutsche Nazis und amerikanische Pazifisten, so polemisierte sie nach dem Krieg gegen Pazifisten und Kommunisten im eigenen Land (der latente Rassismus bei Mead u.a. ihrer Freundin Ruth Benedict wurde und wird gern von den Biografinnen ausgeblendet). Mead wurde nach 1945 zur Ikone und Leitfigur des politischen Feminismus, ohne deren Wirken Forschungsrichtungen wie Genderstudies, Praktiken wie „Political Correctness“ und „Diversity“ sich nicht entwickeln konnten. Nach 1945 interessierte sie sich nachweisbar aber bald schon nicht mehr für die praktische Umsetzung der Konzepte für Re-Education (Therapeutic Peace), auch als klar war wie schwierig, unattraktiv und mühsam deren Umsetzung sein würde. Erfolgreicher und publikumswirksamer schien nun, die neuen Theorien und Werkzeuge vorzustellen die auf den Macy-Konferenzen diskutiert und weiterentwickelt wurden: Kybernetik, Systemtheorie, Kommunikationswissenschaft, bald auch Computing und andere Methoden um eine moderne Massengesellschaft zu „managen“. The next hot thing. Das versprach mehr öffentliche und vor allem staatliche Anerkennung, wie die zunächst harte, glanzlose Praxis der Re-Education. Und Margaret Mead war wie selbstverständlich als Hauptakteurin und begabte Netzwerkerin bei den Macy-Konferenzen wieder mit ganz vorn dabei. „Die unvermeidliche Mead“, wie der arme Adorno seufzend in sein Tagebuch notierte.
Dann der Verweis aus dem Publikum auf die Unterschiede der amerikanischen etwa zur französischen Re-Education Politik. In Mainz, also der französischen Besatzungszone, war eher Lacan das Thema, nicht Mead oder Bateson.

Nach Ende der Veranstaltung kommt die kleine Frau des Kinochefs zu mir, sie ist Japanerin. Sie hat sich die letzten 20 Minuten des Films im Kino angeschaut. Nun ist sie friedlich und freundlich. Du musst unbedingt einen Film über die Re-Education in Japan machen, sagt sie. Ja, das wäre ein Thema. Und ich fremd genug, mir das genauer anzuschauen.
Dann noch zwei Bier in einer kleinen Spelunke in Bahnhofsnähe. Danke, das wars für heute. Nun noch einige Termine bis zum 24.Juni.
Freitag gehts mit Otto in die Hundeschule.

Pause bis zum nächsten Termin am 24.Mai in Halle.
Dann weiter nach Magdeburg, Freiburg, Kleve, Dortmund und Dresden.
Unterbrechungen der Tour für Vorführungen mit „Hommage á La Sarraz“ am 04. und 05.Juni beim 32.Internationalen Kurz Film Festival Hamburg,
und mit „Das Meisterspiel“ am 17.Juni und „Das Netz“ am 20.Juni im Film Archiv Austria in Wien, im Rahmen der Reihe „Terror im Blick. Politik macht Kino“.

23.05. noch Hamburg
Oksana schickt mir ihren Text zu Eisensteins „Glashaus“ und seinen Ideen für ein kugelförmiges Buch. Es geht um die Durchsichtigkeit von Gebäuden und
Beziehungen, und so um die Aufhebung der Trennung des Privaten und Gesellschaftlichen.
Was mir neu ist sind die intensiven Kontakte Eisensteins zu Psychoanalytikern, als er in den USA versucht sein Drehbuch für "Glashaus" zu realisieren. Zentral scheint der damit verbundene Gedanke der Transparenz. In Oksanas Text taucht auch ein Verweis auf Rousseau auf, im Zusammenhang mit Überlegungen zu Häusern aus Glas und Techniken zur Observierung und Kontrolle. Krame in meinem Archiv. Ja, das helle Tageslicht wurde in der Aufklärung zur Zentral-Metapher des Drangs nach Wissen und Wahrheit. Die u.a. von Rousseau verordnete radikale Transparenz und Durchsichtigkeit galt auch für die Sprache. Denn mit der Sprache kam die Täuschung, die Falschheit, die Lüge in die Welt. Eine geschickte Spracherziehung sollte nun Kinder nicht mit dem gesamten Lexikon einer Sprache versehen, sondern lediglich mit ausgewählten Zeichen, die sich ausschließlich auf konkrete, reale Dinge bezogen. Die Zöglinge sollten nicht Wörter erlernen, die sie dann mit ihrer eigenen Vorstellung füllten, sondern stattdessen Zeichen und Symbole mit revolutionären Inhalten. Dazu wurden Bildlexika und revolutionäre Spiele gestaltet, die den Kindern den revolutionären Katechismus nahe bringen sollten. Könnte man nicht historische wie heutige Gameshows, oder das Unterhaltungsfernsehen generell, als solche Erziehungshilfen deuten? Als revolutionäre Bildlexika mit klar und leicht erlernbaren Zeichen und Symbolen, die den Katechismus der (permanenten) Revolution spielerisch vermittelten? Shows wie „Price Is Right“ z.B.? Laborsituationen die die Transparenz und Durchsichtigkeit von Verhalten und gleichzeitig dessen Kontrolle ermöglichten? Wenn sich die Grenzen zwischen den Spären des täglichen Lebens, zwischen Arbeit und Freizeit, Zerstreuung und Pflichterfüllung, Erholung und Anstrengung, Kunst und Werbung etc. nun auflösten, war diese Transparenz, Durchsichtigkeit und Kontrolle dann nicht total, totaler als es sich Bentham hätte je vorstellen können? In Verbindung mit einer “Loi des Suspects" (Robespierre)?

24.05. Halle, Pusch Kino
Ankunft in Halle. Ich kenne die Innenstadt noch als dunkle, von Ratten und Tauben besiedelte zerfallende graue Ansammlung von Bruchbuden. In einer dieser dunklen Höhlen hatte der Drucker Gerhard Günther mit Unterstützung von Helmut Brade eine Druckwerkstatt eingerichtet. Oft war ich mit den bezeichneten Zinkplatten von Leipzig nach Halle gefahren, um dort Plakate zu drucken. Nun sehe ich große restaurierte Gebäude, eine ehemals bürgerliche Stadt kommt zum Vorschein. War man in Münster immer in Gefahr von Fahrradfahrern umgefahren zu werden, waren es in Halle nun die Straßenbahnen die kreuz und quer durch die Innenstadt kurvten.
Ich suche das Kino, das sich in einem 1949 eingeweihten Kulturhaus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft befindet. Von außen ist nicht zu erkennen dass hier ein Kino ist, die Fassade, an der noch das Wort DRUSHBA anmontiert ist, bröckelt.
Ich sehe ein zwei Schaukästen, ein paar auf Pappen geklebte Plakate anderer Filme. Ein Plakat zu Overgames ist in einem der Schaukästen versteckt, so zusammengefaltet dass nur der untere Teil mit dem Filmtitel zu sehen ist. Innen ein schmaler Foyerraum mit ein paar Tischen. Es liegen Flyer zu allen möglichen Filmen aus. Wo sind die Flyer zu Overgames? Vorgestern waren noch welche da, nun sind sie wohl alle. Hmm, das kann ja heiter werden. Ich hatte noch am Wochende Emails an die Kunsthochschule, die örtlichen Museen und die in Halle ansässige Kunststiftung des Bundes verschickt. Mal sehen, wer kommt.
Der Kinoraum ist sehr angenehm, gute Bestuhlung, auch der Technikcheck zufriedenstellend, Bildformat und Sound scheinen zu stimmen. Das Kino hat nur einen Saal, das ist nicht einfach und heißt volles Risiko bei der Filmauswahl.
Im Saal dann zwischen 40 und 50 Besucher, größtenteils von der Kunsthochschule, ein junges Publikum. Nach dem Film nur zwei Abgänge, alle anderen bleiben sitzen. Leider haben wir nur ca. 40 Minuten für die Diskussion, nach Overgames ist noch ein anderer Film programmiert. Es geht gleich nach dem Abspann mit mehreren Fragen los, die vor allem Verunsicherung verraten. Es gibt natürlich auch wieder die Fraktion der universitären Bescheidwisser, denen die Stringenz der Erzählung fehlt (zu offen, zu viele Löcher, da fehlt doch dieses oder jener Name), aber wieder wird aus dem augenscheinlichen Unbehagen keine wirklich interessante Frage, es bleibt beim Ressentiment. Woran erinnert mich dieser unverkennbare, leicht quengelige Sound? Richtig, letzte Woche kamen die Belegexemplare des aktuellen Hefts von „KUNSTFORUM International“, das sich dem Thema „Get involved! Partizipation als künstlerische Strategie“ widmet. Im Einführungstext sind auch ein Verweis und Abbildungen zu meiner Installation mit dem Nachbau der cabin von Ted Kaczynski. Ich hatte jahrelang nicht mehr in die Zeitschrift hineingeschaut und war neugierig. Aber nach einigen Seiten war mir langweilig. Irgendwie war es immer noch das Gleiche, nur die Namen wechselten. Mußte komischerweise an die ironische Arroganz im Video der Beach Boys denken, als sie „Okie From Muskogee“ von Merle Haggard spielten. Aber diese Fraktion ist diesmal im Kino klein, ansonsten viel Zustimmung und Dank für den Film. Vor allem: die Spannung im Saal hält an. Interessant dann einige Fragen der „Naiven“, die ich gleich an die Frager zurückgeben kann. So wird es zu einer guten Therapiesitzung. Aber ohne Hierarchie. Denn in der Ratlosigkeit die der Film provoziert sind wir alle gleich, wie weiter? Solche Situationen, wirklich offene Situationen, kenne ich aus Künstlergesprächen in Museen und Galerien nicht. Technisch war es die beste Vorführung bisher, der Sound klang fast so wie zur Abnahme im Tonstudio, Bildqualität sehr gut. Paar Bücher verkauft, dann im Foyer noch Einzelgespräche. Im kleinen Kreis Ausklang in einer Kneipe in der Nähe des Kinos mit Bier und zum Abschluß einer Runde Aquavit.

Nächster Termin in Halle: 31.05., 21:00 Uhr

25.05. Magdeburg, Studiokino
Eine merkwürdige Stadt. Das Stadtzentrum durchschnitten von breiten Magistralen, links und rechts stehen noch einige hohe und guterhaltene Blöcke im Stil der Berliner Stalinallee, dazu einige neue Kästen der westdeutschen Kaufhauskultur, komplettiert durch gut erhaltene und liebevoll restaurierte Reste der mittelalterlichen Bebauung. Ich fahre mit der Straßenbahn ins Kino. Das liegt außerhalb vom Stadtzentrum am Moritzplatz. An einer Seite des Platzes steht ein großes rotes Backsteingebäude, die frühere Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit. Gebaut ursprünglich als königlich-preußisches Amtsgericht und Stadtgefängnis, diente es nach 1957 dem MfS das Gebäude als Untersuchungs-
haftanstalt der Bezirksverwaltung Magdeburg für politische Häftlinge.
Ich treffe meinen Gesprächspartner Prof. Frommer, den Chef der Magdeburger Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der hier auch viele Gespräche mit ehemaligen Häftlingen geführt hat. Er stammt aus Süddeutschland. Eine Freundin hatte mir mal einen Text von ihm mitgebracht, wo er sich mit den Auswirkungen seiner Migration in den östlichen Teil Deutschlands, mit der Abwehr und Verweigerung transgenerational zu übernehmender Schuld in der 68er Genration und deren Flucht in Leihidentitäten und alternative intellektuelle Herkunften beschäftigte. Mich erinnerte seine Annäherung an eine fremde Kultur und an einen fremden Stamm im Osten, mit dem man sich nun arrangieren mußte, an meinen eigenen Erfahrungen nach der Ankunft in Hamburg. Ich hatte ihn spontan angerufen und besucht, ihm den Clip mit Fuchsberger vorgespielt und um Rat gefragt. So kam es zu mehreren Gesprächen die mitentscheidend waren, daß ich mit der komplexen Materie Psychiatrie-Psychoanalyse zurande kam. Das Kino selbst wirkt von außen nicht sehr einladend, die Fassade verschlissen, das sieht ja aus wie zu Ostzeiten murmelt der Professor. Na, wie läuft die Tour, fragt er. Er hat Kritiken in TIP und ZITTY gelesen, und schaut besorgt. Die waren allerdings wirklich mies, lust- und ideenlos, eigentlich eine Frechheit. Im Foyer des Kinos riecht es etwas modrig. Auf meine Bitte nach einem Bild- und Toncheck reagiert der Vorführer mürrisch. Als der Chef kommt wird der Ton freundlicher. Wir einigen uns auf eine Lautstärke, und sie zeigen mir den Tonregler im Saal. Es sind dann zwischen 25 und 35 Zuschauer. Als ich nach ein paar Minuten versuche den Ton doch etwas leiser zu drehen merke ich, daß ich so viel drehen kann wie ich will, sich aber nichts tut. Der Ton ist anscheinend im Vorführraum in den Rechner programmiert, der Knopf im Saal dient anscheinend nur zur Beruhigung nervöser Regisseure. Ein Placeboeffekt. Lass ihn mal machen, dann beruhigt er sich. Jäh aufsschießende Erregung, dann zusammensacken. Nur nicht nervös werden. Nach Ende des Films bleiben alle im Saal. Mein Gesprächspartner tastet sich langsam vorwärts, er spricht von einem Labyrinth, das der Film sei. Mit vielen offenen Enden. Ein Anti-Amerikanist schaltet sich ein, schnell wird es tagespolitisch, Amerika, TTIP und Naher Osten. Das wird aber von anderen im Saal, weil zu einfach, gestoppt. Eine ältere Frau findet den Film genial. Weil der Schmerz unter der Haut der „subjects“, unter all dem bunten und lauten Showgetöse hör- und sichtbar wird. Die Sehnsucht etwas zu finden, einen Halt in der Leere grenzenloser Räume aus Kommerz und Substituten. Bei letzten Fragen muß die Moderne passen. Damit haben wir jeden Tag zu tun. Sie ist Psychoanalytikerin. Neben ihr sitzt ein älterer Herr, auch Psychiater, der sagt in einer langen, sehr emotionalen Rede dass er zur Generation der Söhne einer paranoiden Nation und Kultur gehört. Es mußten erst die Amerikaner kommen, damit wir Deutschen das begriffen haben. Daß dieses Glück dass der Film zeigt aber schal ist, braucht man nicht zu betonen; das sieht und hört man sehr deutlich. Es ist schal, weil es sich im Additiven des Immer-Gleichen bewegt, der Begriff eines echten Fests ist ihm wesensfremd. Warum lassen wir uns das gefallen, fragt einer. Weil der Unmut eher nach innen geht, in die Resignation, antwortet ihm ein anderer. Wieso war das damals gut, was die Amerikaner taten? Und verursacht Bauchschmerzen, wenn sie das heute, als Technik auf den neuesten Stand gebracht, in anderen Weltgegenden und mit anderen Kulturen tun?
Eine Frau fragt, sie ist die Vertreterin der örtlichen Volkshochschule, wie ich mit dem Film zufrieden bin. Denn der geht ja, je länger er dauert, immer weiter von den eingangs gestellten Fragen weg, entfernt sich ja immer weiter von Antworten. Komisch, es sind nicht Fragen die ich eingangs stelle und beantworten will, sondern ich will drei Geschichten nachgehen. Gut, man kann das als Fragen sehen. Aber je länger der Film andauert, desto mehr Material sammelt (für mich ) der Film, das diese Fragen beantwortet. Nicht im Sinne eines happy end oder who has done it des Krimis, aber im Sinne einer wissenschaftlichen Forschung. Bringe Beispiele. Sie bleibt skeptisch, wirkt nun aber nachdenklich. Dann längerer Streit und Diskussion darüber, was kann und darf die Wissenschaft, und was die Kunst. Es endet mit der Feststellung, daß auch alle gute Wissenschaft mit Fragen endet.

Nach vier Stunden Programm ist es nun wieder kurz vor zwölf, der Tresen ist nicht mehr besetzt, im Umfeld des Kinos sind alle Lichter aus.
Als ich mit dem Kinochef auf der Straße stehe, kommen zwei junge Frauen vorbei, die auch im Kino waren. Frage, wo kann man denn hier in Magedeburg noch ein Bier trinken? Im Jakelwood, wir fahren Sie hin, dort kann man im Freien sitzen. Die eine stammt aus Kasachstan, eine Rußlanddeutsche, vor vier Jahren hat sie das Studium der Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin in Magdeburg beendet. Die andere ist Psychoanalytikerin. Beide sind Assistentinnen von meinem Professor, und arbeiten an ihrer Dissertation. Margaret Mead und deren konkretes politisches Kriegsengagement, auch das von Bateson, ist für sie überraschend. Und deren Beschäftigung mit Fragen eines nationalen Charakters, von Identitätsbildung. Um nach Deutschland zu kommen wurden die Rußland-deutschen streng geprüft, ob sie etwas über deutsche Kultur wissen, die Sprache mußten sie sowieso beherrschen. Sprechen über die Vorbehalte der westdeutschen Linken gegen die Rußlanddeutschen, gegen die vermeintlich damit beabsichtigte Re-Nationalisierung, eine versteckte „Heimholung ins Reich“-Bewegung. Die Unterschiede zwischen Sachsen, Brandenburgern, Thüringern und Anhaltinern. Und zwischen Norden und Süden. Was zählt in einer modernen und globalen Industriegesellschaft? Wer rational, funktional und damit wirtschaftlich erfolgreich ist, muß etwas dafür ab- und hergeben. Leichtigkeit, Emotionalität, Unvernunft. Wenn der Tüftler, Fleißige und Rationale dann in den Urlaub in den Süden fährt, möchte er aber dort ebendiese Eigenschaften vorfinden und genießen, wenn auch nur vorgespielt, oder als Folklore. Wie im Zirkus. Auf Bestellung. An-Aus. Natürlich ist das zum "Ver-rückt Werden". Wenn das Ruhigstellen mit Konsum und Unterhaltung nicht mehr ausreicht, kommen wir ins Spiel, sagt die Psychoanalytikerin und lacht, Prost. Kurz vor eins kommt die letzte Runde. Lustiger Ausklang, zwei Tannenzäpfle und zum Schluß zur Abwechslung mal einen Tequila.

28.05. Hamburg
Oksana schickt mir ihren Text zu Eisensteins „Glashaus“ und seinen Ideen für ein kugelförmiges Buch. Es geht um die Durchsichtigkeit von Gebäuden und
Beziehungen, und auch um die Aufhebung der Trennung von Privatem und Gesellschaftlichem. Zentral scheint der damit verbundene Gedanke der Transparenz. Was mir neu ist sind die intensiven Kontakte Eisensteins zu Psychoanalytikern, als er in den USA versucht sein Drehbuch für "Glashaus" zu realisieren.
In Oksanas Text taucht auch ein Verweis auf Rousseau auf, im Zusammenhang mit Überlegungen zu Häusern aus Glas und Techniken zur Observierung und Kontrolle. Krame im Archiv. Richtig, das helle Tageslicht wurde in der Aufklärung zur Zentral-Metapher des Drangs nach Wissen und Wahrheit. Die u.a. von Rousseau verordnete radikale Transparenz und Durchsichtigkeit galt auch für die Sprache. Denn mit der Sprache kam ja, so dachten die Revolutionäre, die Täuschung, die Falschheit, die Lüge in die Welt. Eine geschickte Spracherziehung sollte Kindern lediglich ausgewählte Zeichen zur Verfügung stellen. Die Zöglinge sollten nicht Wörter erlernen die sie dann mit ihrer eigenen Vorstellung füllten, sondern stattdessen Zeichen und Symbole mit klar umrissenen revolutionären Inhalten. Dafür wurden spezielle Bildlexika und Spiele entworfen. Könnte man nicht heutige Gameshows, oder die elektronische Massenunterhaltung generell, als ebensolche Erziehungshilfen deuten? Als revolutionäre Bildlexika mit klar und leicht erlernbaren Zeichen und Symbolen, die den Katechismus der (permanenten) Revolution spielerisch vermittelten? Shows wie „Price Is Right“ z.B.? Oder aktuellere Formate in TV und online, wo sich wie in einem Labor sowohl die Transparenz und Durchsichtigkeit von Verhalten beobachten ließ und gleichzeitig dessen Lenkung und Kontrolle erproben ließ? War nicht der Übergang von Transparenz zu Kontrolle fließend? Von dem wachsamen Auge im Dreieck, dass sich die Jakobiner anhefteten und der damit verbundenen Kultur des Verdachts (“Loi des Suspects“) über Bentham bis zu zu einer modernen Massengesellschaft, die sich freiwillig und freudig als Überwachungs- und Kontrollobjekt anbot, wenn nicht sogar: aufdrängte?

Am Montag nochmal nach Freiburg. Bin gespannt auf das Gespräch mit Wissenschaftlern der Uni nach der Vorführung im Studentenfilmclub.
Was mir grad einfällt, und was ich Klaus Theweleit bei unserem Gespräch Ende April im Kommunalen Kino hätte fragen sollen: Was hatten die 68er denn zustande gebracht außer mitzuhelfen den Kapitalismus fitter für die Anforderung einer modernen Industriegesellschaft zu machen? Mitzuhelfen, die dafür benötigten Strukturen zu schaffen? Durch ihr Mittun bei der Etablierung von Flexibilität, Interdisziplinarität, systemischem Denken und der Auflösung aller Grenzen und Genealogien das zu beseitigen, was das Funktionieren und die Ausdehnung einer globalen Welt- und Kapitalmarktgesellschaft hemmen würde? Als Virus und Bakterie (vermeintlich) Verkrustetes, Verspanntes, Erstarrtes aufzulösen, um die für diese Ausdehnung notwendige Fluidität herzustellen?
Nach Freiburg dann noch Kleve, Dortmund, Wien und Dresden.

30.05. Freiburg, aka-Filmclub der Universität Freiburg
Gutes Kinowetter, bedeckt, ab und an ein bischen Regen. Die ganze Innenstat ist aufgerissen, das Straßenbahnnetz wird erneuert. Der studentische Filmclub bespielt einen großen Hörsaal in der Uni. Die Halle mit dem Eingang zum Hörsaal ist dunkel, ein paar Stellwände, die leicht ranzige Verkommenheit moderner Universitätsbauten. Im Hintergrund steht einsam eine Henry Moore Plastik. Die Projektion ist schon auf DCP umgerüstet, die Wände im Saal aber nur mit ein paar leichten Leinwandsegeln abgehängt. So klirrt der Ton, und hallt nach. Gut. Langsam füllt sich der Saal. Bin gerührt. Hatte vergessen wie jung und klein die Studenten mit ihren Umhängebeuteln- und taschen sind, die nun ihre 1.50 € Eintritt bezahlen. Schaue mir den Film nochmal an. Überraschenderweise kommen während der Vorführung noch zahlreiche Besucher. Am Ende sitzen ca. 60 Zuschauer im Saal.
Statt Beifall wird mit den Knöcheln auf das Pult geklopft. Als ich nach vorn gehe merke ich, wie die Tour mir zugesetzt hat. Mein Kopf fühlt sich an wie ein ausgeblasenes Ei. Diesen Abend ist meine Gesprächspartnerin eine junge Freiburger Historikerin, die mir bei den Recherchen geholfen hat. Ihr Thema war die Dritte Französische Republik, nun arbeitet sie an ihrem zweiten Buch, und lehrt an der Uni. Ihr Chef mußte leider ansagen, er hatte das ZDF bei der Übertragung aus Verdun beraten, und sitzt nun im TGV fest. Die andere Gesprächspartnerin, eine Kulturwissenschaftlerin und Filmhistorikerin, ist kurzfristig erkrankt.
Die erste Frage kommt aus dem Publikum, von einem Historikerkollegen. Er findet den Film interessant, aber die Struktur zu impressionistisch, zu assoziativ. Irgendwie kritisch, aber ihm fehlt eine klare These, die Wissenschaft würde anders arbeiten. Wie denn? Na ja, eine klare These setzen und dann versuchen, die zu beweisen.
Ein Student fragt nach 68: Wieso wurden die 68er „gemacht“? Und waren nicht Gameshows „autoritär“ strukturiert, und die 68er hatten in der Gesellschaft diese autoritären Strukturen aufgebrochen? Wieder scheinen die Synapsen Begriffe „Re-Education - gemacht sein - Gameshows“ so zu verschalten, daß am Ende rauskommt, mit Gameshows sollte die Re-Education durchgeführt werden. Ihm taucht das 68er-Kapitel auch zu unverbunden auf. Da könnte was dran sein. Die Herleitung mit dem „Großlabor“ und der Übergang zu den „1.500.000“ Babies funktioniert wahrscheinlich deshalb bei einigen Zuschauern nicht, weil das Thema 68 zu stark vorgeformt ist, da kollidiert einfach die übliche Deutung von 68 (Neuwerdung der Westdeutschen, Schub für ein neues Deutschland) zu stark mit der Perspektive des Films. Da haben zu viele Leute zu starke Irritationen. Oder ärgern sich. Quengeln, nörgeln, zerren und nagen deshalb an Zahlen und einzelnen Fakten. „Der Feind ist nur die eigene Frage als Gestalt“, wer hatte das mal gesagt? Und so wird das, was als Nebeneffekt gezeigt wird, 68, auf einmal zu einer Hauptsache. Und bringt die Balance des Films möglicherweise bischen durcheinander.
Eine junge Frau sagt die psychiatrischen Konzepte spielten nach 1945 gar keine Rolle. Woher will sie das wissen? Und die Umstrukturierung der Schulen, Universitäten, des Bildungssystems, nach welcher Blaupause wurde das denn gemacht? Der politische Feminismus, Genderforschung, Familientherapie, die Kunst und und und, das kommt doch aus dem Kreis um Mead und Bateson? Natürlich muß der Patient nach 1945 erstmal in einen Zustand gebracht werden, in dem er als Patient ansprechbar ist. Das dauert. Und sicher hatten die amerikanischen Ortskommandanten keinen Erikson, Bateson und keinen Fromm im Handgepäck. Obwohl, einige schon. In den Clearing Centern. Die junge Frau schüttelt den Kopf. Nein, das reicht ihr nicht. Was hat sie denn, denke ich? Meine Gesprächspartnerin flüstert mir zu daß sie ein Buch über die Re-Education schreibt und dafür Schulbücher nach 1945 auswertet. Hmm, die Idee ist gut, aber was denkt sie, kann sie daraus erfahren - und dann als These ableiten? Ich hatte bei der Vorbereitung des Films auch mit einer Politologin in Freiburg gesprochen, die sich mit der amerikanischen Besatzungs- und Schulreformpolitik in Deutschland und Japan nach 1945 beschäftigt und auch ein Buch darüber geschrieben hatte. Das war aber sehr allgemein, der Prozeß war eben „long range“ und ohne spektakuläre Blitzergebnisse.
Ein Professor, der z.Zt. in Paris lehrt, bleibt hartnäckig bei der Frage ob und wie die westdeutschen Spielshows das Verhalten der Westdeutschen veränderten. Er nennt Kuhlenkampff. Und diese Shows gab es doch sowohl in den USA wie in autoritären Staaten, etwa denen des Ostblocks, gleichermaßen. Widerlegt nicht allein das den Film und seine Thesen? Er will den Film kleinhalten, auf die Spielshows festnageln. Wie darauf vernünftig antworten? All das was der Film zum „amerikanischen Patienten“ erzählt, und das nimmt einen langen Anlauf, scheint nicht angekommen zu sein, oder wird weggeblendet. Ein junger Mann mit wildem Schopf, der sich als Pole vorstellt, fragt ob die Deutschen überhaupt „spielshow“-fähig sind? Die kommen ihm immer so ernst und seriös vor, passt das zu Kant und Hegel? Ja, die 08/15-Stocksteifheit von Fuchsberger und der Casinocharme von Kulhlenkampff berechtigen zu dieser Frage. Und warum fehlt die russische Revolution, bohrt er weiter? Gibt es eine Urkunde für die „Permanente Revolution“, die deren Existenz belegt? So etwas wie die Unabhängigkeitserklärung der USA? Er redet sehr lange, es wird unruhig im Saal. Einige stehen auf und gehen. In jeder Veranstaltung gibt es eine solche Person. (Allerdings: er ist der Einzige der am Ende ein Buch kauft). Merke wie in mir Unwillen und Ärger hochschießt. Warum bin ich so freundlich? Muß ich auf jeden Scheiß eingehen? Warum nicht mal wie Bazon Brock den Frager einfach anbrüllen mit einem „Wer sind Sie denn, mich so etwas zu fragen? Was haben Sie denn vorzuweisen? Haben Sie schon ein Buch veröffentlicht?“
Am Ende sagt eine Studentin, sie sei verwirrt. Überrollt von Namen, Fakten, Theoriekonzepten. Der Zustand fühle sich aber gut an. Eine andere sagt ihr geht die ganze Diskussion in die falsche Richtung, weil zu eng geführt an akademisch verstandenen Fakten, Thesen, Setzungen. Zu sehr von den Rändern, statt vom Zentrum her. Da, im Zentrum, sei der Film für sie wahr. Der eröffne Denkräume in denen sie sich wiederfindet und aufgefordert fühlt sich zu positionieren, auch selber zu recherchieren. Die Frau mit den Schulbuch-Projekt geht. Sie scheint bischen beleidigt. Meine Historikerin hat den Film nun zum zweitenmal gesehen und dabei Zusammenhänge und Strukturen entdeckt, die ihr beim ersten Sehen entgangen waren. Ich denke, dreimal Anschauen wäre nötig. Nur, von wem kann ich verlangen fast neun Stunden Lebenszeit für meinen Film zu opfern?
Dann mit paar Studenten, meiner Historikerin und dem Pariser Professor in ein Lokal hinter dem Theater. Zwei Ganter. Am nächsten Tag wieder über sechs Stunden nach Hamburg zurück. Kopfweh, der Magen, keine Lust aus dem Zugfenster zu schauen. Wie schaffen das Schlagersänger? Monatelang auf Tour zu gehen??

02.06. Kleve, Museum Kurhaus Kleve
Die Fahrt von Hamburg nach Kleve ist auch eine kleine Rundfahrt durch das Ruhrgebiet: Dortmund, Essen, Duisburg, Krefeld, Goch, Weeze, Kleve. Zwischen Duisburg und Rheinhausen eine Kleingartenanlage. In jedem Garten steht ein Fahnenmast an dem eine Nationalfahne hängt, deutsche und türkische. Zähle einen knappe Mehrheit für die deutsche Fahne, wenn auch nur durch Addition je einer Fahne mit Berliner Bär und Preußenadler.

Overgames wird im Museum Kurhaus Kleve gezeigt. Im hinteren Teil des Gebäudes hatte Beuys 1957 ein Atelier angemietet, in dem er u.a. das „Büdericher Ehrenmal“ entwarf, dem aktuell eine Sonderausstellung gewidmet ist. Auf den Fotos die Beuys bei der Arbeit und beim „posen“ im Atelier zeigen sieht er aus wie Buster Keaton. Das Museum ist als Ort für eine Vorführung von Overgames auch deshalb gut gewählt, weil sich durch den Klever Adeligen Jean Baptiste Cloots, 39-jährig in Paris guillotiniert und durch sein dreimaliges Grüßen der Guillotine (Saluer à la Prussienne) revolutionsgeschichtlich berühmt, ein roter Faden zum Kapitel Fest des Höchstens Wesens und der Revolutions-
geschichte im Film knüpfen läßt. (Beuys hatte Cloots 1972 eine Performance gewidmet und dessen Büste war auch Teil der Installation „Straßenbahnhaltestelle“ auf der Biennale 1976 in Venedig, wie ich aus dem schönen Katalog zur Ausstellung erfahre).
Overgames wird als Blue Ray vorgeführt, unter provisorischen Bedingungen.
Ein Technikcheck ist nutzlos weil es 18:00 noch viel zu hell ist. Der Ton kommt über zwei Boxen die vor der blanken weißen Wandfläche stehen auf die der Film projeziert wird. Davor stehen Holzstühle, mit einem Sitzkissen provisorisch für die fast drei Stunden Film aufgepolstert. Es kommen 17 Zuschauer. Das Bild ist flau und wird erst erträglich, als es nach zwei Stunden draußen dunkel wird. Die beiden Tonboxen sind nicht gut eingepegelt, so daß die Musik im Verhältnis zur Sprache einen Tick zu laut ist. Wir sind nicht im Kino.
Die (für mich) interessanteste Frage kommt gleich zu Beginn der Diskussion nach dem Film. Eine junge Frau, später weist sie sich als Psychologin aus, hat den Film mit den kleinen Affen und der Ersatzmutter aus Draht während ihres Studiums gesehen. Der hat sie damals traumatisiert, als 23jährige. Wieso setze ich den Film im Zusammenhang mit den Studien des Kommittees für Nationale Moral ein? Paßt das denn zeitlich zusammen? Oder ist das „assoziativ“ montiert? Gute Frage. Ist es das? Und wenn ja, warum? Ihre Frage berührt mehrere komplexe Dinge. Zum einen: Was tun, um Bilder für einen sehr komplexen Zusammenhang von Personen, Ideen und Theorieansätzen zu finden, um den in der mir im Film dafür zur Verfügung stehenden (sehr knappen) Zeit mit Text und Bild darzustellen? Also das Umfeld von Mead und Bateson nach der Rückkehr aus Bali, wo versucht wurde kriegstaugliche Konzepte zu entwickeln, mit abzubilden? Zum anderen deutet die Frage nach der „assoziativen Montage“ möglicherweise einen leisen unterschwelligen Verdacht des Manipulativen an, des Zurechtbie-
gens von Fakten für eine bestimmte Autorenperspektive.
Ich muß nachdenken, und habe nicht gleich eine Antwort parat. Was legitimiert meinen Einsatz von Text und Bild? Was mir schnell einfällt ist die Erinnerung an einen Briefwechsel zwischen Mead und Harlow. Aber meine Antwort ist ist nicht richtig, wie ich am nächsten Tag beim Nachschlagen in meinem im Rechner mitgeführten Archiv feststellen muß.
Das „Committee for National Morale“ war 1940 von dem Kunsthistoriker Arthur Upham Pope, einem Experten für persische Kunst, gegründet worden und Mead und Bateson schon bald dabei. Und nicht nur sie, sondern auch viele Wissenschaftler des sich in den Jahren zuvor gebildeten Netzwerks um Mead von Ruth Benedict bis Kurt Lewin, das sich nun um kriegswichtige Resourcen wie Moral, Durchhaltwillen, Angriffsgeist und charakterliche Stärke zu kümmern beginnt. Neben einigen Studien zu diesen Themen legt Mead 1943 eine Monographie unter dem Titel „And Keep Your Powder Dry“ vor Eine der Thesen des Buchs ist: Eine Demokratie mußte sich verteidigen können. Denn „...zu allen Zeiten in der Geschichte eines Volkes (-) ist es wichtig, wie ein Volk sich zum Problem des Angriffs stellt (-) Als ich 1931 Amerika verließ, waren die Auswirkungen der Depression im wissenschaftlichen Denken Amerikas noch nicht zu spüren. (-) Als ich 1939 zurückkehrte, beherrschte das Thema „Angriff“ das Denken. Analytiker, Soziologen, Psychoanalytiker – alles unterhielt sich über den Angriffswillen und dessen Antrieb…(-) Aber Angriffswille zeigte sich im Wesen der Amerikaner sekundär als Erwiderung, nicht als primärer Trieb…“. Dann folgt eine langwierige Erklärung über das Erziehungsverhalten bei Raufereien, fair play, Streit anfangen, provoziert werden usw. und das Eingeständnis (Tuch auf der Schulter) Japan zum Angriff auf Pearl Harbour provoziert zu haben, um endlich aktiv in den Krieg eintreten zu können. Denn die Ursache für den jetzigen Krieg wird im Versagen der Eltern der jungen Soldaten gesucht „…die es 1919 versäumt haben, den Kampf für eine neue, nach amerikanischem Muster gestaltete Werteordnung im alten Europa zu Ende zu führen, sich zu früh aus Europa zurückzogen und so den Deutschen Gelegenheit gaben, erneut einen Krieg anzuzetteln.“ Diese Generation von Eltern trägt für Mead auch die Schuld an der Depression in Folge der Weltwirtschaftskrise 1929. Dieser Fehler soll sich nicht noch einmal wiederholen.

„Diesen Krieg“, schreibt Mead weiter, „müssen wir nur als Auftakt betrachten zu der noch größeren Aufgabe, die wir nun in Angriff nehmen wollen: die Umgestaltung aller Kulturen der Welt. Diese Umgestaltung ist die Aufgabe Amerikas weil wir davon überzeugt sind, dass Amerikaner besser dafür geeignet sind als irgendein anderes Volk.“ Konkret ging es zunächst aber um „Moral building devices at home – moral breaking devices in Germany“.
Klar schien, der Schlüssel zum Nationalcharakter liegt im Erziehungsstil (Ernst Fromm, Erik Erikson), und war vor allem in der frühkindlichen Prägung des jeweiligen Volkes zu finden. Deshalb konzentriert man sich bei der Forschung auf kriegsrelevante Seiten des Nationalcharakters auf Punkte wie: Einstellungen zu Sieg und Niederlage, relative Stärken und Schwächen, Urteile über "wahr" und "falsch", Dominanz und Unterwürfigkeit, Erfolg und Mißerfolg, Erwartungshal-
tungen gegenüber Tod und Überleben in Schlachten. Die Überlegung ist, hat man erst einmal den Nationalcharakter eines Volkes heraus-"destilliert", so ist es im folgenden möglich, Vorhersagen über dessen Verhaltensweisen zu treffen, und die entsprechenden "Charakterschwächen" der Kriegsgegner militärtaktisch und in der Feindpropaganda auszunützen. Das ethnologische Studium des Nationalcharakters mündete also unmittelbar und anwendungslogisch in die psychologische Kriegsführung.
Ich stand nun vor der Aufgabe, sowohl für diese Versuche die eigene Moral und den Angriffswillen der jungen amerikanischen Soldaten zu stärken wie die Sorge über deren eventuelle Ungeeignetheit oder Weichheit zum Kampf (wegen der falschen Erziehung) Bilder zu finden. Und dafür schienen mir der kleine Junge, dem das Spielzeug weggenommen wird und sich nicht zu wehren weiß, der weint und von der Mutter getröstet wird und die Bilder von den Experimenten Harry Harlows wo kleinen Affen Angst gemacht wird und die Schutz bei der (Ersatz-) Mutter suchen, nicht falsch. Margaret Mead wußte mit großer Wahrscheinlichkeit von den Versuchen Harry Harlows in seinem Primaten Labor in Wisconsin. Denn einer ihrer engen Freunde und Kollegen war der Psychologe Abraham Maslow (Maslowsche Bedürfnishierarchie, "Dominance-feeling, behavior and status." Psychological Review 44 (1937) der als junger Wissenschaftler in dem in den 1930ern gegründeten Labor von Harlow gearbeitet hatte. Dort sollte die Beziehung von Mutter und Kind und dessen Lernverhalten unter extremen Bedingungen untersucht wurden. Auch hier ging es um den Zugriff auf Babies, und ich dachte natürlich auch daran daß Babies in meinem letzten Kapitel auftauchen würden. Einen direkter Kontakt oder einen Briefwechsel zwischen Mead und Harlow konnte ich für die Zeit 1940-1943 allerdings nicht nachweisen. Dazu kam es aber 1961, bei einem Workshop an der Menninger Klinik in Topeka an dem neben Konrad Lorenz auch Mead, Harlow und Friedrich Hacker teilnahmen. Filmausschnitte von Experimenten des Primat Lab von 1942-1943 gibt es und ich hatte auch lange danach gesucht, aber leider nichts gefunden und mußte die Suche dann leider aus zeitlichen (und finanziellen) Gründen abbrechen. Meine Ausschnitte in Overgames datierten aus einem 1958 entstandenem Film. Ja, so gesehen war das eine assoziative Montage, zu der ich mich nach langer Überlegung entschlossen hatte.


Was gab es noch in der Diskussion? Einer fragt ob nicht das psychiatrische Konzept der Re-Education als gescheitert betrachten sei, wenn in der französischen Spielshow von der Zimbardo spricht, statt 60% wie bei Milgram nun 80% den tödlichen Stromstoß verabreichen? Ja, darüber läßt sich nachdenken. Auch wenn Zimbardo nicht erwähnt (oder wußte), daß diese Show eigentlich ein Fernsehfilm mit wissenschaftlicher Begleitung war, der dem Saalpublikum als echte Gameshow verkauft wurde. Aber die Ergebnisse der Versuchsanordnung waren so wie Zimbardo das wiedergibt. Hier schließt sich eine Diskussion an, ob wissenschaftliche Konzepte (Therapeutic Peace) auch Wunschergebnisse zeitigen können, wenn Teile der Konzepte falsch sind, z.B. die von den Psychiatern verwendete Freudsche Definition von Paranoia (anhand des Falls Schreber)? Wenn da was klappt, ist das dann Zufall, Glück, Vorsehung? Was sicher funktioniert wissen wir: Skinner und Pawlow. Reiz-Reaktion. An-Aus. Wie beim Computer.
Dann kommt noch eine fundamentale Kritik an der Musik (Dahinplätschern, monotones und überflüssiges Nebengeräusch) von einem emeritierten Designprofessor. Abgesehen davon daß die Musik bei der schlechten Wiedergabe garnicht zu beurteilen war: Fast niemand hört, daß es eine Metakomposition über den 4.Satz der 9.Symphonie von Beethoven ist, eine harmonisch und motivisch fortschreitende Musik, die nicht leitmotivisch sondern über Klangfarben ein „underscoring“ unter den Bildern und Texten betreibt. Das er-hören nur ganz wenige Zuschauer. Genauer: Bisher zwei. Dann ist Schluß und das Publikum zerstreut sich in die Nacht von Kleve. Der Museumsdirektor und seine Frau laden noch zu einem Absacker ein. Leider kommt das Gespräch nochmal im Schwung, was den Gastgeber dazu verleitet „den guten“ Whisky hervorzuholen. Ein Fehler, wie ich gegen zwei Uhr im Hotel feststelle. Der Kopf dreht wie lange nicht mehr. Dann doch schnell eingeschlafen.

07.06. noch Hamburg
Heute für zwei Tage nach Dortmund. Habe Motivationsschwierigkeiten. Also weißt Du, sagt meine Frau, ich versteh das nicht. Du hast das doch so gewollt. Nun stöhnst Du jeden Morgen schon nach dem Aufstehen, daß Du nicht motiviert bist, daß Dir alles zu viel ist, daß diese Tour-Tretmühle nervt weil niemand den Film versteht, und das mit einer Leichenbittermiene als wenn Du Dich gleich aus dem Fenster stürzen möchtest.
Sie hat recht. Also los. Wie war das vor einigen Jahren als ich dachte: Was, noch fünf Jahre bis zur Rente an der Kunstakademie als Professor dahindämmern? Da muß noch mal was passieren. Und dann sah ich im Fernsehen wie Handke bei einem Waldspaziergang mit Gero von Böhm einen Vergleich zwischen uns Zeitgenossen und den Künstlern des 17. und 18.Jahrhunderts zog, wie klein wir denken und versuchte durch Körperbewegungen mit ausgebreiteten Armen die verlorengegangene Dimension anzudeuten. Ja, dachte ich vor meinem Fernseher, das ist es. Nochmal versuchen, etwas Abgeschlossenes, Gültiges, Großes zu formulieren, tief durchzuathmen und den Berg anzugehen und zu schauen, wie weit man kommt.

Im Zug öffne ich einen Brief der gestern im Briefkasten lag. Vier Seiten harsche Kritik des Films, der die Briefschreiberin nicht erreicht hat. An ihr vorbeiging. Was ist so spektakulär an Fuchsbergers Erzählung, fragt sie? Warum sollen Spiele für Verrückte nicht auch für Normale geeignet sein? Unterscheiden wir uns so sehr von denen? Die kleinen Leute die diese Gameshows so sehr lieben versteht sie noch am ehesten im Film. Verrückerweise, schreibt sie, wußte ich nach Ende der Vorführung aber nicht einmal warum der Film so an mir vorbeigegangen ist und ich immer wieder ausstieg. Ja, „Das Netz“, „Das Meisterspiel“ oder „Zeit der Götter“, da war alles großartig, die hatten sie fasziniert, sogar begeistert. Hier dagegen: Schnitt hin und wieder schluderig, Kamera unterschiedlich in der Qualität, Sprecher nicht ideal, Sprecherin verzichtbar. Doch auf der fünften und letzten Seite des Briefs erzählt die Schreiberin plötzlich eine kleine private Geschichte. Wie sie als intelligentes, hochbegabtes Kind in den Sommerferien zur Tante geschickt wurde die eine Hilfsschule leitete. Und sie, dass 11-jährige „schlaue“ Kind merkte nicht daß alle anderen „blöd“ waren, hatte unter denen mehrere Freundinnen, verstand sich mit denen prächtig und fühlte keine Überlegenheit, so wie die neuen Freundinnen auch keine Unterschiede bemerkten. Ja, schreibt sie, merkwürdigerweise hat mir das Kapitel Bali im Film die Erinnerung an diese Geschichte beschert.

07.06. Dortmund, Seminar in der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Design

Seminar mit Studenten der Klasse für Tongestaltung und einigen Regiestudenten zusammen mit dem Komponisten Jörg Lensing, der seit „Herakles Höhle“ die Musik für meine Filme gemacht hat. Zeige Filmausschnitte, spreche über meinen Werdegang und die Perspektiven die ich für den Dokumentarfilm sehe. Vor mir ca. 40 Studenten am Anfang eines Weges der für mich so gut wie abgeschlossen ist, sieht man von Aufräumarbeiten ab. Wo sollen die mit ihrer Energie hin? Wie kann und wird sich ihr kritischer Impuls (so überhaupt vorhanden) „der dem ganz Anderen, dem Anti-Cäsar, Bild und Wirklichkeit verleihen kann“ (Overgames) äußern?

Abends Vorführung von „Das Netz“ im Kino im U. Wir versuchen es nochmal mit der 35mm-Kopie, und es geht gut. Das Kino kann den Film mit 25 Bildern abspielen. So klingt die Mischung ganz ordentlich. Dann eine Stunde Diskussion. Der Film läuft im Rahmen der Ausstellung „Whistleblower & Vigilanten. Figuren des digitalen Widerstands“ im Hartware Kunstverein. Das Bild von Ted Kaczynski auf den Plakaten für die Ausstellung hat Protestanrufe und Emails provoziert. Die Figur des „Unabombers“ und die Frage der Legitimität des Einsatzes von Gewalt steht auch im Mittelpunkt der Diskussion nach der Vorführung. Wo endet der Diskurs, und wann beginnt Terrorismus? Aber es gibt auch Wortmeldungen die den Blick auf das Netzwerk der Propheten einer Welt als „offenes System“ lenken, und die Verflechtung von Wissenschaft und Politik in den USA kritisieren: Eine uneingeschränkt dienende Wissenschaft, maskiert als „freie Wissenschaft“. Gefragt wird ob der Film nicht zu sehr auf Einzelne abhebt, so das Prozeßhafte unterschlägt, statt das Vielfältige und die Ausdifferenziertheit dieser Prozesse zu zeigen. Bietet nicht unsere Demokratie und eine Gesellschaft als offenes System Chancen, wo das Ausbalancieren von Interessen möglich ist? Verwiesen wird auf den Film „Democracy“. Aber der zeigt doch eher ein Zerrbild von Demokratie, kommt ein Einwand, und fordert zur Kritik an den demokratischen Verfahren heraus. Eher etwas für EU-Kritiker.Dann immer wieder die Anbindung an das Thema der Whistleblower-Ausstellung. Eine Frau sagt: Was der Unabomber 1970 im Manifesto geschrieben hat, dafür lieferte Snowden dann Jahrzehnte später die Fakten, Belege, Daten und Zahlen. Aus feministischer Perspektive wird noch angemerkt, daß „Das Netz“ ein Männerfilm ist. Stimmt, bis auf eine Frau (im Rang eines Generals allerdings) habe ich auf allen Gruppenfotos der Computerpioniere keine weitere Frau gesehen. Die Frauen waren „Weberinnen der Netze“, die mit geschickten Händen die dünnen Kabel verknüpften. Aber als wir 2002 das Computermuseum in Mountain View besuchten trat gerade eine junge Wissenschaftlerin ihre Kuratorenstelle an die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Anteil von Frauen in der Geschichte des Computing zu erforschen.

08.06. Dortmund, Kino im U
Bin eine halbe Stunde vor Beginn da und wir machen den Technikcheck. Vorgeführt wird die DCP die in Mainz Probleme bereitet hatte, das Bild war viel zu dunkel und der Beamer mußte per Hand über das Menü nachjustiert werden. In Dortmund sieht das Bild tadellos aus. Allerdings, in Mainz war der Ton fast mit der Mischung identisch, so wie ich sie im Tonstudio abgenommen hatte. In Dortmund klingt der Ton seltsam. Der Sprecher, der über die Centerbox kommt, ist zu laut im Verhältnis zur Musik, und auch das seperat angelegte Klacken der Shows ist zu leise. Die Abstimmung der Boxen scheint nicht zu stimmen. Wir haben noch paar Minuten Zeit bis zum Einlaß und die Vorführerin versucht nun schnell durch Dimmen der beiden Spuren mit der Musik und anschließendem Hochpegeln aller Boxen eine bessere Abstimmung zu erreichen. Die der Mischung nahe kommt. Ich sitze in der Mitte des Saals und sie dreht auf mein Arm hoch oder runter in ihrem Vorführraum an den Knöpfen. Das ist kurios. Die Technik der Tonstudios ist genormt und wird von der Firma Dolby ständig überprüft und gewartet, ebenso sind die Systeme der Postproduktionsfirmen auf international gültige Standards vermessen, die zu gleichen Farbwerten und Bildformaten führen sollen, und auch die Vorführtechnik der Kinos wird ständig geprüft und gemessen. Dieses Gleichheitsversprechen kostet alle Beteiligten viel Zeit und Geld. Aber im Ergebnis sehe und höre ich bei 30 Vorführungen in Bild-, Format- und Tonqualität mal mehr oder weniger große Abweichungen von der Norm, bis hin zum Inakzeptablen. Was ist da los?

18:30 Uhr, im Saal sind knapp 30 Zuschauer, ein vorwiegend junges Publikum. Die Diskussion beginnt gleich mit einer Fundamentalkritik. Der Film inszeniere inakzeptable Wirkungszusammenhänge, die nicht wissenschaftlich seriös belegt werden. Alles ist doch viel komplexer, Widersprüchlicher, Detaillreicher. Seufzen im Publikum. Noch Detailreicher? Dabei wissen doch alle (oder sollten es wissen) daß es nichts Vollständiges gibt, geben kann. Eine Frau möchte mir eine Brücke bauen und fragt ob ich vielleicht „künstlerische Forschung“ betreibe, also die strenge Elle der Wissenschaft garnicht angelegt werden kann. Weil es Kunst ist? Kunst und Wissenschaft, ein Modethema seit etwas zehn Jahren, eine nachholende Mode zum amerikanischen Modell des „art and science“ in den 1970ern, des „art and science business“, wie es Jack Burnham nannte bevor er ausstieg. Versuche zu erklären daß ich, wenn ich in der Library of Congress sitze und in den Akten des State Department lese nichts anderes mache wie die vielen alten und jungen Wissenschaftler um mich herum. Wir alle müssen aber der Dramaturgie folgen, nach der Harley Notter, ein vom St. Dept beauftragter Beamter, die Akten aufbereitet hatte bevor sie für Studienzwecke und Recherchen zur Verfügung gestellt wurden. Nur mache ich aus meinem Material einen Film, und die anderen Kollegen schreiben ein Buch, eine Dissertation oder einen Vortrag. Und jedes Medium hat eigene Verkürzungszwänge. Einen Studenten beunruhigt das „Re“ in „Re-Education“. Den Begriff ernst genommen ging es ja garnicht um eine Neuwerdung, sondern um ein „zurück“. Aber zurück wohin? Wieder kann die Antwort nur der Verweis auf die Analyse des deutschen „Knacks“ sein, die von den amerikanischen Psychiatern und Soziologen 1943 vorgelegt wurde. Die sahen die Ursachen im nicht geglückten Übergang der Deutschen vom Mittelalter in die Neuzeit. Im Ausbleiben eines eigenen Staates und im Überleben feudaler Haltungen und Werte die in der aufkommenden industriellen Moderne nur leicht modifiziert wurden. Es ist noch zu viel Mittelalter in den Deutschen, stellten die Analysisten fest. Was, zurück bis zum Mittelalter geht es? Pfhh, die Studenten schauen ungläubig. Oder ging es um "Neu"- Erziehung, also nach vorn, fragt eine? Aber was ist denn dieses "Vorn"?
Einer fragt ob ich die Methoden und die Ergebnise der Re-Education moralisch gut finde. Tja, was war denn 1945 ansonsten im Angebot? Maos oder Stalins Varianten? Dieser "Therapeutic Peace" (Mead) war wahrscheinlich der Laternenpfahl an den sich der Betrunkene klammert in Ermangelung von Alternativen, frei nach Harold Lasswell, siehe mein kleines Büchlein zum Film. Und funktioniert hat es ja, wie die Ausstellung über die „„Whistleblower & Vigilanten. Figuren des digitalen Widerstands“ nebenan im Hartware Kunstverein bestätigt. Vordergründig erzählt die Ausstellung von den verzweifelten Versuchen internationaler Künstler und politischer Aktivisten einem Golem Zügel anzulegen, der seine universale Fitness auch einigen der Ideen verdankt, die in den Re-Education-Konzepten enthaltenen sind. Es ist erstaunlich, wie kontextlos die in der Ausstellung vorgeführte technisch mögliche Weltweitüberwachung gesehen wird. Nicht als logische Konsequenz von Modernisierung und im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Aufklärung und Demokratie, sondern eher als jungfräuliche Geburt. Im "FLOOR PLAN" der Ausstellung werden die unterschiedlichen Vorstellungen von Recht und vor allem vom Recht zum Widerstand gegen Überwachung und Kontrolle in Sektionen eingeteilt, denen jeweils ein Logo zugeordnet wird. Für die Sektion "Naturrecht" wird als Logo das Dreieck mit dem Auge verwendet. Das Auge der Vorsehung, das Gottesauge. Dieses Zeichen hefteten sich die Jakobiner ans Revers - als Zeichen der Wachsamkeit. Das Auge sieht - und wacht! Wachsam beobachtet die Revolution ihre Gegner.
Ein Hauptvorwurf ist allerdings wieder die Sicht auf ´68 und auf die damit verbundene - im Film bestrittene - "revolutionäre" Selbst-Neuerfindung und das Gewordensein aus eigener Kraft. Das wird von einem Diskutanten kurzweg als Rundumschlag eines Ostlers zurückgewiesen. Erklärbar nur durch Unwissenheit, bedingt durch das Aufwachsen in einer Diktatur und fehlende Erfahrung mit Demokratie. Auf Hitler folgte Stalin. Verständlich durch das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit totalitären Strukturen, weil immer nur in solchen gelebt und gedacht werden konnte. Die Studenten, einige waren während seiner langen Suada schon weggenickt, merken auf. Ich achte auf eine Studentin, die mir schon gestern im Seminar durch gute Reaktionen aufgefallen war. Wenn sie wach ist, gar lacht wenn ich was sage, bin ich beruhigt, dann scheint o.k. was ich erzähle. Aber hat nicht der Osten, frage ich zurück, das schwerere Los gehabt, weil den Leuten dort die schnelle Entschuldung, die Behandlung als Patient im Entspannungsbad des Wirtschaftswunders versagt (oder erspart?) blieb? Ein Entspannungsbad mit und ohne Spielshows, wo die Patienten während der Therapie eine Geschichte vergessen durften, an die im dürren Alltag des Ostens ständig erinnert wurde? Und war nicht die konkrete Erfahrung einer Diktatur wichtig und nützlich für eine Skepsis gegenüber leeren politischen Werbebotschaften und Versprechungen? Und so brechen im folgenden hin- und her des Disputs Konfliktlinien auf die meist in Sonntagsreden zugekleistert werden. Differenzen zwischen Hybriden, von Halb-Westlern aus Ost und West, die lediglich in ihrer inneren Zerissenheit und Unerlöstheit vereint scheinen. 23:00 Uhr, Ende der Debatte. Das Publikum zerstreut sich zufrieden, im Foyer stehen noch kleine Grüppchen die weiter diskutieren. Dann wieder entspannter Ausklang mit Kinochefin und der Kuratorin der Ausstellung im Pfeffersack neben dem Hotel. Gestern nur Apfelschorle, heute mal zwei Dortmunder Pils.

Nun eine Woche Pause, dann mit "Das Netz" und "Das Meisterspiel" nach Wien, und zum Abschluß der Tour nochmal nach Dresden.

20.Juni Wien

Ich war lange nicht in Wien. Was auffällt: Eine Stadt mit richtigen Häusern!
Nicht nur Kaffeémühlen mit einem Gerippe aus Stahlbeton und vorgehängten Glasgardinen. „Das Meisterspiel“ und „Das Netz“ laufen neben 38 weiteren internationalen Filmen in der Filmreihe „TERROR IM BLICK: POLITIK MACHT KINO" im Filmarchiv Austria. Die Filme werden im Kino Metro gezeigt, einem umgebauten Theater, einst das Lieblingstheater von Helmut Qualtinger. Nach der Insolvenz der Betreiber übernahm 2002 das österreichische Filmarchiv das Kino. Der große Saal, in dem die Filmreihe läuft, hat Platz für 160 Zuschauer, es gibt einen Oberrang und Logen im Parkett. Das Filmarchiv hat mir eine Gästewohnung in einem ehemaligen Winterpalais in der Nähe des Kinos angemietet. Ein riesiges Haus mit Innenhof und anscheinend ins Nirgendwo führenden Gängen, Treppenaufgängen und Zwischengeschossen. Male mir eine Karte um nachts den Weg zurück zum Zimmer zu finden.


Heute läuft „Das Meisterspiel“ (1998). 18 Besucher. Mir ist der Ton zu laut. Nein, sagt die junge Kinobetreuerin, lassen Sie mal, für das ältere Publikum ist das gerade recht. Habe den Film lange nicht gesehen. Vorgeführt wird eine Digital Betacam-Kassette. Das Band ist nun 18 Jahre alt und hat einen Dropout. Da werden sicher bald noch einige dazukommen. Die beschädigten Bilder und Töne zu reparieren ist nicht billig. Bin unzufrieden mit meinem Kommentartext, ein paar verpatzte Übergänge, die inszenierte Szene im Café unbeholfen. Erinnere mich dann an den Zeitdruck unter dem in Wien und im Atelier, die Atelierszenen, gedreht wurden, an die Blackouts vor Erschöpfung. Der Text schien damals das geringste Übel. Extremer Zeit- und Gelddruck, nur Fertigwerden, damit das Material ins Kopierwerk und ins Tonstudio kam.
Die Diskussion nach der Vorführung kreist zunächst um die Frage: Hat Arnulf Rainer seine Bilder selbst übermalt? Einer sagt, im Vergleich mit „Das Netz“, der auch in der Reihe läuft und den die meisten der Anwesenden kennen, wirkt „Das Meisterspiel“ wie aus dem 19.Jahrhundert. Auch das Personal von links und rechts, irgendwie ältlich, aus der Zeit gefallen. Ja, ein Kostümfest mit alten Fetzen aus dem Fundus. Einerseits. Andererseits sagt eine Frau, die Professoren an der heutigen Kunstakademie kommen alle aus Generationen, die gleich sozialisiert und erzogen wurden. Stromlinienförmig. Es fehlen die Risse und Brüche der Generation von Weibel und Rainer. Die sich mit dem plagen mußten, worauf sie in ihrer Kindheit und Jugend trainiert und dressiert wurden. Das steckt immer noch in denen drin, sagt einer, dieses zu einer Elite gehören, zur Führung berufen zu sein. Auch die Härte dieser Erziehung. Was ich persönlich von Arnulf Rainer halte? Ein Bauernjunge der sich in der Metropole durchsetzen will und muß. Arnulf von Kärnten, deutsch-römischer Kaiser.
Hier gibt es auch eine Verbindung zum Film „Overgames“, der leider in Wien noch nicht zu sehen war. Diese historisch bedingten Schichtungen sowohl in der Biografie des Landes wie der Personen werden in den „getürkten“ und echten Spielen, die „Das Meisterspiel“ vorführt, „überspielt“. Um der Welt ein Österreich vorführen zu können, daß nun antifaschistisch, demokratisch, neu und Teil des Westens sein will und kann. Und für diese Vorführung wird auch das Schaufenster (Spielfeld) der Kunst genutzt, siehe die Episode "Rainer-Museum Guggenheim". Daß einige der Exerzitien teilweise rein katholische Muster kopieren stört nicht, wenn es der Fluidität dient.
Ein anderer sagt, der junge Gudenus (einer aus Böhm-Ermollis „Konservativem Klub“ und nun Vizebürgermeister für die FPÖ in Wien) war gerade als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch. Nach den Interviewaufnahmen in ihrem Film scheidet der wohl für immer als Kandidat für dieses Amt aus. Widerspruch als ich auf „Das Netz“ und „Overgames“ verweise wo vorgeführt wird, welche Kräfte die eigentliche Entwicklung bestimmen. Ist Österreich nicht seit Ende der 1980er Jahre der Vorreiter eines europäischen und rechten Rollbacks? Und, wenn stimmt daß schon Haider mit dem Vater von Marie Le Pen versucht hat eine rechte europäische Allianz zu schmieden und ist das Frühlingsfest der Rechten in Österreich vergangene Woche mit Vertretern von neun europäischen Rechtsparteien nur eine Wiederholung. Nach 18 Jahren. Aber muß man sich nicht doch Sorgen machen daß wie kleine Flämmchen immer wieder die gleichen Träume und Wünsche aufzüngeln? Denke an die in die Fassadengestaltung eingeschmuggelten kleinen heidnischen Figuren und Symbole an der Portalseite des Stephansdom. Ja, so gedacht wäre es tatsächlich beunruhigend. Eine junge Frau fragt nach den Alternativen, wenn links und rechts nichts im Angebot haben für einen libertären, egalitären und, sie sagt „menschlichen“, Lebensentwurf, wie ihr das beide Filme erzählen. Gendering- und Regenbogensymbolik kann doch nicht alles sein. Sie ist Deutsche und lebt seit 15 Jahren im österreichischen „Ausland“, wie sie es nennt. Hier, speziell in Wien, sind alle im Nahkampf miteinander verstrickt. Und wie schnell das geht, wenn etwas anscheinend den Lauf der Dinge zu stören beginnt. Sie verweist auf die Affaire um den Berliner Netzaktivisten Jacob Appelbaum, der nach Vorwürfen wegen mehrfachem sexuellen Mißbrauch das Verschlüsselungsprojekt Tor, das Snowden-Vorzeigeprojekt "Freedom of the Press" und das Hackerkollektiv "Cult of the Dead Cow" verlassen mußte. Aber, wenn etwas wie die FPÖ sich so kontinuierlich entwickeln und etablieren kann, heißt das nicht vielleicht auch, es erfüllt bestimmte Funktionen im Ausbalancieren von Spannungen in der Gesellschaft? Ist also garnicht nicht störend, sonder strategisch nützlich?
Für eine Politik der Spannungen? Wien ist die Welthauptstadt der Spione und internationalen Konferenzen, wirft einer ein. Kaum zu glauben daß da etwas unbeobachtet geschieht.
Für „Das Netz“ hatte ich auch den Wissenschaftsmanager Robert Taylor interviewt. Lachend hatte der mir erklärt, daß er, obwohl davon überzeugt daß es fachlich Unsinn ist, auch die Forschungen für künstliche Intelligenz (KI) am M.I.T. mitfinanziert hatte. Weil, während auf der Vorderbühne die KI-Show lief, konnten seine Ingenieure in aller Ruhe im Hintergrund an den wichtigen Entwicklungen arbeiten.
Wie leicht es auch heute scheint, jemanden der stört aus dem Verkehr zu ziehen. Ein anonymer Hinweis im Netz, ein Steuerbeleg, ein Paragraph.
Ich verweise auf die zur Verfügung stehenden Gesetze. Wenn Reinhold Oberlercher, einer der rechten Aktivisten in „Das Meisterspiel“, sich öffentlich „wiederbetätigt“, wird aus seiner Bewährungsstrafe eine Haftstrafe und er muß Mahler im Gefängnis Gesellschaft leisten. Wieviel „Identitäre“ gibt es denn in Wien, fragt einer? So um die dreißig, sagt der Kurator.
Mich erinnert die Diskussion an das was ich bisher mit „Overgames“ erlebt habe. Strukturell scheint sich seit 1996-98 nichts Wesentliches geändert zu haben, nur verschärft, im Tempo, und Strukturen treten klarer zu Tage.
Mit dem Kurator und einer Wiener Künstlerin noch zum Absacker in einen Freisitz an der Wiener Kunsthalle. Sie hat sich acht Filme der Reihe angeschaut. Tolle Filme allesamt, aber an keinem dieser Abende waren mehr Besucher im Kino wie gerade eben. Darauf zwei Ottakringer und einen Trester.

24.Juni, im Zug nach Dresden
Ein ehemaliger Student und Meisterschüler von mir lebt nun mit Familie in Virginia, in Rhode Island. Er hat gerade im Goethe-Institut in Washington eine Ausstellung gehabt und dort von meinem neuen Film erfahren, wie er mir per Skype mitteilt. Ich solle ihn unbedingt mal besuchen. Denn in Rhode Island befindet sich mit Fort Kearny eines der größten Kriegsgefangenenlager im Zweiten Weltkrieg. Und hier war auch das das Hauptquartier für Umerziehungsprogramme für deutsche Kriegsgefangene, die sogenannten POWs.
Ja, ich erinnere mich, mir war das Camp im Zusammenhang mit Brickner und seinen Paranoia-Theorien aufgefallen. Im Sommer 1944 ließ die amerikanische Regierung ein geheimes Re-Education-Programm für die 380.000 deutschen POW´s in den USA entwickeln. 1945 begann eine Gruppe Amerikaner zusammen mit ausgesuchten deutschen Kriegsgefangenen, alle antifaschistisch eingestellt und Intellektuelle, Material verschiedenster Art zu entwickeln, das für die Re-Education der deutschen Soldaten und Offiziere geeignet und für die Schulung der als Militärpolizisten im besetzten Deutschland vorgesehenen Amerikaner geeignet schien. Das Hauptquartier der Gruppe war im Oktober 1944 in Camp Van Etten, das dann nach Fort Kearney (Rhode Island) verlegt wurde.
Die Hauptaufgabe der Gruppe war die Herausgabe der deutschsprachigen Zeitschrift „Der Ruf“, die zweimal im Monat erschien, und an dem auch Alfred Andersch und Hans Werner Richter mitarbeiteten. Eigentlich war die spätere Gruppe 47 hier gegründet worden. Die erste Ausgabe von „Der Ruf“ erschien am 1.März 1945, die letzte der 26 Ausgaben am 1.April 1946. Einfluß hatte „Der Ruf“ nicht nur durch zahlreiche Nachahmer in anderen POW-camps, sondern auch auf die amerikanischen Offiziere die als „Assistent Executive Officers“ (AEOs) die Re-education Aktivitäten koordinieren sollten. Das Experiment war so erfolgreich daß in Fort Getty und Fort Wetherhill weitere solcher Ausbildungsstätten und Schulen installiert wurden. Aus ganz Amerika wurden 80 000 POW-Kandidaten für diese zwei Schulen ausgewählt. Wegen der Ausstrahlung und Bedeutung von Fort Getty besuchte auch Richard M.Brickner Fort Getty. Er interviewte fünf Gefangene und bekundet seine Überraschung, „es gab mir eine erste Ahnung daß sogar richtige typische Deutsche von so einem Training in Demokratie beeindruckt werden können.“ Die Absolventen von Fort Getty, Kearney und Wetherhill wurden bevorzugt nach Deutschland zurückgeschickt. Für einen Schnellkurs in Demokratie wurde ab 4.Januar 1946 Fort Eustics in Virginia eingerichtet. der zwölfte und letzte Durchgang endete am 5.April 1946 und die letzten 23.147 Absolventen wurden nach Deutschland entlassen. Das war das Ende dieses Re-Education-Programms.

Ich war dem nachgegangen weil Brickners Sohn mir erzählt hatte, daß sein Vater oft von Militärjeeps abgeholt und in diese Camps gefahren wurde.
Aber Brickners Interviews waren nicht mit Mitarbeitern von „Der Ruf“, sondern „normalen“ POWs, und hatten nichts mit den Konzepten eines „Therapeutic Peace“, oder der Paranoia-Diagnose zu tun. Die Konfrontation von Brickner mit „echten und nicht nur „ausgedachten“ Deutschen schien eher dazu geführt zu haben, daß Brickner das „Reeducation-business“ wenig später aufgab. Auch war er anscheinend aus nicht eindeutig zu eruierenden Gründen bei Margaret Mead in Ungnade gefallen, die sich nun von Brickners ehemaligem Student Bertram Schaffer, im Krieg Major und später Psychiater, beraten ließ. Auch schien es keine Belege für einen Zusammenhang zwischen den Maßnahmen für eine Reeducation der deutschen Kriegsgefangenen in den USA und den der Politik übermittelten Konzepten der Gruppe um Margaret Mead zu geben, außer dem allgemeinen Wunsch, die Deutschen „irgendwie“ zu verändern.

Als Lektüre für die Zugfahrt hatte ich den Text „Eine Theorie des Spiels und der Phantasie“ (1954) von Gregory Bateson mitgenommen, den ich bei der Vorbereitung auf das letzte Filmgespräch in Dresden in meinem Archiv wiedergefunden hatte.
Beim Lesen fiel mir ein, daß dieser Text möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage gab, warum der von mir so geschätzte Hans-Ulrich Reck, Rektor der Kunsthochschule für Medien in Köln, es im April abgelehnt hatte, mit mir in Köln öffentlich nach dem Film zu diskutieren. Er hatte seine Ablehnung mit dem Verweis auf die falsche Darstellung der Rolle und Person von Rousseau im Film begründet, aber auch auf einige andere ihm nicht genehme Punkte verwiesen, die er aber nicht benennen wollte. Das hatte mich damals überrascht und auch bischen geärgert. Denn seit „Das Meisterspiel“ war er ein Fan meiner Filme gewesen und das auch in Veröffentlichungen kundgetan.
Über Rousseau hätte ich mich gern mit Reck öffentlich auseinandergesetzt, denn dessen Darstellung im Film inklusive der Verbandelung der Versprechen von „Gleichheit und Wohlfahrt“ sowohl im NS wie bei Rousseau und dessen Ideal einer „Volksgemeinschaft“ (natürlich nicht im Sinne des 19.Jahrhunderts, sondern als eine naiv gesehene Gesellschaft von Freien und Gleichen im Gegensatz zu Adel und Kirche) waren einige Recherchen und Gespräche vorausgegangen, ehe ich in dem liberal-konservativen Fortschrittsskeptiker Jacob Burckhardt den Stichwortgeber und Ratgeber fand, dem ich vertraute.
Aber das war es sicher nicht allein, das zu Recks Unbehagen und Ablehnung geführt hatte sich öffentlich mit mir und dem Film zu zeigen, sondern, so meine Vermutung als ich den Text von Bateson wieder las, dessen Betrachtungen zum Wesen des Spiels die mit der Rolle von Bateson (und Meads) in meinem Film möglicherweise kollidierten? Oder schimmerte in seinem offensichtlichen Unwohlsein schon damals die dann von Theweleit offen vorgetragene Kritik an der Darstellung von 68´ im Film durch?
Der Text von Bateson war in einem Buch mit dem Titel „Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis“ (2005) veröffentlicht worden, und wurde durch Beiträge von Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern zum Thema komplettiert.
Reck hatte sich in seinem Beitrag mit dem Wesen und der Rolle des Spiels auseinandergesetzt. Sein Text begann mit sehr ausführlichen Zitaten aus „Das Netz“ und von Heinz von Foerster und dessen Vorschlag „Wissenschaft als Spiel“ zu begreifen, um dann auf eben jenen Text von Bateson zu verweisen, den er als einen Schlüsseltext und die grundlegende Arbeit zum Konzept des Spiels bezeichnete.
Bateson hatte sich Spiele von Affen im Zoo angeschaut und glaubte beobachtet zu haben, daß die Tiere zu einer „Metakommunikation“ fähig sind. Das übertrug er nun auf das Wesen des Spiels an sich. Unwillkürlich mußte ich an das Interview mit Rudolf Arnheim in Ann Arbor denken, wo der greise und schwer mit der Artikulation seiner Antworten auf meine Fragen kämpfende Arnheim bei der Frage nach Mead, Bateson und der Macy-Gruppe hellwach war: „Bateson? Not first rate!“ hatte er mit feinem Lächeln gesagt. Heck dachte nun in seinem Text über den offenem Raum des Spiels und seine Funktion der Fiktionalisierung nach, wo automatische Zeichenvollzüge unterbrochen und dieser Prozeß auf ein meta-theoretisches „Als ob“ verschoben wurde. Im Prozedieren dieses „Als ob“ sah er die Künste wie Wissenschaften als heuristisch-experimentelles Organon zur Setzung von Neuem, und Bateson als Vordenker, der das Spiel auch in den meta-kommunikativen Prozeß von Psychotherapie und Psychiatrie integrieren wollte. In meinem Recherchen war ich Letzterem nachgegangen und lange nach Querverbindungen sowohl zu Menninger, anderen Psychotherapeuten und zu Mark Goodson gesucht, die es sicher gab, wie ich mir noch heute sicher bin. Leider mußte ich im Sommer 2014 aus Zeit- und Geldgründen die Suche abbrechen. Möglicherweise war Reck irritiert wie sich die Spiel-Experten im Film äußerten, was nicht in die vorhandenen Katagoriemuster der Theorie paßte? Natürlich war es verwirrend, wie trivial und doch schlüssig das hochtrabende Vokabular der Theoretiker sich in den Niederungen der Alltagsspiele, im Kommerz und in einer durchgehenden Funktionalisierung, Instrumentalisierung und Indienstnahme durch die Politik darbot. Und wie mit Hilfe von Wissenschaft, Pädagogik, durch Einübungstheorien, Rollen- und Lernspiele sich das Spielen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein auflöste und dort organischer Bestandtteil von Disziplinierung und Kontrolle wurde.

noch 24.Juni, Ankunft in Dresden
Die Stadt liegt unter einer Hitzeglocke, heute ist einer der heißesten Tage der letzten Wochen. Wer wird sich da eine fast dreistündigen Film anschauen, der 17:00 Uhr beginnt? Die Vorführung findet im Rahmen einer Ausstellung von Mitgliedern der Klasse Bildende Kunst der Sächsischen Akademie in der Städtischen Galerie statt. Habe noch Zeit. Im Lipsiusbau zwischen Albertinum und Hochschule läuft die hochgelobte Ausstellung „Die Vermessung des Unmenschen. Zur Ästhetik des Rassismus“. Die Ausstellung ist, bis auf die schwache Eingangssituation, sehr gut gestaltet. Großzügig und klar - eine gute Museumsausstellung. Es steckt auch Geld drin, das sieht man.
Ein Großteil des ausgestellten Materials wurde von einer Hilfskraft des Dresdner Völkerkundemuseums zusammengetragen, ein 1963 gestorbener Naiver wie Henri Rousseau, „der Zöllner“. Mit diesem und anderen Materialien versuchen die Kuratoren nun bild- und textgewaltig und mit scharfem Schwert gegen Rassismus und Rassentheorie vorzugehen. Die Materialien werden zum Teil in großen (originalen?) Holzrahmen unter Glas präsentiert. Unklar bleibt auch ob die präsentierten Großcollagen vom „Zöllner“, im umfangreichen Begleitmaterial als „Faktotum der Institution“ charakterisiert, oder von den Ausstellungs-gestaltern zusammengestellt wurden. Ich muß an Margaret Mead und Gregory Bateson und an die Not anderer Wissenschaftler (wie Künstler!) denken, wenn sie vor ihrem gesammelten und ausgebreiteten Material stehen. Mein Gott, was hat das nun zu bedeuten? Das Material in der Ausstellung ist toll, aber die Kuratoren machen es sich auch stellenweise bischen zu einfach.
Denn schon um 1943 herum gab es durchaus eine gewisse „Aufeinander zu“ Bewegung von Kulturanthropologen und NS-Rasseforschern die sich wohl beiderseits der wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten ihrer Theorien bewußt waren, sich aber, wie z.B. die NS-Forscher, nicht vom wissenschaftlichen Rassismus abkehrten, sondern versuchten sich durch einen Brückenschlag zur Humangenetik auf neue, vielversprechende Wege zu begeben. Die Ebene des Genoms war noch nicht greibar, aber die nun in Angriff genommenen Forschungsprojekte nahmen die Zwischenebene der Proteine, Enzyme und Hormone in das Blickfeld, die nach der Blaupause des Genoms die Auffaltung des Organismus steuern. (s.a. Schmuhl)
Die NS-Widersacher von Kulturanthropologen wie Franz Boas stellten dessen Forschungen zum Einfluß der Umwelt auf physische Rassemerkmale gar nicht in Frage, sondern nahmen seine Studien zum Anlaß, ihre humangenetischen Modelle zu verfeinern, um Rasseforschung auf der Stufe eines höheren Mendelismus fortzuführen. Deshalb war es ihnen auch vergönnt, nach 1945 in den USA ihre Kenntnisse bei der Optimierung von Verhalten und Gesellschaft einzubringen. Während die NS-Forscher noch von der Möglichkeit eines serologischen Rassetests träumten, ist die Biogenetik heute schon weiter und es zeigt daß sich Selektion, Auslese, Prenatale Geburtenkontrolle (oder vorgeburtliche Auslöschung) und ein Gleichheitsversprechen nicht ausschließen. Für „Overgames“ hatte ich auch ein Interview mit dem berühmten Lernpsychologen Albert Bandura geführt (wer es googeln mag: Bobo Doll Experiment, Lernen am Modell), der heute als Berater für Experimente zur Geburtenkontrolle in der Dritten Welt fungiert, wo mit Hilfe von Soaps und Fernsehspielen eine moderne, softe und „menschliche“ Form von Eugenik erprobt und praktiziert wird.

Dann Besuch in der Hochschule. Es ist Freitag und deshalb nicht zu befürchten ehemalige Kollegen zu treffen. Mein Nachfolger soll nun seine Anwesenheit auf zwei Termine im Monat gesteigert haben. Der große Klassenraum ist während des ersten Jahrs seiner Anwesenheit aufwendig in einen perfekten White Cube verwandelt worden. Die für die Tonqualität bei Filmvorführungen wichtigen Panele an den Wänden sind entfernt und an der Decke hängt ein neuer höchstauflösender Beamer. Hier finden nun Parties statt zu denen DJs eingeladen werden. Das scheint anzukommen. Vielleicht ist es das, was die Hochschule braucht.

Der Aufführungsort für „Overgames“ ist der Festsaal des Stadtmuseums, zwei Steinwürfe von der Hochschule entfernt. Es soll eine Blue Ray vorgeführt werden, die Absprachen per Email und Telefon waren zahlreich und ich deshalb in der Annahme, alles ist geregelt. Die provisorische Leinwand ist klein, die Tonboxen stehen ungünstig im Raum verteilt. Mir wurde in den Tagen vorher signalisiert, die Bue Ray sei erfolgreich getestet worden. Alles o.k. Gottlob bin ich eine halbe Stunde vor Beginn vor Ort und bitte um einen Technikcheck. Und um Schließen der Vorhänge, denn der Beamer hat nur eine sehr schwache Lichtleistung. Plötzlich gibt es ein Problem, es fehlt die Fernbedienung, die an ein anderes Museum ausgeliehen ist. So kann der Film nach dem Anspielen nicht wieder auf Anfang gespult werden. Ratlosigkeit und Durcheinander. In der Kunsthochschule ist kurz vor 17:00 natürlich niemand mehr zu erreichen, es ist Freitag. Im Mediamarkt einen neuen Player kaufen? Der Galeriedirektor holt die Ansichts-DVD mit Timecode im Bild. warum spielen wir nicht die? Im Ernst, das Format mit einer so geringen Auflösung? Mittlerweile sitzen 50 Besucher im Saal und verfolgen interessiert das Hin- und Her der Museumangestellten. Soll ich die Besucher wegschicken und abbrechen lassen? Begründet wäre es. Mit dreißig Minuten Verspätung startet der Film dann als Projektion einer DVD mit Timcode im Bild von einem Laptop. Das Bild hat nicht das richtige Format, die Personen in die Länge gezogene Eierköpfe. Er kann da nichts machen sagt der Haustechniker ungerührt, das liegt an der DVD: Der Ton ist zu laut, gut geeignet für eine Vorführung im Altersheim. Der Haustechniker ist nun gegangen. Da ich an sein hinter dem nun zugezogenen Vorhang verstecktes Mischpult nicht mehr herankomme, bleibt der Ton wie er ist. Die Bildqualität ist eine Zumutung, was eigentlich Zinnoberrot ist, erscheint nun als Ochsenblut. Grausam. Aber das Publikum folgt gebannt der Vorführung. Immer im Bild der gut sichtbar mitlaufende Timecode.

Dann das Gespräch. Mit mir sitzen ein Musikwissenschaftler und ehemaliger Opernintendant, eine Professorin für Architektur- und Baugeschichte und der Direktor der Städtischen Galerie auf dem Podium. Ersterer vergleicht Aufbau und Struktur des Films mit Bach, mit den Goldberg Variations, einer Triple Fuge mit drei Themen. Beim ersten Ansehen des Films hat er die Musik garnicht gehört, was gut ist, beim zweiten Anschauen war ihm aber unbehaglich weil er das Gefühl hat er kennt das Motiv, weiß aber nicht genau was es ist. Da erschien ihm das als undefinierbares Geräusch. Aber die finale Antwort auf die Frage ob stimmt was Fuchsberger erzählt, die er vermißt, wischt die neben ihm sitzende Architekturhistorikerin vom Tisch, denn darum gehe es doch in dem Film garnicht, das habe sie schnell vergessen, obwohl der Film am Ende nochmal darauf zurückkommt. Sie hält nun ein schönes Plädoyer für die offene Struktur des Films, der doch alles sagt (und ZEIGT!), und was nicht, wird durch Bilder von nonverbaler Kommunikation nachgereicht. Alles da. Ja, wird gelobt, der Film gibt genaue Hinweise, aber ohne Kontrollversuche, ein nichtmanipulativer Film. Aber, inwieweit sind die im Film dargestellten und angewendeten Methoden von Wissenschaft, Kunst und Politik dauerhaft oder müssen von Zeit zu Zeit aufgefrischt werden? Wieder die Frage nach den Umerziehungsversuchen im Osten. Die Vorstellung daß nun im Osten im Schnelldurchgang nachgeholt werden muß was im Westen schon früh begannt scheint Unbehagen zu verursachen. Hört das denn nie auf, dieses Nachholen müssen, dieses Hinterherhinken? Es wird über die Lupe gesprochen, die im Film öfter auftaucht, ein Gelenkmotiv, und was es für mich bedeutet. Der Turmbau zu Babel, auch ein wichtiges Symbol. Merkwürdigerweise wird das aber nicht als Strafe Gottes für Selbsterhebung und Hybris, sondern als Versprechen für Diversity gesehen. Das Podium diskutiert nun die Frage: Ist es ein Dokumentarfilm oder Kunst? Die Frage der Schönheit wird angesprochen, das Thema der Ausstellung in der Galerie. Verweise darauf daß „Schönheit“ ja lange als reaktionär und eher als frei zur Verfügung stehender Werkstoff diente, dessen Zumutungen von Harmonie und Ideal man sich durch Störungen und Verletzungen vom Hals zu halten versucht. Spricht man nicht heute eher von „Beauty“? Plötzlich steht ein Mann im Publikum auf und ruft „Beauty is a French phonetic corruption“. Ha? Das ist von Frank Zappa, aus „Packard Goose“ erklärt er, und zitiert nun weiter:
Information is not knowledge
Knowledge is not wisdom
Wisdom is not thruth
Thruth is not beauty
Beauty is not love
Love is not music
Music is THE BEST
Wisdom is the domain of the Wis (which is extinct)
Beauty is a French phonetic corruption
Of a short cloth neck or ornament
Currently in resurgence
Wunderbar, daß war das Schlußwort, ruft der Museumsdirektor in den Saal. Wieder sind vier Stunden vergangen, verkaufe über zehn Bücher, im Publikum auch einige Studenten der Kunsthochschule. Dann Abschluß in der Dresdner Neustadt in einem kleinen Weinlokal mit Rosé, Käseteller und Bier.
Am nächsten Tag im überfüllten und aus Prag kommenden Zug zurück nach Hamburg. Was nun noch fehlt, ist ein kurzes Resumée der Tour.
Das wird folgen, demnächst.

Resümee
Die Tour mit „Overgames“ war anstrengend, hat aber Spaß gemacht.
Es war interessant mal in den Maschinenraum des Kinos zu steigen und nachzuschauen, wie es da so zugeht.
„Overgames“ hatte seit der Premiere im Juni 2015 bis Ende Juni 2016 insgesamt 82 Vorführungen mit einem Zuschauerschnitt von 34 Zuschauern. Mal waren es 170, mal waren es 12. Nicht mit eingerechnet sind die Vorführungen auf internationalen Festivals. Natürlich hatte ich gehofft daß entgegen allen Unkenrufen (die Zeit für solche Filme ist vorbei, zu lang, zu kompliziert, zu deprimierend, zu langsam erzählt usw.) mehr Zuschauer ins Kino kommen, um sich den Film anzusehen. Aber war das für solche Filme nicht schon immer problematisch, zumindest in den 1980ern, woran mich ein Kollege bei einer Diskussion während der Tour erinnerte? Auch da waren 20 bis 30 Vorführungen für so einen Film schon sehr gut.

Also, wie weiter? Zunächst wird sich fortsetzen, was mir schon während der vielen Diskussionen und Gespräche nach der Vorführung auffiel: Das ganze Wissen dass ich während der Recherchen vor und nach dem Dreh gesammelt hatte, löst sich langsam in einem gnädigen Vergessen auf. Ich konnte einiges zwar noch mal mühsam für die Tour aktivieren, aber schon heute würde ich mich in meinem Archiv oder den 120 Stunden Material im Avid-Schnittsystem nur nach mehrtägiger Vorbereitung wieder so zurechtfinden, wie es während der „aktiven“ Produktionszeit der Fall war. Das ist wie ein Muskel der, wenn er nicht täglich trainiert wird, verkümmert.

Es hat sich bewahrheitet, daß das von mir geliebte Kino so nicht mehr existiert. Es wird etwas anderes kommen, hybride Formen geboren aus Grenzüberschreitungen und von Theorie geleiteten Experimenten. Es wird ein (junges) Publikum geben, das dafür erzogen und konditioniert wird.
Mag sein, daß irgendwann eine Übersättigung eintritt, und sich genug Energien für einen backlash bündeln. Wie sollen die paar Hanseln unter den Filmemachern, Kinobetreibern und in den Redaktionsstuben bis dahin überleben? Mir fällt nur das mit „Overgames“ praktizierte Modell eines Eigenverleihs ein. Ist das anderen Filmemachern zu empfehlen? Ja, wenn diese Filmemacher Studenten einer Film- oder Kunsthochschule oder Rentenbezieher sind, oder geerbt haben. Und bereit sind zur extremen Selbstausbeutung und sich vom Stigma des Sonderlings nicht beirren lassen. Versöhnlicher formuliert: Eine Lösung könnte sein, wenn sich die zahlreichen regionalen Filmförderungen entschließen würden, solche „Eigenverleiher“ mit ausreichenden Mittel auszustatten. Vielleicht sind meine Erfahrungen dafür hilfreich.

Wird die Tour mit „Overgames“ nach der Sommerpause fortgesetzt?
Anfragen für Vorführungen mit und ohne Filmgespräche gibt es, die Planungen laufen.
Das Radiostück zum Film („Messer und Uhr“) wird am 10.Juli nochmal von NDR-Info wiederholt, und ist zusätzlich auch Online auf den Archivseiten von RBB, MDR, DLF und nach dem 10.Juli auch des NDR zu finden. Am 1.April 2017 wird es zusätzlich noch eine Wiederholung bei Deutschlandradio Kultur geben.
Eine DVD erscheint im Oktober bei Absolut Medien. Und 2017 wird dann Arte am 6.März (00:20 Uhr) und später der RBB den Film in der Originallänge ausstrahlen. Der WDR will nur eine auf 90 Minuten gestutzte Fassung senden, wenn er den Film überhaupt sendet. Ein Frevel am Film, aber juristisch unangreifbar.

Ich danke allen Leserinnen und Lesern des Tour-Tagebuchs für ihr Interesse
und verbleibe mit besten Grüßen

Lutz Dammbeck

P.S.: Bis Ende 2016 sahen 3079 Zuschauer den Film im Kino.