Tour-Tagebuch
14.4. Münster, Kino Schloßtheater:
Die Tour
beginnt. Das Kino befindet sich außerhalb vom historischen Stadtkern,
in einer etwas vernutzten Gegend. Die ist aber ein angenehmer Kontrast
zur ausgestellten Wohlhabenheit des Stadtzentrums. Habe noch Zeit bis
zum Beginn der Vorführung, gehe in die Innenstadt zurück und in den Dom.
Fällt sofort ins Auge: Ein großer Christopherus, in der Hand einen
echten Baum. Helles Grau, Gold im Kopfschmuck des Knaben, der dunkle
Holzstamm. Drumherum der Kontext. Alles sehr sparsam, keine preußische
Kitschbude wie der Kölner Dom. Im Kino gute Athmosphäre, 18 Besucher.
Gespräch mit dem Schriftsteller Burkhardt Spinnen und dem Kinoleiter
Herrn Klepsch. Spinnen hat mal mit einer Gruppe Gleichgesinnter in
jungen Jahren (Walter Moers gehörte dazu) Spielshows analysiert, z.B.
"Wetten Dass". Interessanter Text. Spreche auch über den Christopherus,
wo im Unterschied zu den Installationen in der aktuellen Kunst der
Rahmen gegeben ist, ein Kontext der das Detail, den Schmuck,
zusammenhält und Sinn gibt. Im Museum oder der Galerie hängt die
Installation in der Luft. Oder es fehlt das Schloss drumherum. Im
Anschluss, zwei Münsteraner Pils. Vorführung: technisch i.O., Projektor
Tick zu dunkel.
15.4. Köln, Kino Filmpalette:
Früh
8:00 von Münster mit dem Zug nach Köln. 10:30, bin Gast bei einem
Historiker, einer meiner Fachberater für die Geschichte der Franz.
Revolution, in seinem Seminar an der Uni Köln. Thema: Politische
Inszenierungen. Wir zeigen einen Ausschnitt aus "Overgames" zum Fest des
Höchsten Wesens. Das Publikum: 18 Studenten. 17 Studentinnen, 1
Student. Keiner wird zur Vorführung am Abend ins Kino kommen. Der
Historiker hat Bildbeispiele für Feste und Inszenierungen der Revolution
und des königliches Hofes mitgebracht. Die Symbolik in der Ordnung und
Reihung der Festumzüge, wer hat welchem Platz und warum. Interessant: Ab
wann sprechen wir von "demokratisch", von Demokratie als Staatsform der
Moderne? Z.Zt. der Franz. Revolution geht es ja um die Republik, das
republikanische Wesen der Revolution, um gute Republikaner. Nach 1945
Wechsel, nun geht es um "Demokratie". Das kommt durch die Amerikaner?
Die zwei Parteien in den USA: Republikaner-Demokraten.
19:00 ins
Kino. Der Chef von Kino und Verleih (Realfiction) hat sich vorher per
Email abgemeldet (ein Zeichen für geringen Vorverkauf?). Sein Vertreter
in der Filmpalette hat den Film noch nicht gesehen (da er nach der
Begrüßung von mir und dem Publikum, 32 Zuschauer, nach Hause geht, wird
es damit auch an diesem Abend nichts werden). Mein Gesprächspartner
Daniel Kothenschulte ist noch nicht erschienen. Vor zwei Tagen hatten
wir telefoniert, er wollte sich den Film (den er seit zwei Monaten als
DVD hat) "gleich" anschauen. Warum schaut er sich den nicht im Kino an,
als "Film"? Nehme an er erscheint kurz vor Ende der Vorführung. Er
schreibt seine Filmkritiken ansonsten als "Filmfreund", schreibt über
das Spezifische und Erhaltenswerte von "Film" und "Kino". Rätselhaft. Er
wohnt um die Ecke, ganz nah an der Filmpalette.
Dort inzwischen: Film
zu Ende, kein Kothenschulte. Kurze Verwirrung. Eilig wird der
Kino-Diensthabende herbeizitiert. Der ist bischen angefressen, weil nun
er mit mir das Gespräch führen muß. Er sagt: Nun muß ich doch (zur
Strafe?) eine Geschichte erzählen, die Verbindung von Daniel und
Gameshows. Der Donaldist und Freund von Animationsfilmen (der
eigentliche Grund ihn einzuladen war ja dass ich dachte wir könnten ein
interessantes Gespräch über das Filmische in Overgames führen der ja
auch "animierte" Szenen hat) war in jungen Jahren fasziniert von
Gameshows, und hatte sich auch als Kandidat (contestant) beworben. So
war er in eine Show geraten. Allerdings fiel er dort unangenehm auf
durch oberlehrerhaftes Strebertum. Das Publikum mochte ihn nicht. Es kam
zum Eklat als er in die Endrunde kam und ausgebuht wurde. Heiterkeit in
der Filmpalette und für mich gute Gelegenheit, zu den Themen des Films
überzuleiten: Verdrängung, Abspaltung, Projektion. Meine an Freud und
Erikson geschulte Analyse: Er hat kurz vor Veranstaltungsbeginn doch mal
kurz in die DVD reingeschaut und einen Schreck bekommen. Hatte ich ihn
vielleicht - seine Projektion - im Wissen um diese Geschichte gezielt
eingeladen um ihn vorzuführen? Aber vielleicht war es ja auch ganz
anders und er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Mit einer Kölner
Filmemacherin und meinem Fachberater für die Franz. Revolution und
seiner Freundin, arbeitet in Kleve beim Umweltamt, noch Kölsch (5)
trinken gegangen, bis 1:00. Vorführung: technisch i.O. (Kopie 2
Bronner), 28 Zuschauer. Am nächsten Tag zurück nach Hamburg, Abrechnung
der bisherigen Vorführungen und Veranstaltung in Bochum vorbereiten.
16.04. zurück nach Hamburg:
im
Atelier Abrechnungen der Produktionsförderung für "Das Meisterspiel"
und "Das Netz". Mein Gott, die halbjährigen Abrechnungen für "Das
Meisterspiel" laufen immer noch, seit 15 Jahren. Rechne kurz nach: Für
"Overgames" muss ich für zwei Filmförderungen, Hamburg und
Berlin-Brandenburg, nun noch bis 2024 Abrechnungen vorlegen. Für den
Zuschuß aus NRW zu Produktion und Tour ist gottseidank nur eine einfache
Schlußabrechnung nötig. Klingt verwirrend, ist aber bei ein bischen
Übung Routinesache. Und, nicht zu vergessen, ohne das Geld der
regionalen Förderer gäbe es diese Filme nicht. Und viele der Kinos in
denen "Overgames" nun läuft auch nicht. Ein Anruf: Das Filmkunstfest
Schwerin macht nun doch eine zusätzliche Vorführung und braucht
Werbematerial. Abends Stammtisch. Unser Freund Karl-Heinz von Hassel ist
gestorben. War immer gut wenn er im Katelbach an den Tisch kam, und wir
bald versuchten das Gespräch auf Gründgens und Fassbinder brachten, um
seine Geschichten zu hören. Friede seiner Asche. Noch paar Rollen mit
Plakaten und Flyern an Kinos und Museen packen die Karin am Montag mit
DHL verschicken wird.
17.04. Bochum, Kino Endstation.Kino:
Mit
der S-Bahn vom Hbhf nach Bochum-Langendreer. Liegen keine Flyer aus.
Der Kinomensch hat den Film noch nicht gesehen.
Mein Gesprächspartner
Oliver Fahle. Der ist Professor für Mediengeschichte an der Uni Bochum
und hat z.Zt. ein Freisemester. Er kommt kurz vor 17:00. Im Publikum
paar Studenten und sein Stellvertreter der ihn im Freisemester vertritt.
Ein Arbeitsloser kauft ein Filmbuch, ich nehme 5,00 Euro. Diskussion
rege, dann in das Restaureant, trike zwei Moritz Fiege Helles. Im Kino:
Fragen zu "Überwältigungsstrategie", warum nicht Fuchsberger interviewt,
Verbindung Fest des Höchsten Wesens und Price Is Right, Ausweisen der
einzelnen Archivstücke: Quellenverweis opder nicht? Mir egal, am besten
ohne, der Kommentar wird als "Gottes Stimme" bezeichnet. (Im
Veranstaltungsraum nebenan, wo auch Konzerte und Lesungen stattfinden
hat der israelische Geiger Gilat Atzmon 2005 einen Skandal provoziert,
über den Mahler in seinem Buch "Das Ende einer Wanderschaft" schreibt.
Das Buch angelesen, gibt es als PDF im Netz, ein einziges Wahnsystem,
eine Hegelei. Der Hinweis darauf kam von meinem Gesprächspartner in
Düsseldorf, einem Alt-68er und ehemaligem Lektor im Berliner
Wagenbach-Verlag. Merkwürdig. Worüber soll ich nachdenken?)
Stellvertreter von Oliver Fahle ist zur Zeit ein Herr Meurer, lebt in
Wien, Kultur- und Medienwissenschaftler. Empfehle ihm Das Meisterspiel
und die Box von Absolut Medien.
Finde dann spätabends eine Email von
Kothenschulte vor, entschuldigt sich tausendmal, peinlich, soll ihm
verzeihen. Schreibe ihm dass er ja was über den Film schreiben könnte.
Er fragt per Email zurück wann der Film wo läuft, wann in Frankfurt.
Schicke ihm die Tourliste (die er schon zweimal bekommen hat). Natürlich
wird er nichts schreiben. Vorführung: Kopie avt Nr.4, Bild o.k., Ton im
Center keine Höhen, dumpf, leicht hallig Musik zu laut im Verhältnis
zum Kommentar.
18.04. Düsseldorf, Kino Bambi:
Wohne
im Hotel Ufer, was von Seminaristinnen einer Kosmetikfirma vollbelegt
ist, bekomme das letzte Zimmer, 1.Stock, draußen fährt die Straßenbahn
vorbei, eine Kirche (Geläut), Autostraße.
Eine Stunde vorher am Kino.
Mein Gesprächspartner, ein alt-68er und ehemaliger Lektor eines linken
Westberliner Verlags ist schon da.
Vom Kino ist nur ein junger
Mitarbeiter zur Stelle, der anscheind nicht recht weiß, was stattfinden
soll. Er fragt: Worum geht es denn im Film? Hat er den Film nicht
angeschaut? Er lacht, Mann, so viele Filme, dafür haben wir keine Zeit.
Es
liegt kein Flyer aus. Wo sind die? Keine Ahnung. Ich finde nach langem
Suchen zwei Exemplare, in der hintersten Ecke. Wo sind denn die anderen?
Wohl alle. Die Kinos scheinen nicht sehr interessiert daran was für
Filme sie zeigen.
Mein Gesprächspartner ist aufgeregt. Er ist nun
für die Linkspartei in NRW engagiert und erwartet Störungen durch
Anti-Deutsche. Die sind hinterhältig, sagt er, die intrigieren nur im
Hintergrund. Einen will er schon gesehen haben. Na, das wird was werden.
Er scheint auf einen Eklat zu warten. Ein Düsseldorfer Filmjournalist
kommt. Er empfielt mir am nächste Tag eine Ausstellung mit toller
Malerei anzuschauen, von Dieter Süverkrüp. Was, der lebt noch? Ja, hat
die Gitarre an den Nagel gehängt und folgt nun seiner wirklichen
Berufung, der Malerei.
Etwas 30 Minuten vor Filmende verläßt der
angebliche Anti-Deutsche die Vorführung, anscheinend hat er genug
gesehen. Nachdem das Licht im Saal angeht und bevor die Diskussion
losgeht, schleichen einige Zuschauer schnell aus dem Kinosaal. Von dem
vom Kino versprochenen Tisch und zwei Stühlen für das angekündigte
Gespräch ist nichts zu sehen, zwei junge Angestellte des Kinos trinken
im Foyer gemütlich Kaffée. Erste Frage des von mir eingeladenen
Gesprächspartners an mich: Koennte der Film nicht den Rechten gefallen?
Wenig orginell und leicht zu beantworten, da mir seit dem Film "Zeit der
Götter", also 1992, diese Frage bei allen Filmen gestellt wird. Aber
denen sind die Filme zu kompliziert, auch kommen sie letztlich nicht gut
weg. Worum es geht ist ein Gespräch über die Krisen der Moderne
anzuregen die in Overgames angesprochen werden. Die Heilmittel die Mead,
Bateson und der Kreis von Wissenschaftlern drumherum angeboten hatten,
produzierten eben auch wieder nur diktaturähnliche Strukturen und einen
Totalitarismus. Ob der nun Demokratie heisst oder anders gelabelt ist.
Also zu sprechen gibt es genug.
Warum fehlt im Film der Marcuse, wird
gefragt? Marcuse, frage ich zurück, der es fertig bringt im Kalten
Krieg sowohl dem State Department Analysen des russischen Charakters zu
liefern wie gleichzeitig der westeuropäischen Jugendbewegung die
revolutionären Exerzitien zu schreiben?
Ein ehemaliger Absolvent von
Horkheimer und Adorno und vom Institut meldet sich ausführlich zu Wort:
Er hat das aufgesogen, dieses demokratische Wesen, was gelehrt wurde.
Das zu würdigen vermißt er im Film. Und wie nun die angebliche
Umerziehing der Westdeutschen durchgeführt wurde, konkrete Beispiele.
Ich frage Dreßen: Lass es uns doch mal direkt machen. Was hat man denn
mit Euch gemacht? Erzähl Du doch mal. Das ist hier nicht das Thema, sagt
er. Ein Frau sagt: Diese Show "The Price Is Right", dieses nach vorn
rufen, beim Namen nennen, das ist doch wie in der Kirche. Gespräch über
Religionsersatz, Substitute. Ist das nicht (auch) ein Ruf zum Sterben?
Wie auch zum Trost? Ich erinnere die Inschrift am Sammelgrab meiner
Mutter. Was stand da: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich
habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43). Das wird
nun im Kontext einer liberal ecumene in massen- medien- und
und modernetaugliche Form übersetzt. Zu etwas dazugehören. Den Schmerz
der Bindungs- und Ortlosigkeit betäuben. Mein Gesprächspartner
verabschiedet sich merklich aus der Situation. Und als ich sage: Gab es
überhaupt etwas zum Re-Educaten und auf die Erlebnisse von Georg Stefan
Troller als junger amerikanischer Soldat verweise ("...wir waren darauf
vorbereitet auf ideologisierte blonde deutsche Bestien zu treffen, und
trafen auf verängstigte frierende verstörte Deutsche) und auch auf
Kussiel Padovers Buch ("Lügendetektor: Vernehmungen im besiegten
Deutschland 1944/45", herausgegeben von Enzensberger) hinweise sagt er:
Da hören wir jetzt lieber mal auf. Klar wird: Dieses "Gemacht zu sein,
statt geworden zu sein", das schmerzt. Nichts weiter gewesen zu sein wie
ein Virus der angesetzt wurde im Rahmen einer Therapie. Um einen Prozeß
ins Fließen zu bringen, Muskel spannen und entspannen "...das ist
ja gerade das Raffinierte an diesem System, dass es nur um die
Grundrichtung geht, und ansonsten sehr viel an Autonomie und an
Eigensteuerung möglich ist. Und, ganz wichtig: Dieses System braucht
Reformpausen, um neue Werkzeuge entwickeln zu können - um dann wieder
zur „reinen Idee“ zurückzukehren...jetzt aber mit den für die
komplizierter gewordenenen Systeme angemessenen Instrumenten. Dann
können auch die Beschränkungen durch wohltätige und soziale Leistungen
wieder wegfallen, also sprich New Deal oder Soziale Marktwirtschaft" (Aus MESSER UND UHR, Radiostück, wird im Mai gesendet).
Das
Zentrum des Films kommt nicht zur Sprache: Gemacht statt Geworden zu
sein: Die Technisierung des Bewußtseins, der Körper und der Seelen.
Dazu
die Ökonomisierung (die Quantifizierung) von allen und zwischen allen.
Das "Größte Glück der größten Zahl". Vorführung: Kopie avt Nr.5, i.O. 36
Zuschauer.
19.04. Düsseldorf, Filmwerkstatt:
Eine
ehemalige Glaserei, Innenhof, kleines Kino im Keller, 98 Zuschauer,
fast die 100er-Marke genkackt. Im Publikum Studenten der Kunstakademie
und der FH für Gestaltung, dazu einige ortsansässige Künstler. Draußen
Bahngleise, Freisitz, im Hof baut ein Kunstsammler Räume für seine
Sammlung aus. Vorführung von DVD technisch in Ordnung, freundliche und
interessierte Diskussion, viel Fragen zu Das Netz, einige Frager
zitieren Textstellen aus dem Film. Wieder der Vergleich mit Adam Curtis.
Versuche den Unterschied zu erklären, den zwischen Fernsehen und Kino.
Den Unfug von "Pop-Collagen" als Filmersatz. Die Differenz der
Budgetgrößen, mein Anstrengung einen so selbstbestimmten
Produktionsapparat wie möglich zu bekommen usw. Stehe 00:10 auf der
Straße. Menschenleer, keine Kneipe offen, laufe zum Hotel am Hofgarten,
am Malkasten vorbei. Unruhiger Schlaf, haette gern noch ein Zigarillo
geraucht.
20.04. Hamburg, Metropolis Kino:
Kein
Schaukasten für Overgames. Nur außen hängt ein Plakat. Im
Treppenaufgang dann Werbung für die Vorführungen von "Das Netz":
A3-Kopie von der DVD-Hülle der Edition Kunst & Macht. Sie haben ein
richtges Plakat bekommen. Und hängen es nicht auf. Der Kinoleiter ist
erstaunt: Was, kein Schaukasten? Scheint ihn aber nicht sonderlich zu
stören. Zunächst hatte er für Overgames lediglich einen Termin
vorgesehen, erst auf meine Nachfragen dann noch zweimal zusätzlich. Der
letzte der drei Termine ist Nachmittags 16:00, in der Woche.
Begeisterung sieht anders aus. Ein Journalist, er schreibt für
Spiegel-Online, teilt mir mit dass er vor einiger Zeit der Redaktion
einen Text über Overgames vorgeschlagen hat. Nun hat die Redaktion
abgelehnt hat. Es gaebe "zu viele kleine Filme". Im Kino 91 Zuschauer.
In der Diskussion: Hinweis auf Prof.Mausfelder in Kiel der ein Buch über
die Kriege der Amerikaner (oder einen Vortrag zu diesem Thema gehalten
hat? Mal googeln) geschrieben hat, zu Seele, Individium und
Gesellschaft. Der Rolle von Spielen. Wieder die Frage: Stimmt das, was
der Fuchsberger erzählt hat. Scheint sehr stark zu interessieren. Was
hat er denn gesagt? Spiele für Gameshows wurden in den USA aus der
Psychiatrie in Gameshows adaptiert. Immer wieder dieser Hörfehler: Warum
ich die unbewiesene These aufstelle, daß die Amerikaner mit Gameshows
Re-Education betreiben wollten. Das kommt aber im Film garnicht vor.
Eine andere Dame, stellt sich "als gute 68erin" vor, sagt: Gottseidank
habe ich nie diese Spielshows im Fernsehen geguckt. Sie meint wohl:
Gottseidank betrifft diese Re-Education mich ja nicht. In Dresden an der
Hochschule waren die Westkollegen der Meinung, Re-Education beträfe nur
den Osten, vielleicht noch China, mit Ihnen und dem Westen Deutschlands
hätte das nichts zu tun. Komme mir langsam vor wie der Chefarzt in
einer Psychiatrie.
Vergesse auch wieder auf den Autor der Spiele von
Beat The Clock hinzuweisen und zu erzählen, warum der nicht im Film ist.
Der hieß FRANK WAYNE, und entwarf die "stunts" und Spiele nicht nur für
BEAT THE CLOCK sondern auch für MATCH GAME und PRICE IS RIGHT. Kam vom
Vaudeville. Hatte seinen Sohn besucht, kleiner Ort an der Grenze zu
Mexiko:"...mein Vater kam vom Theater, träumte davon den Hamlet zu
spielen, den Romeo, machte Vaudeville, Puppentheater, Sketche in Bars,
dann „Lebende Bilder“, "frozen scene", LIVING CARTOONS, das Publikum
mußte raten was das Bild darstellt und der Beifall des Publikums für die
beste Bildidee wurde mit einem "Laughmeter" gemessen, je lauter
applaudiert wurde, desto mehr Lampen leuchteten auf. Ich hatte Mark
Wayne in Albuquerque besucht. Der hatte als Junge in der elterlichen
Garage das Modell für Plinko gebastel, ein Spiel in PRICE IS RIGHT.
Erzähle ihm dass das exakt eine Kopie des Galton-Bretts ist, von Francis
Galton (Eugenik). Interessant: die Traditionslinie Laurel & Hardy,
Stummfilm, Vaudeville, Circus (P.T.Barnum, Freak-Show), Comic, Cartoons,
animierte Strips - das führt ja zu Stunt-Shows wie BEAT THE CLOCK,
"physical and observational". Goodson liebte diese Show nicht, war ihm
nicht „intellectual“ genug, liebte mehr Shows mit Prominenten THATS MY
LINE oder Quizshows wo Intelligenz gefragt war. Stuntshows machten das
Publikum aber locker, entspannten. Mark: "Minute to Win It, that’s the
same thing, Minute to Win It is Beat the Clock today" (wurde 2013 in
Köln von Shine Germany mit deutschen Titel neu produziert, wegen
schlechter Quoten aber abgesetzt). Hätte gern ein Interview mit Mark
Wayne mit der Kamera gemacht, aber der litt unter den Nachwehen eines
Autounfalls: War von einem Coca Cola-Truck überrollt worden. Deshalb
psychisch sehr instabil, Zittern, öfter Aussetzer. Wirre Emails. Sylvia
hatte Angst mit ihm zu telefonieren. Gab mir aber eine Kineskope von
Laugh Line mit.
21.04. Berlin, Kino in der Kulturbrauerei:
Ein
Cineplex. Im Foyer kein Plakat oder Flyer zu sehen. Kinochef hat sich
am Vortag entschuldigt, Familienangelegenheiten, eine Vertretung ist da.
Sie sagt mir, 8 Karten im Vorverkauf, sieht noch nicht so gut aus. Das
Kino ist in eine ehemalige Maschinenhalle eingebaut. Ein Labyrinth. Es
läuft laute Popmusik und weht der Duft von Popcorn. Wer soll hierher
kommen um meinen Film zu sehen? Warte auf meinen Gesprächspartner
Rüdiger Suchsland. Soundcheck im Kino. Bisher die größte Leinwand,
schönes Kino mit 120 Plätzen. Vor der Vorführung von Overgames wird das
Publikum gefühlte 20 Minuten mit Werbung und Trailern der kommenden
Filme malträtiert. Es erklingt genau der Sound der in Overgames
gezeigten (und hörbaren) Gameshows. Ein einziges Gedröhn. Man wird
verrückt dabei, der Sound der Werbung klingt noch aufgedrehter. Erinnert
mich daran als ich mal im Tonstudio die falsche Tür öffnete und in eine
Trailerabnahme von Till Schweigers letztem Film geriet: Klang wie ein
Raketenangriff. Das muß ja Schäden hinterlassen. Dann: Lockere
Diskussion, gute Stimmung. Die Frage ob ein Künstler wissenschaftlich
arbeitet und auch Wissenschaftler sein kann (Modethema Kunst und
Wissenschaft) wird lange diskutiert, auch kontrovers. Sehe mich als
Künstler, der Film setzt allerdings in einigen wiss. Disziplinen
Standards, besser: Verschiebt durch seine Funde in Archiven und
Fragestellungen Grenzen. Vorführung i.O., DCP Nr.4, geht nun nach
Freiburg. Anschließend kleine Runde im "Schwarz-Sauer", 1 großes Helles,
1 Grappa. 1:20 ins Hotel. Am nächsten Tag 8:27 nach Leipzig, zum
Pressegespräch im Museum der bildenden Künste. Dann weiter nach Dresden.
In der Nacht kommt noch eine Email von einer Kunsthistorikerin:"...Die
Frage nach entweder Kunst oder Wissenschaft halte ich auch für
antiquiert, das betrifft sowohl Deinen Film, aber auch die Einschätzung
der Mead. M.M. hat mit ihren Langzeitstudien und der
Feldforschungsmethode (dort wird es wohl eingeordnet) unvergleichliche
und unwiederholbare Erkenntnisse gebracht. Wo wäre schon absolut
gültige, objektive Wissenschaft? Der Anfang ist immer die naive Frage.
Dann hättest Du nach der längst bekannten Antwort, die Psychologie des
einzelnen Individuums à la Freud etc. ist nicht übertragbar auf ganze
Gesellschaften, Deine ganzen Recherchen auf ein paar Meter
Wissenschaftsgeschichte (die so verzweigt noch einen Film ergeben hätte –
ich gestehe, das Netz hab ich nicht gesehen wegen Umfeldverweigerung,
also Begegnungen der alten Art) verkürzen müssen oder ganz aufgeben. Und
Huizingas Homo ludens scheint auch keiner mehr zu kennen...".
22.04. Leipzig, Museum der bildenden Künste:
11:00
Pressegespräch zu Ankauf und Schenkung. Eine Wand mit ca.10 Arbeiten
gehängt, ein Film ("Hommage á La Sarraz") läuft zusätzlich. Ca. 20 Leute
da, läuft entspannt und locker. Was mir auffällt: die Vernähungen mit
Fotoleinen und das große s-w Cibachrom wirken flach, keine Tiefe. Halt
technisches Material. Auch das Video. Die beiden frühen Bilder auf
Leinwand mit Farbe sind viel intensiver. Man bräuchte als zwei
verschiedene Beleuchtungen und Luxzahlen. Oder muss es räumlich trennen,
obwohl es inhaltlich zusammengehört. Bringe den Begriff "Kuckucksei"
ins Spiel, das nun im Nest des Museums liegt. Frage der Presse: Was und
wann und wie wird das Museum denn nun mit den über 400 Arbeiten von
Ankauf und Schenkung inkl. Filmen arbeiten? Der Vertreter des Museums
windet sich. Ich sage: 2018. Das Museum ist arm. Die Stadt, munkelt man,
soll sich an der Londoner Börse verzockt haben. Nun ist der Etat aller
Behörden um 30% gekürzt worden. Warum nicht, die Renter sollen ja auch
künftig länger arbeiten. Irgendwie müssen ja die Schuldenberge
wenigstens begrenzt werden. 13:00 weiter nach Dresden.
22.04. Dresden, Programmkino Ost:
17:30
zum Kino, Programmkino Ost. Begrüße den Direktor der Landeszentrale für
politische Bildung, der die Veranstaltung organisiert und bezahlt hat,
der ist begeistert: Ausverkauft. Kino wird voll. 169 Zuschauer. Paar
Leute sitzen während der Vorführung noch auf den Stufen.
Nach der
Vorführung (etwa 5 Personen während des Films frühzeitig gegangen) ca.
15 Minuten Pause. Dann der Saal noch zu 2/3eln gefüllt. Die Diskussion
wirkt auf mich bischen zu homogen, hört sich sehr Amerika- und
Demokratiekritisch an. Teilweise auch verstiegen: Zum Feminismus.
Verpasse zu reagieren, bin in Gedanken und dadurch anderweitig
beschäftigt. Was soll ich auch sagen? Das Statement ist ja der Film. Aus
dem Publikum kommt zu wenig. Keine Gegenrede, kein Zwischenruf, auch
wenn manches vom Panel vielleicht zunächst unverständlich wirkt
(Kohlenberger, obwohl ich eifriges Nicken im Publikum notiere, auch
Beifall), der Psychiater Maaz referiert was er schon mal in seinen
Büchern geschrieben hat, der Veranstalter und Direktor der
Landeszentrale für politische Bildung sichert seine Funktion und
Position listig ab, klingt im Nachhören aber vielleicht interessant.
Einiges (auch von mir) hört sich holzschnittartig an. Aber wie macht man
(ich) das in so einer nicht von mir zusammengewürfelten Situation
differenzierter? Denke über Zahlen und rechnerische Konstrukte nach,
dann bin ich schon wieder dran und soll was zu Gameshows sagen, anstatt
weiter über das größte Glück der größten Zahl und Dhragi und die
Finanzkrise nachzudenken. Das ist doch die Verbindung von Zirkus, Show
und Ökonomie. Zahlenakrobatik. Ein Finanzjongleur. Eine Scheinwelt, in
der es vielen ganz gut geht. Wir leben in einer Scheinwelt, einer
Fiktion ("Trumans World", ein amerik. Spielfilm mit Jim Carrey), die uns
gestattet die Probleme auszublenden. Wenn die angesprochen werden (z.B.
im Film) nimmt man das hin. Als Entertainment. Wie Kunst allgemein.
Oder wie kritische Vernunft oder Kritik der Vernunft. Ist alles eins:
Unterhaltung, immerfortwährende Erweiterung von Spielräumen, aber als
Selbstzweck.
Was der Film vorführt erscheint dem Saalpublikum
anscheinend als ein rein theoretisches Thema, keine und keiner (im
Publikum) hat das Gefühl zu haben es gehe um sie-ihn. Man betrachtet die
vorgeführte Problematik und wie es zu so einer Weltverfaßtheit kommen
konnte mit Interesse, dem Interesse des (halbwegs gebildeten)
Unbeteiligten. In aller Ruhe. Keine wirkliche Unruhe im Kino. Wie es ist
koennte es anscheinend immer weitergehen. Keine besonderen Vorkommnisse
schreibt der Wachmann nach seinem Rundgang ins Kontrollbuch. Das Bild
der Schafherde im Film. Die schäfichten Deutschen (Nietzsche). Obwohl
jeder weiß das der Laden in keinem guten Zustand ist. Aber er scheint
halbwegs zu laufen. Das scheint zu beruhigen und zu reichen. Heisst: Den
Leuten geht es gut. Auch eine Erkenntnis. Vor allem für die, die was zu
sagen haben.
Nochmal: Was im Kino fehlt ist die Gegenrede aus dem
Publikum zu dem was vom Panel kommt, und zu dem was der Film ausbreitet.
Amerika hat nach 1945 Europa neu gemacht, ist das kein Thema? So kommt
es nicht zum Streit, schon garnicht zu einem echten und offenen
Gespräch.
Das Panel dient so lediglich als Projektionsfläche und zur
Beruhigung von evtl. während des Films entstandener Verwirrung und
Unruhe, als notwendige Fläche für einen therapeutisch nötigen Nachklang
des Films. Die eigentliche Absicht des Abends (Film & Gespräch) kann
so aber nicht funktionieren. Schade. Frage mich: Geht es also nicht
ohne Formatbibel? Um zum Ergebnis (Interaktion zwischen panel &
audience) zu kommen (Zimbardo)? Oder ist der Abend eher im Sinne der
Feldforschungsmethoden von Margaret Mead interessant und ausreichend
(try and error)?
Kann aber den Hinweis auf das Buch von Mead "Keep
your Powder Dry" (Cromwell: Trust in God and Keep....") placieren. Da
ist vieles in schönster Klarheit nachzulesen. Vergesse aber leider
wieder auf die Passage von Mead hinzuweisen wo die amerikanische junge
Mutter Problemen bei der Erziehung ihrer Kinder ratlos gegenübersteht
(weil die Familie im klassischen Sinne weggefallen ist) und auf
Ratgeberliteratur in Journalen, Radio und später TV angewiesen ist. Sehr
gut die Passagen auch zu Integrations-problemen und amerikanischer
Indentität. Go West, ununterbrochener Wechsel von Ort und Zeit und
Neuanfang in Permanenz.
Vergesse leider auch das Bild des Büros zu
bringen, wo die Blaupausen und Weltentwürfe der berühmten
Wissenschaftler umgesetzt und praktisch organisiert werden sollen. Das
Büro besetzt von Dummköpfen, von der Sache Begeisterten, Übereifrigen,
Trinkern, Einsamen, Schusseln und Faulpelzen. Das macht es schwer bis
unmöglich aus Papier Welt werden zu lassen. Das was trotzdem entsteht,
reicht aber anscheinend. Lustig: Der Faulpelz, der einfach nichts macht
oder Aktivität nur vortäuscht scheint im Moment der neue Revolutionär.
In Konkurrenz zum Besitzbürger (kann aber auch beides in einer Person
sein). Gut, mehr scheint nicht drin bei so einer Veranstaltung in dieser
Konstellation.
Gilt immer noch die Herakles-Metapher mit dem Held in
einer Feedbackschleife. Ermüdend. Dann paar Glas Wein in netter
Begleitung. 2:00 im Hotel. Vorführung technisch i.O. Kino will den Film
weiter einsetzen. Dennoch irgendwie am nächsten Morgen mulmiges Gefühl
im Magen. Irgendwas lief schief, aber was? Weiter nach Leipzig, Sonntag
abend wieder Berlin.
23.04. Leipzig, Passage-Kinos:
Früh
schnell in Dresden bei Karstadt noch paar neue Socken (Burlington)
gekauft, ein Ritual, beruhigt mich irgendwie (auf der Pferderennbahn
bekamen nervöse Pferde eine Ziege oder ein Schaf in die Box gestellt,
das sollte die beruhigen). In Leipzig nach der Ankunft schnell in der
DB-Lounge, paar Emails und Kritiken googeln. Das meiste erschütternd.
Vieles ähnelt in Diktion und Urteilsvermögen dem was zu "Das Netz" vor
13 Jahren erschien. Nun ist eine neue Generation am Werk, die
Hilflosigkeit vor dem neuen Film ist aber eher noch größer. Es fehlt an
Zeit und Bildung. Alle wollen einen online-Screener und DVD. Um ins Kino
und in Pressevorführungen zu gehen und sich den Film als "Film"
anzuschauen haben die meisten keine Zeit. Das hat was Verelendetes,
Klägliches. Auch hier: Fiktionalisierung. Und dann das
medientheoretische Geschwätz, was auf Overgames nicht angewendet werden
kann. (Forum Expanded).
In den Emails, noch mitten in der Nacht geschrieben im Anschluß an
die Veranstaltung in Dresden, die Nachricht einer jungen
Kunsthistorikerin die grad in Köln promoviert "...das ist aber
(gestern) wirklich schade um Ihren guten Film gewesen. Allerdings, so
denke ich, wussten sie ja wohl sehr gut, auf welche Verzerrung des
Materials sie sich da eingelassen hatten. Bitte erlauben Sie mir aber
dennoch zu sagen, dass ich diesen Abend in all seiner Verzerrung für
ausgesprochen gefährlich halte. Bei einer solchen Besetzung des Podiums
(männlich, weiß, locker über 50, Tendenz moderat-rechts) allerdings war
das fast zu erwarten. Da wollten Sie es echt wissen, lieber Lutz
Dammbeck. Sie haben vielleicht Nerven!!!"
Nachmittags drei Stunden
mit dem Kurator vom Museum Inventarisierung, Listen durchgehen,
Archivnummern abgleichen, Werkgruppen bestimmten Nummern zuordnen.
Dann
im "Herakles Archiv", schöner großer Raum, die Unabomber-cabin fehlt
noch, ist zum "Begasen" bevor sie eingelagert werden kann. Der Kurator
liest grad in "Besessen von Pop", sagt er. Kommt aus Münster, Vater war
jahrzehntelang Direktor des dortigen Kunstmuseums. Ich glaub er fühlt
sich in Leipzig auch nach paar Jahren Anwesenheit immer noch bischen wie
im Ausland. Als er im Rahmen meiner Ausstellung im Museum Weserburg
Ausschnitte von Overgames sah, war der Abwehrreflex sofort da: Das ist
aber nicht mein Bild von ´68. Ich rufe Fred Gehler an, mit ihm soll im
Anschluß an die Vorführung das Filmgespräch stattfinden. Daraus wird
nichts, es gab einen Unfall im engeren Familienkreis, er muß nochmal ins
Krankenhaus, da wird operiert. Schade, ich hatte mich auf das Gespräch
gefreut, wir hätten über "Film" und "Kino" geredet und versucht
Overgames in die Reihe meiner und anderer Filme zu stellen. Hat ja alles
hier in Leipzig begonnen. Nun muss der Kurator einspringen, er hat ja
ohnehin für das Museum die Veranstaltung im Kino zu eröffnen. Er zieht
sich schnell zurück und beginnt in "Besessen von Pop" zu lesen.
18:00
ins Kino. Die Kinoleiterin ist erfreut, daß der Kartenvorverkauf seit
dem Vortag angezogen hat. Fast ausverkauft, 90 Zuschauer. Soundcheck,
wieder Pegel auf 3.9. Waaas, sagt der Vorführer, da würden mich andere
Produzenten aber lynchen, die wollen dass es richtig knallt.
Kino gut
gefüllt, nur die erste Reihe bleibt frei. Dann Filmgespräch. Der
Kurator ist bischen unsicher, es ist nicht sein Thema und Film nicht
sein Spezialgebiet. Erste vorsichtige Fragen aus dem Publikum. Immer
wieder: Was ist Ihre These, können Sie die mal erläutern? Dann Thema
Nation, nationale Identität, Verweis auf Pegida und deren Beharren auf
"Nation". Unterschiede nach 1945 im Verschweigen und Verdrängen von
Schuld.
Erwähne Tübke und sein Bild "Lebenserinnerungen des
Dr.jur.Schulze" das gegenüber im Museum hängt, technisch
mittelalterlicher und venezianischer Malerei, inhaltlich
antifaschstisches Votivbild. Verweise auf die Zäsur 1959-1960, wo auch
Fuchsbergers Show Premiere hat und zeitgleich die nächste Phase der
Re-Education beginnt. Der Patient ist nun, dank Wirtschafswunders.
ansprechbar. Nach dem erfolgten Zusammebruch nun Schuld anerkennen,
durcharbeiten, neujustieren. Auslöser die Hakenkreuz-Schmiereien in Köln
in der Sylvesternach 1959-60.
In der Adorno-Biografie von Detlev
Claussen gibt es einen Verweis auf eine geplante Studie Adornos und des
Instituts über das neo- und restfaschistische Potential in
Westdeutschland, Auslöser sind die Hakenkreuzschmierereien auf
westdeutschen Friedhöfen und an Synagogen. Meiner Meinung nach beginnt
ab hier die eigentliche Re-Orientation der Westdeutschen.
Nach dem
Historiker Michael Wolfsohn zwar als "Vorfall" von osteuropäischen
Geheimdiensten im Kalten Krieg initiiert, aber die Auswirkungen sind
enorm, und eine echte Cäsur.
"Adenauer befand sich auf einer
ausführlichen Amerika- und Japanreise, die nicht zuletzt das
internationale Renommee der Bundesrepublik Deutschland aufbessern
sollte. Denn um die Jahreswende 1959/60 hatten antisemitische Ausfälle,
darunter Hakenkreuzschmierereien an der neuerrichteten Kölner Synagoge,
die Konrad Adenauer drei Monate zuvor mit eingeweiht hatte, sowie eine
Reihe von Friedhofsschändungen für Empörung gesorgt. Heute ist bekannt,
dass sie von der DDR-Staatssicherheit in Auftrag gegeben worden waren."
(FAZ)
Siehe auch: Bundestagsdebatte 18.Februar 1960, Gründung einer
„Regierungskommission zur politischen Bildung", Teilnehmer u.a.
Horkheimer, Suche nach einem neuen gesunden Nationalgefühl; Heilung des
verletzten Stolzes der Nation durch die Arbeit der Kommission. Bis 1965
vier Arbeitssitzungen. Dann Gespräch über Religions-Substitute, Adam
Smith invisible hand, das Eigentum ist nun „heilig“. Wer es antastet:
Kopf ab. Von Hébert bis Ostblock. Die Ideen die nun an die Stelle der
alten Werte gesetzt werden heißen Individualität, Vernunft,
Rationalität. Der "Geist" des Kapitalismus: Preis und Ware. These: Der
„Geist“ oder die "Seele" des Systems müssen verdrängt werden, weil sie
nicht lebbar sind. Preis und Ware - Neid und Geiz. Ein teuflisches
Quartett.
Diskussion wieder zurück zum "deutschen Knacks", zum Thema
nationale Identität. Der Kurator verweist auf seine westdeutsche
Sozialisation, für ihn würden solche Dinge keine Rolle spielen, er sieht
in solchen Diskussionen ein rein ostdeutsches Phänomen. Bringt
Kulturnation und Verfassungspatriotismus ins Spiel. Alles andere
willkürliche Konstruktionen aus dem 19.Jahrhundert. Gab es in
Deutschland noch nie, einen Staat. Nur Stämme. Frage: Also einen Staat
zu bilden ist dem deutschen Wesen fremd? Er scheint ja zu sagen, obwohl
er sich um eine klare Antwort drückt. Weiter Gespräch über das Heilige
Römische Reich deutscher Nation, Napoleon und 1806. Verweise auf die
historische Hochbildung der deutsch-österreichisch-jüdischen Analysten
und Psychiater, die nach einer originären identitären Verfasstheit der
Deutschen suchten, um dort anzuknüpfen für einen Neuaufbau. Auf das
permanente Scheitern der Deutschen aus eigenem Willen und Bedürfnis
einen Staat zu gründen. Der letzte Versuch endete furchtbar, danach
waren sie nur noch Mündel.
Im Publikum ein Herr mit österreichischem
Akzent und Bierglas in der Hand. Versucht trunkenen Einwurf zur Länge
des Films, stoppe ihn mit dem Hinweis auf das österreichische Trauma von
1870-1871 weil Österreich beim zweiten Versuch einer Staatsbildung
nicht mit dabei sein durfte, ein Regressions-Phänomen. Erlaubt mir die
Überleitung zu den Regressions-Forschungen der Amerikaner. Antworte auf
langathmige und nur auf Abladen von vom Gefühl gespeister Statements
ohne echte Frage nicht mehr ausführlicher, nur ein knappes "Danke sehr".
Aber solche "Abladungen" sind wichtig. Ende der Veranstaltung in
aufgeräumter und gelöster Stimmung, Blumen für mich und den Kurator von
der Kinoleiterin. Zusammen noch ein Bier im Foyer. Wieder kommt er auf
wissenschaftliches Arbeiten zu sprechen, und (scheinbar aus seiner Sicht
ein Gegensatz) meine Art zu arbeiten. Das Übliche: Du würfelst wahllos
und willkürlich zusammen wie es Dir passt. Unterschwellig der Vorwurf
von Tendenz. Die Richtung scheint nicht zu passen, er hat es anders
gelernt, nun wird der Spalt gesucht über den díe Aussagen des Films
ausgehebelt werden können. Problem ist, dass die Fakten stimmen.
Einspruch gegen seine Bewertung von der Kinoleiterin die Kunstgeschichte
studiert hat.
Vom Museum ist niemand gekommen, weder die Direktion
noch Mitarbeiter. Schätze es waren 80-90 Zuschauer. Dann ins Hotel, noch
geselliger Ausklang beim Cousinentreffen der Familie meiner Frau. Alle
wollen morgen Vormittag ins Museum der bildenden Künste kommen, wo Teile
der durch Ankauf und Schenkung erworbenen Arbeiten zum "Herakles
Konzept" (LVZ: ein Kuckucksei) vom Museumdirektor vorgestellt werden
sollen.
Per Email kommt ein weiterer Kommentar zur Veranstaltung in
Dresden, von einem Komponisten der dort an der Musikhochschule lehrt: "...was
Sie über J. Fuchsberger gesagt haben, habe ich genauso wahrgenommen. Es
war eine Mischung aus Auffallen Wollen in einem TV-Kontext und einer
plötzlichen Eingebung, die ihn für den Bruchteil einer Sekunde seine
gameshow-Tätigkeit als „Gehirnwäsche“ empfinden ließ, bis er sofort
merkte, dass seine Beteiligung dabei ein wichtiger Punkt des
Funktionierens war. Interessanterweise habe ich gestern Abend einen
Hinweis bekommen, dass diese blitzartigen Eingebungen analog dazu in
einem mathematischen Modell existieren könnten. Wenn Sie wollen, werde
ich Sie auf dem Laufenden halten. Interessant waren auch die
Bewegungsrituale in den Gameshows, vor allem dieser „Gummibandtanz“ in
Blacky’s Show. Es verrät so viel vom Normalen, das sich fundamental vom
Natu?rlichen unterscheidet. Siehe auch den „krankhaften“ Anteil der
Bewegungsmuster aus den balinesischen Ramayana-Epos der Filmaufnahmen
von Margret Mead. Der Unterschied ist offensichtlich, vor Allem in den
Ergebnissen der Anwendun durch die Einbindung in ein grundlegend
unterschiedlich orientiertes System...leider kam die Bildsprache, wie
auch der Film selbst in seiner Vielschichtigkeit und künstlerischen
Aspekte in der Diskussion nicht wirklich zum Vorschein. Das kann
passieren bei so prozeßorientierten, offenen und trotzdem auf den Punkt
recherchierten Beiträgen wie Ihrem, wenn die „persönlichen Hausaufgaben“
(die, jedes Einzelnen, vor allem derer auf dem Podium) nur marginal
gemacht wurden..."
24.04. Leipzig, Museum der bildenden Künste:
11:00,
Veranstaltung in der dritten Etage des Museums, vor der Wand mit den 12
Arbeiten und einem Video von "Hommage á La Sarraz". Der Museumsdirektor
eröffnet mit der Merkung, wenn er beim Pressegespräch am Freitag mit
dabei gewesen waere, haette er beim Begriff "Kuckucksei" gleich
dazwischenge-grätscht. Gibt mir so die Gelegenheit das nochmal
ausführlich zu erläutern. Betone das nun beide Seiten Aufgaben haben.
Ich, mir das Museum überhaupt erstmal in Ruhe anzuschauen. Das Museum,
sich mal in Ruhe und mit Gründlichkeit anzuschauen was nun im
"Herakles-Archiv" ins Haus gekommen ist. Stelle meine Sorge in den Raum,
ob das Museum inhaltlich, technisch und finanziell überhaupt in der
Lage ist so einen interdisziplinären Ansatz darzustellen. Der
Museumsdirektor ähnelt meinem ehemaligen Leipziger Professor, ein Filou,
bringt gleich das Gespräch auf eine unterhaltsame Ebene, da folge ich
gern. Das schicksalhafte schwere Blei hängt ja ohnehin hinter uns an der
Wand. Gebe Anekdoten und paar Schnurren zum Besten, die Jahre im Osten
erscheinen ja wie ein Paradies, wundert sich der Direktor. Werde den
Teufel tun und eine bitternisgetränkte Leidensgeschichte und Klage über
verlorene Jahre abliefern. (den Jüngeren geht das ohnehin auf den Geist,
Opa erzählt wieder vom Krieg). Als er fragt: Warum wir nicht nach
Leipzig zurückgekommen sind ruft Karin:"Nur in Handschellen!", ehe ich
sagen kann: "Man zieht auch nicht zurück ins Kinderzimmer seinere
Eltern." Frauen sind eben radikaler. Das Publikum dankt für den leichten
und entspannten Ton mit Lachen und Applaus. Ob das das Museum in der
Lage ist den multimedialen Ansatz des "Herakles Konzept" willens und
imstande ist umzusetzen wird sich zeigen. Bin bischen skeptisch. Es ist
nicht so einfach (auch für mich) eine Idee zu entwickeln um das adäquat
darzustellen. Das kostet nicht nur Zeit sondern auch Geld. Aber ein
Narrativ zu entwickeln, um das "Herakles Konzept" mal im Raum, begehbar
und erfahrbar, zu inszenieren - dazu hätte ich schon Lust. Bilder,
Collagen, Texte, Film und Hörspiel zusammenzuführen - das gabs noch
nicht. Anruf bei Fred Gehler, berichte wie es gelaufen ist. Er liest mir
am Telefon ein Zitat aus einem Buch von Imre Kertész vor, über die
Hunde der Erinnerung. Großartig. Muss ich haben, unbedingt, er will es
mit der Schreibmaschine tippen und mir nach Hamburg schicken. Gespräch
bricht leider ab, Akku vom Handy leer. Zum Bahnhof, wieder nach Berlin,
am Abend Gespräch im Kino in der Brotfabrik mit Studenten der
Kunsthochschule Weißensee. Gottseidank ist heut keine Rezension
erschienen, das spart Nerven.
24.04. Berlin, Caligari-Platz, Kino in der Brotfabrik
:
Im
Kino 50 Besucher, paar sitzen auf den Stufen. Das Publkum vorwiegend
Studenten der Kunsthochschule Weißensee, dazu paar Künstler und
Stadtteil-Intellektuelle. Diskussion beginnt damit dass Claus Löser
erzählt das die Gründung der Berlinale Teil des Re-Education-Konzepts
der Amerikaner war. Da Cannes und Venedig noch nicht bereit waren die
amerikanischen Filme "hereinzulassen" baute man sich eine eigene
Plattform in Berlin. Ergänze mit Verweis auf das Literarische Kolloqium
am Wannsee, wo das New American Cinema mit Geldern der Forstiftung auf
Europatourneé geschickt wurde. Vergesse leider die Geschichte die mir
ein Hamburger Filmemacher erzählte. Als dann alle, Publikum, die
angereisten amerikanischen Filmemacher und ihre wißbegierigen jungen
deutschen Kollegen besoffen waren, sagte einer der Amerikaner: Ihr
blöden Arschlöcher, wißt ihr denn nicht dass das alles vom CIA bezahlt
wird? Wissen und Wissen. Auch hier, wie beim Hören und Sehen von
westdeutsch-amerikanischer "Propaganda" durch die Ostdeutschen: Man hört
und sieht es, versteht es aber nicht. Weil die soziale Wirklichkeit
fehlt. Auch weil es einem gefällt, und man es nicht wieder preisgeben
möchte. Stelle mir vor dass es Ruttman, Gropius, Benn und Heidegger
ähnlich ging (mit Binnendifferenzierungen, sicher). Dann weiter mit
Themen wie: Transfer Wissenschaft-Entertainment und Massenkultur.
Verweise auf Alan Funt, zeitweise Assistent von Kurt Lewin (Lewin: der
Gott für Milgram und Zimbardo). Funt hat das Format "Versteckte Kamera"
(Candid Camera) entwickelt, Vorläufer war "Candide Microphone". Ein
Abfallprodukt aus der Werkstatt von Kurt Lewin, der Gestaltpsychologie.
Wieder das Unbewußte, die Gotteshand: Mein Film "Dürers Erben" beginnt
mit Archivmaterial das den Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler zeigt, der
einen Schimpansen auf den Arm trägt, dessen Malereien vorgestellt
werden. (Korrektur am 9.Juni 2016: Das ist falsch, der Ausschnitt
zeigt den Kölner Zoodirektor, der von den Experimenten Köhlers mit Affen
auf Teneriffa erzählt!) Köhler gehörte wie Arnheim, mit dem ich
2004 in Ann Arbor für "Das Netz" ein Interview gemacht hatte zur
Berliner Schule der Gestaltpsychologie. War damals erschüttert über "das
Arnheim-Archiv", die wahllos und lieblos abgestellte Kartons in einem
kleinen Bürozimmer, und über Arnheims Situation im Altersheim in einem
2er-Zimmer. Den Sinnzusammenhang zu "Dürers Erben" habe ich allerdings
erst 15 Jahre später begriffen. Das Thema: Ideen von Versuchsanordnungen
werden in den Medien trivialisiert und kommerzialisiert.
Einer der
Studenten steht auf und sagt: Ich habe nun den Film zum zweiten Mal
gesehen und bin immer mehr beunruhigt. Im Film ist für mich vieles
unklar, wenn Sie hier sprechen ist das viel klarer. Er fühle sich durch
den Film manipuliert. Was ist Ihre Absicht? Denn manchmal sagen Sie, sie
machen das absichtslos. Versuche den Unterschied von These, Absicht,
Predigt und meinem Ansatz zu erklären, dass es sehr schnell technisch
wird, wenn man dem Material folgt. Immer der Nase nach, wie bei den
Gebr. Grimm. Das ist keine Zeit für Empathie und Vorbereitung einer
Predigt. Erkläre daß Film und Gespräch verschiedene Medien sind, sich
aber ergänzen.
Eine Frau sagt: "Overgames" ist offener wie der Film
"Das Netz", sie fühlt sich da wohler beim Umhergehen in den
Gedankenfeldern. Eine Studentin fragt wie man das Gute im Menschen
fördern kann, anstatt immer nur das Böse und Fehlgeleitete in den
Mittelpunkt zu stellen. Erinnere mich an die Diskussion mit jüdischen
Wissenschaftlern bei Weibels Tribunal am ZKM im letzten Jahr (Gegen die
Verbrechen der Moderne an Mensch, Pflanze, Tier). Der sagte: Aber bei
der Milgram-Study haben eben 30% nicht die tödlichen Stromstöße gegeben.
Da muß man ansetzen. Clear Elements, Frieda Fromm-Reichmann, auch
Brickner in seinem Buch.
Dagegen steht: Das tödliche Quartett Neid -
Geiz - Preis - Ware. Das verursacht doch gerade die Fehlbildung. Das
ewige Manko der Psychoanalyse: Haus ohne Fenster. 50 Zuschauer. Noch mit
Löser, seiner Freundin, einer Kamerafrau, und paar Studenten
zusammengesessen. Mit der Straßenbahn zum Hotel. Früh Richtung
Tübingen.
25.04. Tübingen, Kino Museum:
Spaziere eine
Stunde vor Beginn bischen durch Tübingen. Im Park hinter dem Kino ein
Denkmal für Carl Correns, den Statthalter Mendels "der das Zeitalter der
Vererbungslehre einleitete". Gehe auch am Kino vorbei. Zunächst finde
ich keinen Hinweis. Dann ein Schaukasten, aber nur selbstausgedruckte
Plakate und Zettelkram. Sieht bischen rumpelig und wenig einladend aus.
Frage den Kinoleiter wieso. Er hat keine Originalplakate bekommen. Der
Chef des Kinos (er hat noch sieben weitere in der Stadt) und breitet die
Malaise der Kinosituation aus. Interessant. Er wundert sich das so
viele Zuschauer kommen.
Eine Professorin des Zentrums für
Medienkompetenz der Uni Tübingen macht eine kurze Einführung zu meiner
Person und Werk: Bildende Kunst - Animations-und Experimentalfilm -
Dokumentarfilm. Völlig korrekt, kurz und knapp. 80 Zuschauer. Es läuft
die DCP die ich in Bochum gesehen habe, dort lief sie fehlerfrei. Hier
ist am Beginn des Kapitels "Quex" ein kurzer Tonausfall. Das kann
eigentlich nicht sein, denn beim Aufspielen der Daten von der
DCP-Festplatte wird mittels einer Prüfsumme kontrolliert, ob alle Daten
überspielt wurden. Ansonsten bricht das System ab und gibt eine
Fehlermeldung raus. Tja, und wo waren nun die Daten dieses Aussetzers?
Kopie ist schon weitergeschickt. Muss ich in Wiesbaden nochmal testen.
Bild wurde nicht vollständig wiedergegeben, oben und unten war etwas
abgeschnitten. Hatte mich auf den Kinoleiter verlassen das sie eine
Supertechnik haben. Hätte doch anspielen lassen, kann ja am Objektiv
verändert werden. Die Tour hinterläßt bei mir langsam Spuren. Bleibe nun
bis zum Ende der Vorführung sitzen.
Die Diskussion ist freundlich,
viel Begeisterung und Dank, rede am meisten, habe dann doch gute Laune,
verkaufe auch paar Bücher. Dann noch in kleiner Runde Maultaschensuppe
und zwei Bier. Am Tisch sitzt ein Tübinger Verleiher, den ich aus
Hamburg kenne. Er hat nach 1989 ein, zwei Filme in Leipzig und über den
Osten gedrehtund betreibt in Leipzig das Passage--Kino, wo auch einige
Tage zuvor Overgames lief. Erfahre nun das er in Leipzig geboren wurde,
in Taucha. Er gibt noch eine Runde Grappa aus und läd mich ein am
nächsten Morgen in seinen Verleih zu kommen, will mir noch paar
Kinoadressen mitgeben.
Auf dem Weg zum Hotel erzählt mir der
Mitarbeiter der Universität der die Veranstaltung großartig vorbereitet
hat und paar Jahre beim SWR als Redakteur gearbeitet hat: Das Kino ist
tot, aber das öffentlich.-rechtliche Fernsen bald auch. Die Dritten
Programme sterben mit dem Publikum und den Redakteuren. Angesichts der
trostlosen Lage auch dort ist die Pensionskasse (da gehen fast 70% der
Gebührengelder hin, gleicht Onkel Dagoberts Swimming Pool voll mit
Goldmünzen) Valium, Glückserwartung und Schmerzensgeld in einem.
Die
Redakteurin von Zeit-Online teilt mir per Email mit, dass kein Text
über Overgames erscheinen wird. Ihr Autor habe kurzfristig abgesagt.
Schon merkwürdig. Vor drei Wochen hatte sich ein Autor gemeldet und eine
DVD erbeten. Dann meldete sich ein anderer Autor drei Tage vor
Filmstart. Er habe den Auftrag einen Text zu schreiben. Beide sind am
Film gescheitert? Frage bei Zeit-Online nach und biete exklusiv das
Tourtagebuch an, sollen sie es doch online stellen. Keine Rückmeldung.
26.04. Tübingen, Arsenal Filmverleih:
Kurzer
Schnack über Hamburg und Leipzig, er stellt mir seine Mitarbeiter vor.
Längeres Gespräch mit einem ehemaligen Studenten von Walter Jens. der
nun Chef für Verkauf und Vermietung ist. Gutes Gespräch über 68, moderne
Massengesellschaft und vor allem die Entwicklung von Film und Kino.
Düsteres Panorama. Erschreckend: Studenten kommen nicht mehr in die
Filme, auch wenn es leichtere und unterhaltsamere Kost ist wie
Overgames. Sitzen in Blockbustern. Oder schauen auf dem Laptop. Also
Reduktion. Bereden die Idee im Herbst nochmal eine kleine Südwest-Tour
um Tübingen und das Arsenal herum zu stricken. Er gibt mir zwei
Branchenjournale mit, BLICKPUNKT:FILM und Filmecho/Filmwoche. Blättere
das im Zug durch: Box Office, Branchentips, wieder die Fotos von den
Feiern und Empfängen wenn sich Produzenten, Förderer und Filmbeamte
treffen. Wie beim Hausarzt, wenn man sich neugierig und angewidert den
in Gala und der Bunten abgebildeten people-Zoo betrachtet. Lasse die
Hefte im Zug liegen. Gibt nur schlechtes Karma. Mit mir und meinen
Filmen hat das nichts zu tun.
26.04. Würzburg, Kino Central:
Das Kino ist eine
ehemalige Schule. Das Gebäude wirkt etwas verwahrlost, auch bedingt
durch die lange Zeit des zwischenzeitlichen Leerstands, Erinnert mich
von außen an Kulturhäuser in der russischen Provinz. Innen aber
angenehmes Foyer, gute Infos zu den Filmen, der Kinosaal sehr schön,
dann auch technisch gute Vorführung. Das Kino wird betrieben von einem
Verein, 500 Mitglieder, eine GmbH. Bürger wollten in Würzburg ein Kino
behalten, wo gute Filme gespielt werden, und organisierten sich. Bald
gibt es einen Neubau auf dem Gelände einer ehemakligen Brauerei.
31
Zuschauer. Die lokale Presse berichtet nicht mehr über das Programm des
Kinos, die Zeitung wird gefüllt mit Beiträgen einer Zentralredaktion, um
die nur noch lokal ein Mantel gelegt wird. Während des Abspanns huschen
2/3el der Zuschauer aus dem Saal. Mit dem Rest angeregtes Gespräch.
Frage: Warum nicht kürzer geschnitten, es wird zuviel Zeit mit Bildern
verbraucht die nutzlos erscheinen, vor allem wenn Sie (ich) im Atelier
sitzen. Das würde doch reichen nur einmal zu zeigen. Die vielen Schnitte
die Bücher zeigen. Was soll das für Informationen bringen? Im Internet
sind die Filme komprimierter. Gegenfrage: Stört Sie das ich 4-5 mal im
Bild zu sehen bin? Nein, aber kürzer und den Film eher als Serie á 20
Minuten.
Schauen Sie sich den hier an, sagt die Kinochefin zum Abschluß
der Veranstaltung und zeigt auf mich, einer der letzten Autorenfilmer.
Seine größte Leistung ist, das es diesen Film überhaupt gibt.
Im
Anschluß mit der Kinochefin zum Italiener. Wir kennen uns aus Berlin,
Sie hatte 1993 meinen Film "Zeit der Götter" ins Kino gebracht. Erinnere
mich an den gemeinsamen Auftritt bei den Internationalen
Filmfestspielen in Venedig, an ihren weißen italienischen Sportwagen mit
roten Ledersitzen und das Essen nach der Vorführung im Festivalpalast
unter Bäumen in einem kleinen Landgasthof.
Was hat sich seitdem
verändert? Das Kino ist eine Maschine geworden. Auch hier Technisierung
und Ökonomisierung, Hand in Hand. Mitte der 1980er Jahre ist sie mit
anderen Verleihern und Kinobetreibern nach Brüssel gefahren. Dort war
gerade einer der ersten Cineplexe eingeweiht worden. Ein Kasten aus
Sichtbeton, kackbraun angestrichen. Alle waren entsetzt: So sieht also
die Zukunft des Kinos aus. Es ging um Kostenreduzierung. Ein Projektor
bespielt nun fünf oder mehr Säle. Das Konzept kam aus den USA. Das
technische System hieß "Interlock" (heute noch? googeln). Ganze
Jahrgänge von Heranwachsenden werden inzwischen in Cineplexen, oft am
Stadtrand, sozialisiert. Fahren als Gruppe dahin. Essen gehen (Fastfood,
Tacos, Cola), dann einen Blockbuster mit Dolby-Dröhnsound, dann
Abtanzen. Einer muß nüchtern bleiben, um die Gruppe nach Hause zu
fahren. Hier werden Geburtstage gefeiert, Partys und findet
Sozialisierung statt. Keiner muß das Cineplex, eine Box, verlassen. Oft
werden heute die Cineplexe in Malls gebaut. Erinnere mich an die
Gameshow "Supermarket Sweep", die wurde praktischerweise gleich in einem
Supermarkt gedreht. Werbung und Programm gehen ineinander über. Wer von
den Kandidaten die meisten Produkte in seinem Einkaufswagen packen
konnte, hatte gewonnen. Inzwischen sind schon drei Generationen
"Cineplex-sozialisiert". Die sind für Arthouse-Kinos verloren. Was heute
Arthouse ist, war vor 10 Jahren noch kommerzielles Kino. In einem der
Inserts in Overgames verwende ich das Wort "Mutti". Wo hast Du das her,
fragt sie. Sie hat es zum ersten Mal gehört nach 1989, von Leuten aus
der DDR. Das Wort gabs im Westen nicht, da hieß es "Mutter".
Ost-West-Sprache: Im Osten hieß es "Führerschein". Im Westen
"Fahrerlaubnis". Entspricht "drivers license" in Amerika.
27.04. Freiburg, Kommunales Kino:
Früh Fahrt nach
Freiburg. Erfahre per Email daß das Kino vergessen hat rechtzeitig ein
Zimmer zubestellen. Nun stellte sich raus das gerade eine Bürstenmesse
in Freiburg ist. Das Zimmer hat keine Dusche, die ist auf dem Flur. Teil
der Erziehung zur Bescheidenheit.
In DIE WELT auf Seite 1:
"Deutsche Teenager verlieren Lust an der Rebellion....sie sehnen sich
nach Geborgenheit und Halt, mehr Toleranz für eine multi-ethnische
Gesellschaft - aber auch nach Entschleunigung". Der Artikel bezieht
sich auf eine neue Sinus-Jugendstudie. Die stellt auch ein Unbehagen
angesichts permanenter Verfügbarkeit fest. Keine Angaben wer
Auftraggeber oder Produzent der Studie ist. Im Hotel dann die
Überraschung: Ein schönes Zimmer mit Blick auf den Dom. Die Stimmung
steigt.
Im Kino 45 Besucher. Vorführung ist technisch o.k., auch der
Bildausschnitt stimmt. In der Mitte des Films verlassen drei ältere
Herrschaften mit dem Habitus des Freiburger Alt-68er schimpfend die
Vorführung. Die Passagen im Kapitel Quex, in dem die amerikanischen
Wissenschaftler den deutschen Nationalcharakter analysieren und von
einer deutschen Therapie für die Krisen der Moderne die Rede ist,
scheinen sie in Rage versetzt zu haben. "Wann hört denn die
Märchenstunde endlich auf", hatten sie vorher gut hörbar zum besten
gegeben..
Klaus Theweleit trifft kurz danach ein, er kommt vom
Volleyball. Dann das Gespräch. Zunächst lobt er meinen Film "Zeit der
Götter". Der war großartig, geht inhaltlich und ästhetisch über
Syberberg hinaus, ist ihm auch in der Haltung viel sympatischer. Leider
findet er "Overgames" nicht gelungen. Sogar mißlungen! Vor allem der
Schluß mit dem Kapitel zu ´68. Das war ja alles ganz anders.
Nein, wir
sind GEWORDEN! und nicht GEMACHT!
Und Leihidentitäten! Da muß er auch
scharfen Protest anmelden Das war damals eine neue, echte Identität.
Mit der Befreiung von Familie, Herkunft. Alles wurde anders, neu, und
Verkrustungen wurden aufgebrochen. Wir haben uns teilweise sogar als
Schwarze (Black Panther?) gefühlt, nicht als Deutsche. Das Publikum
schaut verdutzt. Und die Musik war wichtig. Dann zählt er auf was diese
68er Generation geprägt hat. Und bestätigt so, ohne es anscheinend zu
bemerken, mit seinem biografischem Material alle Punkte die im Film aus
der Blaupause für die Re-Education zitiert wird.
Frage aus dem
Publikum nach meinen Intensionen, warum habe ich den Film überhaupt
gemacht? Die Fuchsberger-Story als Zündfunke, das Gefühl nach 1986 einen
fremden Stamm zu besuchen. Eine Frau sagt: ich weiss, wovon Sie
sprechen, ich bin aus Westdeutschland nach Ostdeutschland gegangen, und
musste auch einiges lernen. Ja, aber sie gingen dahin als Sieger, ruft
es aus dem Publikum, nicht als Mündel. Das ist etwas ganz Anderes. Einer
aus dem Osten der nun in Freiburg lebt. Fahre fort: Sich wie ein
Anthropologe fühlend, fremde Zeichen und Codes studierend, um sich in
der Wildnis zurechtzufinden. Nach Mustern suchen. Was mir dabei auffiel
waren bei bestimmten Themen neurotische Reaktionen. Das schienen
Un-Themen: Deutsch, Idendität, Nationales, Wer bin ich. Man wollte
anscheinend nicht gestört werden beim (durch Re-Education unterstützten)
Fluchtversuch vor den auch nach 1945 fortwährenden Indentitätsproblem
der Deutschen (in Ost wie West) in eine trans-nationale Postmoderne.
Dazu als Hymne: "Ich will alles, ich will alles, und das sofort!" von
Gitte. Einerseits total amerikanisiert, andererseits amerikakritisch.
Unamerikanische Amerikaner. Das Erscheinen des (der) Ostler schien einen
überwundenen Zustand wieder aufzurufen, das störte. 1989 als Beleidung
und Zumutung.
In dem Umfeld, in das wir 1986 hineingerieten, war man
sich einig im Hass auf diesen Staat, dessen Angebot für Spielwiesen und
Freiräume für eine Flucht vor dem eigenen Anteil an der
trans-genrationalen Aufarbeitung der Geschichte gern angenommen wurde.
Zugegebenermaßen, es ist nicht einfach sich nun das "Gemacht statt
geworden zu sein" im Film anzuhören.
Th. versucht es dann auch
kleiner zu dimmen, indem er meine Einlassungen und den Film Ergebnis von
Anpassungsproblemen eines Ostdeutschen deklariert. Aus dem Publikum
kommt die Frage an Th.: Wie sehen Sie denn Ihre Biografie, als
Ostpreuße, in Bezug auf die Meltingpot-Konzepte von Mead und Bateson?
Th. erzählt wie er mit Familie nach Norddeutschland kam, nach
Schleswig-Holstein, das Fremdsein dort. Erst auf dem Gymnasium wurde das
besser, da waren die Flüchtlingskinder in der Überzahl und gaben den
Ton an. Die Kinder der ortsansässigen Bauern besuchten die Schule nur
bis zur mittlerer Reife. Mache dann einen Fehler. Um auch mal das
Seriöse und Bedeutsame von Mead und Bateson zu betonen verweise ich auf
die Rolle bei der Entwicklung von Kinder- Familie- und Paartherapie nach
1945 in Westeuropa hin. Ha, ruft Th., schon falsch, das wissen Sie
anscheinend nicht, mit Kinderpsychiatrie hat der Bateson aber garnichts
zu tun, da waren Frieda Fromm-Reichmann, Anna Freud wichtig. Hmm, er hat
leider recht, ein Fehler im Eifer des Gefechts. Suche am nächsten Tag
in meinen Unterlagen: "Den größten Beitrag zur theoretischen Basis
der Kinderpsychiatrie lieferte die Psychoanalyse, basierend auf Sigmund
Freud's Arbeiten." Natürlich Namen wie Adolf Meyer, Chicago, nahm auch
an der Brickner-Konferenz in der Columbia Universität teil. "Child
Guidance Movement», Arnold Gesell. Zitat aus "A history of clinical
psychology" von John M. Reisman: "Angesichts der besorgniserregenden
Veränderungen der aktuellen sozialen Umstände, insbesondere der Schwäche
der Familie als einer Institution, gibt es zwingende Gründe, darunter
auch die von uns beschriebenen, der Psychiatrie der Familie und ihrer
Theorie und Praxis die Türen zu öffnen".
Was aber richtig und auch
wichtig ist: Bateson und sein technokratisches Verständnis von
Psychotherapie, seine Rolle im Westen für die Familientherapie nach
1945, die systemische Familientherapie. "Doubkle bind". 1960 erscheint
bei Suhrkamp 'Schizophrenie und Familie' . Vieles läuft vor 1945 in der
Entwicklung von Familientherapie und Gruppentherapie über die
Orthopsychiatry-Bewegung, und da sind wir zumindest nah an Bateson und
Mead. Gut, das hatte ich leider nicht parat.
Natürlich gibt es, wie
bei den bisherigen Vorführungen, auch Komplimente: "Sehr anregend“, „ein
gross angelegter Versuch einer Ideengeschichte vom 18. Jahrhundert bis
heute“. Aber die kritischen Einwürfe und Fragen finde ich interessanter,
was da rauskommt aus den Leuten. Erwartungsgemäß kommt auch der
obligate Vorwurf, eine Verschwörungstheorie zu verbreiten. Aber wer
sollen denn die Verschwörer gewesen sein? Zu welchem Plan haben die sich
verschworen? Th. sagt, dieses Wort "Verschwörungstheorie" lassen wir
mal raus, das streichen wir, das ist Quatsch und vergiftet nur die
Debatte. Es gibt Leute die machen einen Plan und suchen für dessen
Umsetzung Unterstützer und Geld. Punkt. Stimme zu. Wir beschließen dass
das nun für Alle zu gelten hat. Die Deklaration von Freiburg. Muß an das
Interview mit Heinz von Förster im Film "Das Netz" denken, wo er sagt:"Sagen
wir, es ist eine Lücke in meiner Theorie, da kann ich nicht mehr drüber
springen. Da sag ich als Physiker einfach: na, hier sind neue Teilchen,
die entweder grün, gelb oder .....ich weiß nicht was sind...die
ersetzen das Loch in meiner Theorie. So behaupte ich: jedes Teilchen,
von dem wir heute in der Physik lesen, ist die Antwort auf eine Frage,
die wir nicht beantworten können.“
Die Formulierung im Kapiel
"Golem", dass am Ende der Revolution steht der Besitzbürger steht "(und
nicht die Veränderung der Besitzverhältnisse) verursacht ihm und einigen
im Saal auch Bauchschmerzen. Denn damit fällt die Französische
Revolution als linkes Projekt oder besser, als dessen Vorspiel, weg.
Natürlich gibt es zur Zeit der Franz. Revolution noch keinen
Kapitalismus wie wir ihn heute kennen. Aber, die in die Individualität
entlassenen Einzelnen werden wenig später (Schafherde!) eingefangen, als
verfügbare Masse für eine moderne Industriegesellschaft, heute mit
unbegrenzter Verfügbarkeit.
Es wird hitziger, Th. und ich reißen uns
nun fast jeweils das Mikro aus der Hand um uns gegenseitig oder auf
Fragen des Publikums zu erwidern.
Es gibt jetzt viele Wortmeldungen,
fast entsteht ein richtiges Gespräch zwischen den im Kino verbliebenen
(ca. 30) Personen. Nur erzählt jeder aus seiner Perspektive und trägt
erstmal seine Wahrheit vor. Natürlich habe ich das mit dem Film auch so
gemacht. Einige wünschen sich etwas was ihnen im Film fehlt: Die
russischen Experimente und Versuche die Masse Mensch zu formen, zu
modellieren. Warum nicht China? Oder Verweise auf die Vielfalt der
amerikanischen Realität? Verweise darauf dass der Film nur die Suche
nach Werkzeugen zeigt, mit denen der Laden zusammengehalten werden kann,
damit er nicht auseinanderfliegt.
Einige versuchen das Gefühl zu
beschreiben, das der Film hinterlassen hat: Der deprimiert zu sehr,
zeigt keine Lösungsvorschläge, zeigt nicht was als Alternative im
Angebot ist, zeigt keine Perspektive wie es ANDERS weitergehen könnte.
Overgames habe etwas Totalitäres, Eindimensionales. Der Wunsch nach
einem Happy End, einer klaren Botschaft am Filmende ist unüberhörbar.
Wende ein, dass ja dafür ja gerade das Medium des Gesprächs gedacht ist.
Sehe aber (auch bei mir) wie schwer das ist, sich öffentlich zu zeigen,
öffentlich nachzudenken ohne vorgefertigte und gelernte (angelesene)
Schablonen zu benutzen.
Verweise auf Begriffe wie "Diffusität" -
"Zwielicht" - "Unschärfe", statt "Eindeutigkeit". Deren Nähe zu
Propaganda. Insofern ist der Film menschlich. Einen stört daß zu viele
Gameshows gezeigt werden, die lenken ihn ab vom Eigentlichen, der
Ideengeschichte einer Permanenten Revolution. Ein bedenkenswerter
Einwurf, ob nicht durch dieses wiederholte Aufgreifen von Fuchsbergers
Geschichte und den damit verbundenen Zitieren von Ausschnitten aus
Gameshows der Film an Attraktivität verliert. Denn die grossen Linien
laufen Gefahr durch diese „Schleifen“ überdeckt zu werden. Dadurch
verschwinden die größeren und wichtigeren Themen vielleicht zu schnell
nachdem sie aufgetaucht sind, und bevor sie ihre Wirkmächtigkeit beim
Zuschauer voll entfalten konnten. Denn nicht jeder hat einen
ethnologischen und psychologisch geschulten Hintergrund und ist mit den
im Film angesprochenen Aspekten vertraut. Damit wird die Tiefendimension
des Films vielleicht zu sehr verdeckt weil der (falsche) Eindruck
entsteht, es ginge hauptsächlich um die Beantwortung der Frage, ob
Fuchsbergers Behauptung stimmt. Und das sei das zentrale Anliegen des
Films. Stimmt, ich hätte in der Mitte des Films sagen müssen dass mich
Fuchsberger aus bestimmten Gründen irgendwann nicht mehr die Bohne
interessiert, und dass ich viel interessantere Fragen gefunden habe und
versuchen werde diese zu beantworten. Hier ist dann doch der Druck des
Fernsehens und diese ganzen Benimmregeln betreffend Verständlichkeit,
Massenwirksamkeit und Erzählkonvention zu nennen - und wie auch ich
diesen Druck anscheinend verinnerlicht habe. Ich erinnere mich noch gut
an die Angst dass die Fernsehsender auf den im Vertrag fixierten 90
Minuten Länge bestehen. Die Erleichterung und wilde Freude als die Länge
von 164 Minuten akzeptiert wird (aber für uns kostenneutral, lieber
Herr Dammbeck). Wie mag es denen gehen, die noch existenzieller davon
abhängig sind, für das Fernsehen arbeiten zu dürfen?
Auch die Frage
nach dem Guten, was dieser Weltheilungsversuch "Permanente Revolution -
amerikanisches Modell" doch AUCH hat, ist berechtigt. Sitzen wir nicht
gemütlich mit einem Glas Rotwein in der Hand im Kino, den Film gibt es
ja (such dank der staatlichen Filmförderung und des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens), und diskutieren? Hat dieses System
(nicht bestrafen, kein "Kopf ab!") nicht auch bunte, sympatische,
komfortable Seiten? Sollen oder muessten die nicht auch oder
umfangreicher im Film gezeigt werden? Einer fragt: Was sollte das mit
den Freimaurern? Wieso ich überhaupt in die Freimaurer-Loge gegangen
bin? Fällt mir im Moment nicht ein. Ja, gute Frage, wann und wieso kam
es dazu?
Nach dem Ende der Veranstaltung noch in kleiner Runde im
Foyer ein Glas Rotwein. Th. sagt daß ihm beim Anschauen der DVD zu Hause
die Musik gestört hat, die war viel zu laut. Im Kino hat es ihn nicht
gestört, da war es o.k. Ja, ein Dilemma. Fast alle Rezensenten schauen
den Film auch nur auf DVD oder einem kleinen mp4 auf ihrem Laptop.
Heißt: Die sehen und hören eigentlich garnicht den Film. Scheiben aber
über "Film". Also Lutz, sagt Th. dann zum Abschluß, das Kapitel mit den
68ern mußt Du rausschneiden. Das geht so nicht. Und im "Quex" gibt es
eine viel wichtigere Szene als Du gezeigt hast. Welche denn? Der Quex,
der Heini, heißt ja mit Nachnamen Völker, Heini Völker. Und in der
Szene, wo ihn der Vater zwingt die Internationale zu singen und ihn
schlägt hört man im Hintergrund das Lied "Völker hört die Signale". Bin
überrascht, werde ich aber mal nachprüfen. Ich glaube, Th. hat die
Veranstaltung gefallen. Mir auch. Hat mich gefreut dass er gekommen ist.
Dann
mit dem Veranstalter zu Fuß durch das nächtliche Freiburg. Sage, hier
scheint doch alles in Ordnung zu sein. Er lacht. Das ist, neben Berlin,
die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychoanalytikern und Psychologen.
In der nahen Schweiz sind viele Ausbildungsinstitute. Heißt das, hier
gibt es eine hohe Krankheitsdichte? Nein, nicht alle, die zum
Psychologen gehen, sind krank. Für viele ist dieser Schritt immer noch
verbunden mit der Hoffnung ein erfüllteres Leben führen zu können. Im
Fernsehen läuft die Wiederholung des Spiels Bayern München-Athletico
Madrid. Schaue bis 2:00, schlafe dann dabei ein.
Am nächsten Morgen noch auf einen Kaffée mit der Historikerin, mit der ich in der Vorbereitungszeit des Films einige sehr interessante Gespräche über die Französische Revolution (ihr Spezialgebiet) geführt hatte. Sie hat bei einigen Stellen im Film Probleme, Sie würde da gern das in sich Komplizierte, Widersprüchliche bestimmter Prozesse mehr ausgebreitet sehen. Also nicht nur formale Analogien von Symbolen, Ausdrucksformen oder Interessen, etwa gegeben bei einer Kontinuität von Erziehungsideen seit dem 18. bis ins 21.Jahrhundert, sondern, so verstehe ich es, dem Durch- und Gegeneinander bei der Durchführung mehr Raum geben. Zeigen das es in unterschiedlichen Kontexten stattfindet. Aber am Ende gibt es doch den Verweis auf den Wirrwarr in dem viele Konzepte untergehen, sich auflösen oder verändern? Reicht ihr nicht. Dann würde das aber einen Film ergeben, der zwei Tage läuft. Klar, das wärs. Nur, wer finanziert oder zeigt den dann? Und, wer will das anschauen? Weiterfahrt nach München.
28.04. München, Kino im Filmmuseum:
Der
Film läuft in der Reihe "Die besten deutschen Filme 2015", ausgewählt
von einer Jury aus Filmkritikern. Zunächst war der Leiter des
Filmmuseums skeptisch, ob jemand zu "Overgames" ins Kino kommt. Er war
zur Uraufführung beim Filmfest München im Arri-Kino gewesen und hatte
die turbulenten Szenen und Angriffe auf den Film nach Ende der
Vorführung miterlebt. Nun 65 Zuschauer im Kino. Mein Gesprächspartner
Geog Seeßlen erscheint. In der Einführung nennt er "Overgames" einen
Diskurs-Film. Einen Film als offenes System, wo man jemand beim Denken
zuschauen kann. Einen Film dessen Suchbewegungen man gern folgt, aber wo
die Ergebnisse dieser Suche auch Gegenwehr erzeugen. Frage ihn was er
damit meint. Bei welchen Passagen erzeugt der Film, bei ihm? Gegenwehr?
Das geht leider unter und wird an diesem Abend von ihm auch nicht
beantwortet werden. Wieder mein Gefühl des Unwohlseins beim Gegenüber.
Aber es geht nicht um ein weiteres "68er Bashing", wie Theweleit in
Freiburg vermutete. Aber
dieses „GEMACHT“ zu sein statt „GEWORDEN“ zu
sein wird als narzistische Kränkung empfunden. "Labormaus" ist schon
hart. Was übersehen wird: Das Absetzen von den NS-Vätern, die Anklage
von derem verstockten Verschweigen des Geschehenen ist noch kein
Persilschein und Freispruch von transgenerational existierenden
Schuldanteilen, der unbewußten Identifikation mit NS und familiären
Verstrickungen. Viele waren noch auf NS-Eliteschulen gegangen, der NS
hatte den Alltag und das Denken der Meisten bestimmt.
Dass der Sprung
"auf die andere Seite", zu den Guten, gescriptet, ein Sprung nach
Drehbuch war, ist sicher nicht leicht zu ertragen. Also, was als frei
gewählt und als eine aus sich selbst heraus vollzogene Neuwerdung
verinnerlicht wurde, wird im Film als das Ergebnis eines Erziehungsplans
dargestellt. Die in den Medien ventilierten Bausteine dieser Erzählung
vom Anderswerden: Kiffen, lange Haare, Schah-Besuch, Ho Ho Ho Chi Minh,
Beat Club, später dann Spex und Geniale Dilletanten. 1968: ein Hoax? Was
paradox erscheint: diese 68er kämpfen gegen die Amerikaner, die ihnen
das ermöglichen was die 68er dann als ihre "Neuwerdung", besser
"Selbst-Neuwerdung" bezeichnen und den Ruhm dafür einkassieren, der zu
Ansprüchen berechtigt. Belohnt zu werden.
Amerika wird zwar als der
neue Faschismus bezeichnet, aber die Segnungen der amerikanischen
Kultuindustrie werden begeistert aufgesogen und verinnerlicht. Denn auch
im Underground und in der Counterculture heisst es wie im Mainstream:
Sie spielen unser Lied. Nur eben anders instrumentalisiert.
Was
diesen Generationen erspart bleibt, ist die Anstregung transgenerational
übernommene Schuldanteile anzunehmen, und aufzuarbeiten. Man entzieht
sich dieser unangenehmen Situation. Sie sind nun bei den Guten. Man
entgeht dem Tribunal, indem man es wird. (Odo Marquard).
Das führt
zum satten Gefühl von Siegern, die dann in den 70ern und 80ern im
dunklen, grauen Osten Lehrstunden geben: Schaut doch mal wie wir das
machen, seid doch mal mutiger. Macht mal ein sit in, getraut euch mal
was. Schaut, wir machen Revolution und krempeln alles um. Getragen vom
Gefühl: der Faschismus kommt zurück. Woher kam diese Parole? Wer hat die
verbreitet?
Was ist, wenn der Faschismus garnicht wiederkommen konnte?
Nach dem Film wieder Gespräch. Einer vermißt die positiven Seiten der
Re-Education, die Demokratisierung der Deutschen. Erinnert an die
Rohstock-Pädagogik der 50er und 60er Jahre, die alten Faschisten in den
Ämtern, Schulen und Behörden.
Seeßlen spricht über Hybridfilme,
Mischung von Film und Kunst. Erkläre das zu postmodernem Unfug. Das Kino
oder besser der Film wird im Museum und der Galerie sterben. Aber in
Schönheit wirft Seeßlen ein. Als seltsamer Hybrid im Kunstmarkt. Den
Museen und Galerien gehen die technischen Ansüprüche das vorzuführen
schon jetzt auf die Nerven, auch der Aufwand das technisch verfügbar zu
halten und die Schwierigkeit es zu verkaufen. Dann über das Verwischen
der Grenzen am Beispiel der Shows im TV: Studiogäste spielen
Studiogäste. Die müssen nicht mehr gebrieft und unterwiesen werden, die
wissen was von ihnen erwartet wird und bieten das selbst an. Aufheben
der Trennung von Bühne und Saal, von Moderator und Saalpublikum, dem
"Schwenkfutter", das nun aber selbst aktiv werden und Rollen übernehmen
darf. Schrecklich, seufzt es im Kino. Dann wieder über das Medium des
Gesprächs, das den Film ergänzt, ergänzen muß. Das es doch darum geht -
unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung des
im Film skizzierten Gesellschaftsentwurfs - darüber zu sprechen wie es
weitergeht. Weiß nicht mehr wie ich es formulierte, aber es gibt
plötzlich Szenenapplaus. Ohne "Warm-up Session". Eine Frau sagt: Der
Film ist doch ein einziges wirres Amalgam nicht zusammengehörender
Einzelteile. Sie meint es kritisch. Seeßlen erklärt den Begriff des
Amalgamisieren, die Vereinigung verschiedenartiger (auch sozialer) Teile
zu einem neuen Ganzen, eine Verschmelzung zu etwas Neuem.
Goldgewinnung. Alchemie. Als die Erregungskurve der Veranstaltung
bischen flacher wird, gebe ich die in Würzburg ergebnislos erörterte
Frage nach dem Ursprung des Wort "Mutti" in den Saal. Seeßlen sagt er
kann das erklären: "Mutti" ist protestantisch, eher kühl und hart (Mutti
Merkel), und "Mutter" oder "Mamma" ist katholisch. Eher weich,
mütterlich. Nun kommt nochmal Bewegung auf. Einige melden sich zu Wort
und erzählen wie es bei ihnen in der Familie zuging, Mutti, Vati oder
Mutter, Vater. Einer verweist auf den Wortstamm "mamma", Brust, säugen.
Anschließend lustiger Ausklang im Bistro des Filmmuseums, viel gelacht.
Gute Stimmung, schöner Abend.
Am nächsten Tag vor der Fahrt nach
Seefeld an den Starnberger See: Meine Tochter Sophie war gestern auch im
Kino und kritisiert mich weil ich einen der Frager bischen arrogant
abgebürstet hätte. Ich erinnere mich. Der Mann hatte eine lange Suada
gehalten über die positiven Seiten der Re-Education, und dann sehr
massiv den Film kritisiert. Er könne sich überhaupt nicht der
Einschätzung anschließen, der Film sei ein offenes und diskursives
System. Für ihn war der Film ein einziger Wirrwarr, mutwillig
zusammengewürfeltes Material. Bitteschön, was hat das Stanford Prison
Experiment mit Ausschwitz oder Abu Ghraib zu tun? Ich hatte ihn bischen
kurz abgefertigt und auf das Buch von Zimbardo verwiesen wo der über
diese Zusammenhänge schreibt, und das mir den Anlaß gab ihn danach zu
fragen. So kamen diese Namen und Zitate in den Film. Lesen Sie erstmal
das Buch, hatte ich gesagt, und wenn es dann noch Einwände gibt bin ich
gern bereit mit Ihnen weiter zu diskutieren. Das war arrogant, sagt
meine Tochter, ich fand die Frage interessant.Stimmt, sie hat recht. Und
der Frager auch. Aber ich war genervt. Vielleicht wäre es auch gut
gewesen, das Buch in der Anmoderation von Zimbardo zu erwähnen? Dann
wäre im Interview klar geworden, wo er das her hat und warum das dann so
massiv im Film auftaucht. Muß ruhiger werden, ich rege mich zu schnell
auf und falle den Fragenden oder nur was loswerden Wollenden zu schnell
ins Wort. Ausreden lassen
Sophie hatte mich bei den Recherchereisen
nach Frankreich begleitet, auch wegen ihrer guten Kenntnisse der
französischen Sprache. Frage sie ob sie sich erinnern kann, wann und
warum wir in Paris in die Freimaurerloge gegangen sind. Denn danach
wurde ich in Freiburg gefragt, und mir war das nicht eingefallen. Nun
kommen wir beide drauf: Ich war auf der Suche nach Bildmaterial, vor
allen den Entwurfszeichnungen für die künstlichen Berge die für das Fest
des Höchsten Wesens gebaut nach Gießen geraten, wo eine Gruppe von
Wissenschaftlern um Prof. Reichardt ein Bildlexikon der europäischen
Revolutionen erarbeitete, speziell zur Französischen Revolution. Ich
hatte gehofft dort Skizzen oder Konstruktionszeichnungen für diese Berge
zu finden, aber die Bildwissenschaftler dort konnten mir nicht
weiterhelfen. Und hatten mich nach Paris verwiesen. Der Chefdesigner für
das Fest des Höchsten Wesens war der Maler David, und der war
Freimaurer. Gehen Sie doch mal zu Prof. Philippe Bordes, DEM
Spezialisten für David, oder am besten gleich in die Loge, die haben
eine tolle Bibliothek und Kunstsammlung. Vielleicht finden sie da etwas.
Und so war es gekommen. Und der Direktor der Bibliothek hatte dann nach
einem interessanten Diskurs über Deismus und den Kult des Höchsten
Wesens (mit einem Verweis auf ein Buch von Zola wo ein Gespräch zwischen
einem Revolutionär und einem Priester über das HW vorkommt) mich an die
junge Historikerin verwiesen, die nun in Freiburg an der Universität
lehrt.
29.04. Seefeld, Kino Breitwand:
Fahre mit der
S-Bahn, ab Pasing leert sich der Wagen. Herrliches Wetter, die S-Bahn
fährt durch eine schöne Landschaft. Das Kino ist in einem ehemaligen
Schloß, über eine Brücke gelangt man in den Schloßhof.
Künstlerwerkstätten, Ateliers, Lesungen, ein Restaurant. Das Kino hat
zwei Säle, "Overgames" läuft im Kleineren. Es stehen breite Ledersessel
und Couches vor einer im Verhältnis zur Raumgröße sehr großen Leinwand.
Ein Riesenbild. Kein Fernsehen mit Riesenscreen, sondern Kino. 15
Zuschauer, gutbürgerlich, aus dem Einzugsbereich des Starnberger Sees.
Freundlicherweise läßt der Filmvorführer die Werbung ausfallen.
Dann
im Anschluß kommt das Gespräch schnell auf die Führung und Manipulation
von Massen, auf eine moderne Massengesellschaft. Auf die Rolle von
Medien, die zunehmende Skepsis über den Gehalt von Nachrichten und die
Absichten die möglicherweise dahinter stecken. Den Zustand der
Demokratie. Eine sagt das System ist gut, nur die echten Demokraten
fehlen, die Masse wird nur verwaltet. Verwunderung als ich sage dass der
Film für mich auch sehr viel komische und lustige Momente hat. Ich
musste beim Schnitt oft lachen. Eher tragikomisch, sagt eine Frau.
Darauf können sich alle einige,
Erzähle dass ich mittlerweile
Zeitungen und TV-Nachrichten darauf filtere, was gemeint sein könnte und
mit welcher Absicht das gerade plaziert wird. Als etwas Uneigentliches.
Das es schwer und mühsam ist rauszufinden warum das jetzt - und gerade
jetzt - in den Medien erscheint. Die Rolle des Zufalls dabei
einbeziehend. Ein Paar, Mann und Frau mittleren Alters, sagt unisono und
verwundert: Das ist ja Wahnsinn. Der Mann fragt: Hat das vielleicht
etwas mit ihrer Herkunft aus dem Osten zu tun? Sicher, die hat mir
erlaubt ein gesundes Mißtrauen und Skepsis gegenüber Verlautbarungen
aller Art zu trainieren. 38 Jahre Diktaturerfahrung. Zwischen den Zeilen
lesen. Den doppelten Boden suchen und erkennen.
Ich hätte allerdings
1986 nicht geglaubt, dass ich diese Techniken noch mal anwenden werde.
Der Mann ist jetzt ein offenes System, und man sieht, auch körperlich,
wie in ihm eine Erkenntnis aufsteigt und sich ausbreitet. Die Dinge so
zu sehen ist neu für mich, sagt er langsam und zögernd, vielen Dank, so
habe ich das noch nicht gesehen. Die Frau nickt. Faszinierend, so müssen
sich Wissenschaftler fühlen die zusehen wie vor ihren Augen sich etwas
verändert, etwas wächst.
Im Publikum ein Fotograf mit seiner Frau,
den ich aus Berlin kenne. Er hat viele meiner Installationen
fotografiert. Jetzt ist er als Consulter tätig und lebt mit Familie im
Münchner Umland. Seine letztes Foto hat er im Berliner Martin Gropius
Bau von meiner Installation mit dem Nachbau der cabin von Ted Kaczynski
gemacht, das war 2003. Richtung München ist der Nahverkehr eingestellt,
es fahren ab Pasing nur noch Ersatzbusse. Da ist jetzt Chaos, sagt der
Kinoleiter. Der ehemalige Fotograf fährt mich mit seinem truckähnlichen
Wagen nach Pasing, vor dort weiter mit dem Taxi ins Hotel, es ist 1:00
Uhr.
30.04. Karlsruhe, Kino Schauburg
Am Nachmittag
findet eine Vorführung von "Das Netz" im Rahmen der ZKM-Ausstellung
"Global Control and Censorship" in einem Kino der Karlsruher Innenstadt
stattfinden.
Es soll die 35mm Kopie gespielt werden. Obwohl das
Format das vorgeführt werden soll (1:1,66) auf Kopie und Versandkarton
steht, gibt es Diskussionen. Das ist falsch, wir müssen 1:1,87
vorführen, sagen die Vorführer. Nein, sage ich. Für einen Test ist keine
Zeit eingeplant.
Natürlich ist 1:1,87 falsch, die Köpfe werden oben
abgeschnitten, unten sitzen die Untertitel auf der Kante vom Kasch. Ich
rase zur Vorführkabine, es geht eine steile Leiter hoch, der junge
Vorführer wird nun nervös und hantiert aufgeregt mit mehreren
Objektiven. Fragend hält er mir zwei entgegen, welches ist nun das
Richtige? Ein Kollege kommt dazu. Sie wechseln das Objektiv. Nach ca. 8
Minuten ist es erträglich. Das Kino ist eines der wenigen das überhaupt
noch Film technisch vorführen kann, aber die Erfahrungen älterer
Vorführer fehlen. Die Filmkopie: verblasene Farben, weggebrannte
Stellen. Nun ist das Auge doch die Brillianz und Farbgebung der
digitalen Kopien gewöhnt, auch beim Ton. Deshalb wird, wo möglich, mehr
und mehr Digibeta oder DVD zum Einsatz kommen, wenn es noch keine DCP
gibt.
Es ist vorbei. Das Staatliche Filmarchiv wird "Das Netz" und
"Das Meisterspiel" im Juni spielen. Schlage denen nun vor statt der
35mm-Kopie eine Digibeta vorzuführen. Keine Lust mehr auf Eiertänze
dieser Art.
Dann mit dem Kurator zum ZKM, dort läuft 19:00 "Overgames". Sitze
noch mit ihm in der riesigen Halle des ZKM. Das Café schließt im 18:00.
Langsam leert sich die Halle. Bischen unheimlich. Im Veranstaltungsraum
48 Besucher. Harte Stühle, Projektion mit einer Blue Ray.
Peter
Weibel beginnt das Filmgespräch mit dem Verweis auf ´68, er hatte sich
während der Vorführung Notizen gemacht, und bringt nun Beispiele für den
Einfluß der Amerikaner auf die Entwicklung der Nachkriegskunst.
Wie
reife Früchte fallen nun die Beispiele für den Einfluß der Amerikaner
vom Baum der Erkenntnis: Berlinale, Bildende Kunst, New American Cinema,
Alpach in Österreich, Portopak für Paik, die Zeitschriften, die
Verlagslizenzen, der Umbau der Schule und der Universitäten, die
Radiostationen, die Frequenzverteilung für Radio und Fernsehen bis hin
zu den Zentralservern und Rootern des Silicon Valley. Es hört garnicht
wieder auf. Ein großer Berg von Beispielen liegt nun im Raum, der
ungläubig betrachtet wird. Aber was heißt das nun? Gut, es wird Einfluß
auf uns ausgeübt. Aber was ist die Alternative?
Einer wirft ein, daß
die Nazis normale Menschen zu Paranoikern machten, und die Amerikaner
dann Paranoiker zu normalen Menschen. Widerspruch aus dem Publikum.
Wieso waren die Deutschen Paranoiker? Eine Nation oder eine Kultur kann
nicht paranoisch sein. Das geht nur im Cartoon. Oder als Geschäftsidee,
um etwas zu verkaufen. In der amerikanischen Wissenschaft geht es zu wie
in der Marktwirtschaft, wirft ein anderer ein, das ist wie in der
Wirtschaft. Spreche über Freuds (falsche) Definition von Paranoia, die
durch seine Jünger in die USA gelangte. Kann mit Hilfe eines Hoax oder
einer, wissenschaftlich gesehen, falschen Theorie am Ende etwas bewirkt
werden? Denn einen Mentalitätswechsel hat es ja in Deutschland (und gar
erst in Japan, wo noch umfangreicher "re-educated wurde!) gegeben. Ein
anderer verweist auf einen russischen Film der dem "Hitlerjungen Quex"
ähnelt. Auch hier ein junger Revolutionär, der geopfert wird, oder
besser: sich selbst opfert. Der russische Film ist "Die Beschin Wiese"
von 1937 (Originaltitel »Beschin lug«), von Serge Eisenstein. Weil der
»Junge Pionier« Stjopka einen geplanten Sabotageakt seines Vaters
verrät, wird er von ihm erschossen. Eisenstein erzählt diese Geschichte
nach Motiven von Iwan Turgenew »Aufzeichnungen eines Jägers«, vor allem
aber mit Assoziationen an das zeitlose Sujet von Abrahams Sohnesopfer,
wofür Partei und Filmbürokratie ihn heftig kritisierten: Der Film wurde
verboten und vermutlich vernichtet.
Bringe nun das Beispiel von
"Tomorrow The World" von 1944. Der "Hitlerjunge" Emil aus Deutschland
besucht während des Zweiten Weltkriegs seinen Onkel in den USA. Emils
Vater ist im KZ umgekommen. Der als autoritär dressiertes Monster
charakterisierte Junge wird nun im amerikanischen Familienlabor zu
Demokraten umgebaut, und in die amerikanische Familie aufgenommen. Aber
nicht mit Druck und Zwang, sondern mit Freundlichkeit und guter
Pflege.
Vier Stunden sind wieder rum. Das ZKM ist bis auf das Grüppchen
der ca. 20 verbliebenen Diskutanten leer, ein riesiger leerer Kasten.
Weibel umarmt mich, es geht ihm gesundheitlich nicht so gut, aber er ist
gekommen und freut sich über den Film. Es geht um trojanische Pferde,
sagt er. Dann Diskussion wo in Karlsruhe noch etwas offen ist.
Ausgewählt wird die Bar in meinem Hotel. Noch Diskussion an der Bar mit
einigen Leuten von Uni und Kunsthochschule. Plötzlich flammt Streit auf,
immer wieder ist das "Geworden statt gemacht zu sein" Auslöser, auch
die "Leihidentitäten". Biografische Details werden hervorgekramt,
Beweise für und gegen die Aussagen des Films. Der Kurator der
Ausstellung über digitale Überwachungssysteme hat mit Edward Snowden
geskypt. Alles läuft über einen Anwalt in New York. Frage ihn ob er sich
sicher ist ob das wirklich Snowden war, ob er weiß wo der sich
befindet? Hmm, sagt er, da habe ich noch nicht drüber nachgedacht, das
Auftauchen dieser Figur sei allerdings seltsam, immer in Verbindung mit
der Filmemacherin Poitras. Er hatte mal einen Aussteiger aus der NSA im
Museum, der tourt schon seit zehn Jahren mit solchen
Enthüllungsgeschichten durch Europa. Um den gab es aber keinen Hype.
Nach meinem Film würde er nun allerdings drüber nachdenken, inwieweit
das alles Inszenierungen sind. Denn, was erfahren wir denn eigentlich?
Und wer steuert diese "Aufklärung", diesen Informations- und Datenfluß
der den Weg in bestimmte Medien findet? Ich bin erschöpft. Mit dem
ältesten Fahrstuhl Karlsruhes, ein Artefakt regionaler
Industriegeschichte, auf meine Etage. Am nächsten Morgen mit dem Zug
sieben Stunden nach Hamburg.
01.- 02.05. Hamburg, Ruhetage
Fred Gehler hat einen Brief mit dem erbetenen Kertesz-Text geschickt: "Die
Erinnerungen sind wie verwahrloste herrenlose Hunde, sie umringen und
starren einen an, sie hecheln und heulen zum Mond. Du möchtest sie
verscheuchen, aber sie weichen nicht, gierig lecken sie deine Hand und
hast du sie im Rücken, beißen sie zu..." (aus: Imre Kertesz, "Ich-ein anderer", 1997, Rowohlt-Taschenbuch Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg, Oktober 1999).
Mal
einen Tag ohne Film & Gespräch, Wäschewechsel. Im Fernsehen läuft
ein Film über die Umerziehung in China unter der Herrschaft von Mao. In
Abständen werden immer neue und schrecklichere Programme entwickelt und
Versuche, diese umzusetzen. Mit Schlägen, Folter, Töten mit Stöcken und
Steinen, Schauprozessen und physisch-psychischer Vernichtung aller Art.
Das Inszenieren und erfinden von Sündenböcken, und deren öffentliche
Opferung. Um die Materie Mensch in die richtige Richtung zu zwingen, so
zu formen dass sie zur Konstruktionszeichnung passt. Der Kommentar
spricht von 43 Millionen Opfern. Dagegen wirken die auf Therapie
angelegten Re-Education-Programme der Amerikaner
menschenfreundlich.
Aber was konnte die 68 an Erziehungsdiktaturen wie
den von Stalin, Pol Pot und Mao interessiert haben? Ein unbewußtes
Ausleben der tief verinnerlichten autoritären Erziehungsmodelle von NS
und Eltern? Trotz der soften und auf "long-range" bauenden behutsamen
Umformungsversuche der Amerikaner begeisterte man sich für solche
schrecklichen Erziehungsversuche? Oder nahm beides an? Die Rolle des
Sündenbock. Braucht das amerikanische Modell einen Sündenbock? Reicht
"das größte Glück der größten Zahl" damit die Menschen Halt finden
können, um sich nicht allein und schutzlos zu fühlen? Für eine
existenziell notwendige Vergewisserung des Selbst? Etwas das Halt gibt
wenn es ans Sterben geht, an letzte Dinge, wenn der Mensch endlich
begreift dass er allein ist, geworfen auf sich?
Am 03.Mai früh nach Berlin zum RBB, das Radiofeature
muß noch um eine Minute gekürzt werden, da es sich während wir schon im
Studio sind rausstellt, daß der Sendeplatz beim DLF kürzer ist wie der
von RBB und MDR. Die Kürzungen funktionieren, einiges wird sogar besser.
Gute Laune.
Dann wieder zurück über Hamburg nach Kiel. Bei
Emailcheck in der DB-Lounge eine schlechte Nachricht: katastrophale
Zuschauerzahlen im Münchner Werkstattkino, an zwei Tagen nur insgesamt
16 Besucher. Nun will das Maxim Kino zwei Wochen nachspielen. Ich
glaube, es funktioniert nur mit anschließendem Gespräch. Nur den Film
zeigen ist (leider) zu wenig.
Dann im Zug die Nachricht über den
Bordfunk: die Abfahrt verzögert sich um unbestimmte Zeit. Es ist noch
kein Lokführer da. Der sitzt in einer U-Bahn fest, die wegen einer
Streckensperrung festsitzt. Rätselhafter Kosmos der Bahn.
03.05. Kiel, Kommunales Kino in der Pumpe
Im Kino
einige Studenten der Muthesius Kunsthochschule, zwei Professoren, paar
Künstler und
"normale" Besucher, zähle 38. Technisch gute Vorführung,
aber im Anschluß kaum Fragen. Also erzähle zunächst ich. Einer der
Professoren der Kunsthochschule, gebürtiger Amerikaner, erzählt dann als
das Gespräch langsam anläuft wie er in New York an der der Columbia
Universität für ein paar Semester Anthropologie studiert hat. Mead war
da eine Ikone, unantastbar. Nun ist er überrascht über deren politische
Aktivitäten. Sein Professor war Spezialist für Turkvölker und
Usbekistan. Es war kein Geheimnis dass er für die CIA arbeitete, und
Expertisen lieferte. Andere Professoren machten das auch. Ebenso am MIT,
wo dann weiterstudierte. Mir fällt der Brief ein den ein amerikanischer
Künstler an György Kepes schrieb (der in Boston das Center for Advanced
Visual Studies am M.I.T. und das New Bauhaus mitbegründet hatte) um
seinen Ausstieg aus einem Ausstellungsprojekt anläßlich der
Weltausstellung zu begründen (zu finden auf meiner Webseite zum Film
"Das Netz" www.t-h-e-n-e-t.com "Art & Technology" - "Dear Mr.Kepes" -
Brief des amerikanischen Künstlers Robert Smithson an Gyorgy Kepes, in
dem Smithson sein Teilnahme an der X Sao Paulo Bienale 1969 absagt).
Kepes war der Leiter des amerikanischen Biennale-Projekts. Smithson
schrieb:"....The "team spirit" of the exhibition could be seen as
endorsement of NASA's Mission Operations Control Room with all its
crew-cut teamwork. Some (-) see the "advances" of technology as a
military byproduct"). Dann mit den beiden Professoren noch zum Türken, dem letzten offenen Restaurant in Kiel.
04.05. Kiel, Seminar in der Muthesius Kunsthochschule
Schönes
Wetter, Sonne, aber frisch. Auf dem Weg zum Kino sehe ich eine
Radfahrerin die frohgemut in Shorts und kurzämligen T-Shirt dahinradelt.
Habe noch etwas Zeit bis zum Beginn der Veranstaltungen mit den
Studenten. Auf dem Weg zum Hafen durch einen Park. Ein Denkmal für Klaus
Groth, grauer Stein, ein Relief, Ein Brunnen.
Die Inschriften: ACH,
FREUE DICH AN DER SCHÖNEN WELT
UND SEI NICHT ZU VERNÜNFTIG. LASS SIE
MAN LAUFEN WIE SIE LÄUFT RUND BLEIBT SIE AUCH ZUKÜNFTIG. UND
MEINE
MUTTERSPRACHE SO SCHLICHT UND RECHT
DU ALTE FROMME REDE
WENN NUR EIN
MUND "MEIN VATER" SAGT
SO KLINGT´S MIR WIE EIN GEBET!
Abends wird in
der Kunsthochschule "Zeit der Götter" gezeigt, im Rahmen einer
Veranstaltungsreihe "Perspektive Film". Miserable Tonwiedergabe, an- und
abschwellender Ton, der Archivton knallt raus, Kommentar meist zu
leise. So habe ich das noch nie gehört. Mache mir Notizen, das muss ich
nochmal überprüfen. Im Anschluß sitzen die Studenten stumm im Raum.
Keine Fragen. Während der Vorführung wischten einige Studenten über ihre
Smartphones. Als der veranstaltende Professor nachbohrt und nach dem
Verhältnis von Kunst und Macht fragt sagt eine Studentin, dass es für
sie normal ist, dass Kunst politisch sein muss und sie auf Kontexte
achte.
Hmm. Was mir auffiel: der Film läuft gut bis knapp über die
Mitte (Wriezen), und fällt dann bischen auseinander. Die Chronologie,
der er zunächst locker zu folgen scheint, zerbröselt. Ist unklar, warum.
Ich hätte (im Kommentar des Films) dazu was sagen können (müssen).
Auch
gestern im Kino bei "Overgames" waren mir wieder Schnittfehler
aufgefallen. Ein Paradox.
An mehreren Stellen sind es 1-2 Felder wo der
Schnitt zu früh oder zu spät kommt. Denke wehmütig an die Zeit beim
Animationsfilm, wo die Cutterinnen den Blick und das Timing für solche
Feinheiten hatten, um genau raus- oder reinzugehen. Aber damals ging man
auch mit der Schnittfassung in die Vorführung um sich die auf großer
Leinwand anzuschauen. Da sah man das, was am Screen des Schnittcomputers
schlecht oder garnicht zu sehen ist. Oder verführt der digitale Schnitt
zur Ungenauigkeit?
Wie ich sitze und ratlos in den 24 Jahre alten
Film starre fällt mir wieder eine Stelle in "Overgames" ein, die auch
hätte besser gelöst werden können. Wieder der Druck der
selbstverinnerlichten (Fernseh-) Konvention. Warum lasse ich zu Beginn
des letzten Kapitels (Sanatorium) den Sprecher nochmal sagen:"...wo sich
meine drei Geschichten nun in einer einzigen aufzulösen scheinen", und
stoße den Zuschauer ohne Not nochmal auf die drei Geschichten vom
Anfang? Es hätte doch vollkommen gereicht zu sagen: "Es beginnt in einem
Labor, und endet in einem Laboratorium". Pause."Hier scheinen sich
Margaret Meads Träume von...." usw. Wäre so am Ende offener geblieben.
Auch bei Zimbardo hätte ich eher rausgehen können, ohne nochmal nach
Fuchsberger zu fragen. So bliebe es offener, härter in seiner Aussage
über die "Black Box" in der wir gehalten und gefüttert werden.
05.05. Schwerin, Kino unterm Dach
Herrlicher
Sonnenschein, Zugfahrt im Regionalexpress durch Schleswig-Holstein. Im
Abteil eine Farmerin aus Südafrika, zu Besuch in der alten Heimat. Wein
und Gemüse. Der Stand des Mondes ist wichtig, sonst wächst nichts.
Le-mi-mo? Ja, sie hat vorher in Deutschland Demeter-Anbau betrieben.
Erzählt von "ihren Schwarzen" und deren anderem Zeitbegriff. Anscheinend
spricht sie mit denen wie mit Kindern. 200 Angestellte, die leben in
Townships. Ihr gehts gut. Der Sohn verkauft den auf den Weinbergen der
Farm angebauten Chardonnay und Sauvignon Blanc in alle Welt.
Es ist
Vatertag. In Schwerin ist alles ist auf den Beinen, die Seen in und um
die Stadt sind mit Segelbooten übersät, auf den Straßen und Gassen zum
See Männergruppen mit Bollerwagen, lauter Musik und Bier. Die Stadt ist
voller Touristen und Ausflügler. Seit Dienstag läuft das Schweriner
Filmkunstfest. "Overgames" wird zweimal gespielt, heute abend im kleinen
Kino unterm Dach, in der Volkshochschule. Die Filmförderung
Mecklenburg-Vorpommern hatte Geld für die Herstellung gegeben, eine
kleine Summe, und mich nach der Uraufführung in München gemahnt, dass
vertragsgemäß auch eine Premiere in Mecklenburg-Vorpommern stattfinden
müsse. Ich hatte daraufhin den Film an das Festival geschickt. Der
Direktor hatte lange rumgedruckst und gezögert ob der den Film ins
Programm nehmen soll und will, und den Film dann an das kleine Kino weit
vom Festivalkino entfernt abgeschoben. Dann folgten langwierige
Verhandlungen, weil der Filmclub, getragen von einem Verein aus
ehrenamtlichen Mitgliedern, arm wie eine Kirchenmaus ist und nichts
bezahlen wollte-konnte. Nachdem das geklärt war meldete sich der
Festivalleiter und bot am Freitagvormittag eine zusätzliche Vorführung
im Festivalkino an. Er hatte den Artikel in edp-Film gelesen.
Eine
Stunde vor Veranstaltungsbeginn laufe ich schon mal in Richtung
Volkshochschule, um mir den Ort und die Umgebung anzuschauen und einen
Technikcheck zu machen. Habe Pech, vor der Volkshochschule klebt gerade
ein Vereinsmitglied Plakate auf das Pflaster, die Besuchern den Weg
weisen sollen, und erkennt mich, der ich auf der anderen Straßenseite
entlangspaziere.
Ich erfahre, dass es statt 19:00 Uhr nun 19:30 Uhr
beginnt. Steige mit ihr die drei hohen Treppen bis zum Veranstaltungsort
unterm Dach hinauf. Erfahre dabei auch, dass gleich jemand kommen wird
der mich betreut und einen Stadtrundgang anbieten wird. Im Saal werden
Stühle gestellt, ein Techniker (der örtliche Antiquar) werkelt an
Kabeln, es liegt eine Schmalzstulle bereit, man möchte sich auch gern
unterhalten. Der Saal ist nicht komplett zu verdunkeln, die
provisorische Leinwand bewegt sich leicht im Luftzug der durch die
geöffneten Fenster strömt. Wenn die dann geschlossen sind, wird es nach
drei Stunden warm werden. Mein Betreuer erscheint und möchte mir die
Stadt zeigen. Er hat sich vorbereitet sagt er, drei Seiten Fragen. Ich
wehre ab, ich kann nicht mehr, ich möchte allein sein um etwas zu
schreiben. Gut sagt er, ich zeige ihnen die besten Plätze dafür. Nachdem
wir zweimal vor schon geschlossenen (18:00 Uhr) Cafés stehen sage ich,
ich gehe mal noch ein Stück allein. Befürchte ein Desaster. Wer soll bei
diesem Wetter in dieses Kino kommen? Ja, sagt er, das wird schwierig.
Schwerin ist die Stadt der Segler. Auch läuft eine große
Podiumsdiskussion über das polnische Kino, wo eigentlich alle
"Offiziellen" hingehen, auch der Vorstand der Kommunalen Kinos in MV.
Hmm, das war ja nun eigentlich einer der Gründe weshalb ich den Termin
überhaupt zugesagt hatte. Dieser Verband betreut 70 Abspielstätten und
Leinwände, und kauft dafür die Lizenz des Films. Wir waren im Gespräch,
und sie sollten sich den Film mal "life" anschauen.
Setze mich eine
Stunde vor Veranstaltungsbeginn vor eine Konditorei, mit Blick auf den
Eingang der Volkshochschule. Plötzlich springen und tanzen eine junge
Frau in langem Rock und ein Junge tanzend aus einer Seitenstraße um die
Ecke und verschwinden im Eingang zum Kino. Ein Bild wie aus einem
Kinderbuch des 19.Jahrhunderts. Ein schönes Bild.
Im Kino unterm Dach
haben sich 13 Zuschauer eingefunden, darunter drei alte Bekannte, ein
Schauspieler den ich noch aus Leipzig kenne mit seiner Frau, und ein
Maler. Der jüngste Zuschauer ist 12, es ist der Junge den ich mit seiner
Mutter gerade auf der Straße beobachtet hatte. Beide gehören zum
Antiquar. Das arme Kind, raunt einer im Publikum. Von der Filmförderung
Mecklenburg-Vorpommern ist niemand erschienen (zur Hamburg-Premiere vor
Tagen kam auch niemand von der Hamburger Filmförderung).
Der Antiquar
eröffnet die Veranstaltung, und sagt, in der Mitte des Films machen wir
eine Pause, weil der Film so lang ist. Nein, rufe ich, auf keinen Fall,
der Film muß in einem Rutsch geschaut werden. Ich habe hier wohl
garnichts mehr zu sagen, murmelt der Antiquar. Er ist nun bis Ende der
Verandtaltung bischen beleidigt.
Es ist leider draußen noch nicht
dunkel, so markieren sich helle Sonnenflecken auf der Leinwand, vor
allem bei Passagen mit schwarzen Flächen. Der Beamer ist zu rotstichig
eingestellt, ein Check voher war nicht möglich. Der Ton ist zu laut, als
ich bitte ihn etwas leiser zu drehen dreht der Antuquar so abrupt am
Knopf, dass sich die Laustärke halbiert. Ups, nun wieder mehr - und es
ist wieder wie vorher. O.k. gut so. Ich sitze oben auf der Empore, wo
der Beamer und das Mischpult steht, starre auf die geschnitzten
Deckenbalken der Raumverkleidung im altfränkischen Stil. Hatte vorher
einen Aperol Spritz getrunken, der meinen Kopfschhmerz nun verstärkt.
Was mache ich hier? Muss ich mir das antun? Das macht doch alles keinen
Sinn. Stehe den Film durch, bemerke zu ersten Mal dass einige Passagen
mit Archivfilm die kein volles Format haben, es gibt einen mal mehr mal
weniger breiten schwarzen Streifen links und rechts am Bildrand. Wie
das? Überprüfen.
Dann ist es zu Ende. Bin wie gerädert. Steige hinunter
in den Saal, wo noch 7 Zuschauer sitzen. Auch der 12jährige Junge. Was,
du bist noch da? Hats Dir gefallen? Ja, sagt er, und strahlt. Seine
schöne schwarzgelockte Mutter auch. Konzentriere mich, schließlich ist
der Junge das Publikum von morgen. Mein Betreuer, ein ehemaliger
Journalist, nun in der PR-Branche, möchte nun gern seine Fragen
loswerden. Übernehme bald, und dann kommen wirklich gute Fragen aus dem
Publikum, auch von ihm. Interessante Fragen. Auch Lob, sehr dezidiert
und gut formuliert vorgetragen, auch mal was zur Form des Films. Der
Junge lauscht.
Einer sagt, im westdeutschen Außenministerium waren nach
1945 mehr NSDAP-Mitglieder als unter Ribbentrop. Ich frage: und haben
die eine NS-Außenpolitik gemacht? Gespräch über den Kalten Krieg, die
Konfrontation der Blöcke, die Guten und die Bösen. Wenn also ehemalige
NSDAP-Mitglieder die Politik der NATO oder der Amerikaner umsetzen, ist
das doch gut? Waren die also ent-ideologisiert (worden)? Re-Educated?
Dann wäre das also kein Zeichen für "Refaschisierung", sonder eher für
einen "Controlled Institutional Change" á la Talcott Parsons, wo mit
Hilfe der Wirtschaft ein Werte- und Mentalitätswandel erzeugt werden
sollte? Aus SS-Kadern werden Konzernchefs. Und Punkt.
Angeregtes Gespräch unter den Besuchern, gute unds gelöste Stimmung, verkaufe einige Bücher. Und: es ist die erste
Vorführung wo WIRKLICH DAS GANZE BILD GEZEIGT WURDE. Ein Besucher
stellt sich als Architekt vor, der in Hamburg und Paris Kunst studiert
hat und nun von Paris nach Schwerin gezogen ist und alte Häuser
originalgetreu saniert und rekonstruiert. Reden über echte Häuser und
Haus-Simulationen. Er erzählt von Freunden die im Burgund mit etwa etwa
fünfzig Handwerkern daran arbeiten, eine Burg ausschließlich mit den
Techniken und den Materialien, die im Mittelalter verwendet wurden,
aufzubauen. Die Idee ist, so habe ich es verstanden, eine Transformation
von Techniken aus dem Mittelalter in zukünftige grüne Gewerke. Also
Nachhaltigkeit, und eine neue (alte) Qualität die der im Computer
gerechneten und dann zusammengeleimten Betonkisten dekoriert mit Glas-
und Plastikgardinen gegenübersteht. Die Baustelle vermittelt Kenntnisse
über das Herstellen von über Lehmwänden, das Zusammenfügen von
Bausteinen, das Auftragen von Kalkputz auf Wände, die Herstellung von
Dachziegeln aus Ton oder Holz, den Gebrauch natürlicher Pigmente, die
Seilerarbeit mit Leinen oder Hanf usw.
Alle für den Bau benötigten
Rohstoffe finden sich in der näheren Umgebung: Stein, Holz, Erde, Sand,
Ton usw. Die Steinbrecher, Steinmetze, Maurer, Holzfäller, Zimmerleute,
Schmiede, Ziegler, Fuhrleute, Seiler und andere bauen hier eine Burg.
Burg Guédelon ist eine Neuschöpfung, welche den von Philipp II. August
im 12. und 13.Jahrhundert eingeführten Architekturkanon nutzt.
Interessant, da werden wir im August auf der Rückreise vom Atlantik
vorbeischauen.
Merke im Hotel das ich meinen Pullover im Kino
vergessen habe. Die Stadt dunkel und still, Rauschen des Windes. Im
Laufschritt zurück zur Volkshochschule. Das Tor verschlossen, alles
dunkel.
Am nächsten Morgen in einem der Cafés, wo ich hoffe niemand vom
Festival zu treffen. Blättere meine Notizen durch. Der Faschismus kehrt
zurück, das war doch eine Parole mit der Wolfgang Fritz Haug, Professor
für Philosophie an der FU Berlin (Das Argument) Generationen von
Studenten beeinflußte.
Eine der Grundannahmen in der westdeutschen
Linken, vor allem an den Universitäten war die Annahme, der Faschismus
kehrt zurück. Der Vater von Gudrun Ensslin soll zu seiner Tochter gesagt
haben: Du sehnst den Faschismus ja herbei! Was ist, wenn der gar nicht
kommt?“
Ja, was ist, wenn der Faschismus gar nicht kommt? Dann
provozieren wir ihn, er hat sich ja nur versteckt und gut getarnt, wir
müssen ihn aus seinem Versteck locken, ihn so lange reizen, bis die
Infektion ausbricht, und er aus seinem Versteck ans Licht kommt. Aber
wenn er garnicht mehr kommen konnte? Wenn er sich wie Zuckerstücke in
einem Wasserglas, das in diesem Falle das westdeutsche Wirtschaftswunder
war, aufgelöst hatte? Wenn diese Warnung und dieses "Angst machen" vor
der Rückkehr des Faschismus auf falschen Prämissen und Einschätzungen
beruhte? Wenn die Analyse des "paranoiden deutschen Nationalcharakters"
und der deutschen Nachkriegssituation von Mead, Lewin, Brickner,
Marcuse, Adorno und Anderen nicht stimmte? Nicht stimmen konnte? Wenn
nicht Wissenschaft, sondern Gefühle, konkret Ängste, und zwar gut
nachvollziehbare Ängste, diese Forschungen leiteten? Wenn diese Ängste
erforderten: wenn die historische Situation nicht die Legitimation
liefert, dann arbeiten wir solange daran, bis sich die Anlässe
einstellen, die diese Legitimation liefern. Angst von Adorno in den
Tagebüchern: nicht hungern, nicht frieren, nicht geschlagen werden.
Denke
auch an Freud und seine Paranoia-Definition. Er hat eine Theorie
(Ursache für Paranoia ist Homosexualität, und sucht einen Fall der zu
seiner Theorie paßt. Und findet, nach dem Hinweis eines Freundes, den
sächsischen Senatspräsidenten Schreber. Dessen Fall nun seine Theorie
belegt.
Dann ins Festvalkino Capitol. Die Vorführung beginnt 11:00 Uhr. Ein
Scheißtermin! 9 Zuschauer. Nach Filmende noch 3. Mit denen aber fast 40
Minuten Gespräch. Sind marxistisch geschult, sprechen über Trotzki und
den Begriff der Permanenten Revolution. Merke, dass sie den Osten und
was war noch nicht hergeben wollen, aber mit ihrem starren Negativbild
von den "imperialistischen USA" und dem Film nicht klarkommen. Ist
interessant. Sage auf die Frage nach Pegida und den Trends in
Westeuropa, dass mir mehr Sorge macht auf welche Defekte des
gesellschaftlichen Systems, in dem wir leben, diese Reaktionen
verweisen. Es sind Reaktionen, keine Aktionen. Wieder das Bild der
Schafherde im Film, die unruhig wird. Sie fühlt etwas, irgendetwas ist
im Gange, aber was? Am Ende sagt die Frau, als ich ihr anbiete
Informationen zum Hörspiel zu schicken: Wir haben kein Email. Sie ist
gerade entlassen worden, arbeitslos. Nette, interessierte Leute.
Vom
Leiter des Festivals ist nichts zu sehen. Auch wenn der Druck der Stadt
oder des Lands sicher auch auf so kleine Festivals enorm ist und die
Zahlen stimmen und Jahr für Jahr erhöht werden müssen - er hätte schon
mal andeuten können dass er was von Film versteht indem er den Film,
auch wenn er als "schwierig" gilt, nicht versteckt sondern seinem
Publikum anbietet. Oder als Geste den angereisten Regisseur und Gast
begrüßt? Wieder niemand von der Filmförderung da. Interessiert die
nicht, was sie da fördern?
07.05. Hamburg, Ruhetag
Aus Köln kommt eine Email. Ein junger Absolvent der KHM und Fan meiner Filme. Er will unbedingt dass ich die social media
nutze um meine Filme zu pushen. Also Facebook ("Bei Facebook können Sie
dies ab 9,00 Euro schon tun und Alter, Geschlecht, etc. selber
bestimmen!"), ständiger update aller Texte und Termine auf der
Overgames-Webseite, tumbir, youtube, online-shop, mir schwirrt der Kopf.
Das ist ja Arbeit für Tage und eigentlich dann für IMMER, denn das muß
ja ständig aktualisiert und bearbeitet werden. D.h., ich komme von der
Maschine nicht mehr weg. Und die "user", die es ja anscheinend
ausreichend gibt, auch nicht. So werden alle an die Maschinesysteme
angebunden, freiwillig, und arbeiten gern und ausdauernd UMSONST. Solche
Sklaven hätte sich der Pharao gewünscht. Mein Fan schreibt auch:" Bitte
nicht erschrecken! Ihr Film "Das Netz" ist natürlich hier auch zu
finden und wurde schon über 33.000 mal schon gesehen. Ein Kommentar:
Eines der wichtigsten Uploads auf ganz YT, sollte in jeder Schule als
Pflichtfilm gesehen werden! Danke!. Meine Empfehlung: Lassen Sie diesen
Film nicht sperren! Es hätte keinen Sinn...der Film ist mehrmals auf
youtube zu finden und würde
1. immer wieder upgeloadet werden.
2.
Nutzen Sie das lieber, um mit Ihrem eigenen Youtube -Account über die
Kommentare auf den neuen Film zu verweisen und natürlich wie immer auf
das Booklet bzw. zum Shop verlinken." Seine Email endet: "Wenn Sie diese
Punkte umsetzen, pusht das die Tournee sowieso und Verkauf steigt
dadurch garantiert. Meine Zukunfts-Prognose, die ich jedem Klienten
anvertraue: In den nächsten 10 Jahren stirbt jedes Unternehmen, egal aus
welcher Zunft, das den Online-Wahnsinn nicht mitmacht. In diesem Sinne
frohes Schaffen". Er meint es gut. Er will den Film pushen. Als ein
Kollege vor ein, zwei Jahren seinen Dokumentarfilm rausbrachte saßen in
der Verleihfirma auch einige junge Leute, die auf den Einsatz solcher
Werbekanäle trainiert worden waren - den neuen Normen um Botschaften zu
versenden. Die lernen das auf ihren Werbe- Fach- und inzwischen sogar
Kunsthochschulen. So mußt du es machen. Aber im Falle meines Kollegen
funktionierte es nicht. Denn es wurde übersehen, dass durch diese
Werbekanäle nicht alles problemlos fließt. Um diese Fluidität zu
erreichen, braucht es nicht nur bestimmte Formen, sondern auch Inhalte.
Sonst flutscht es nicht. Also Form und Inhalt müssen sich diesen
technischen Systemen anpassen. Unterwerfen. Es wird von Elektrobastlern-
und tüftlern mit Sound und Bits gern übersehen, dass auch die Form
politisch ist. Um zu verkaufen, ist erstmal was zu bezahlen. Der Preis
ist mir zu hoch. Um in einem System zu funktionieren zu dürfen, das im
Grunde paranoisch ist. You Cant´ Eat The Cake and Have It Too.
Und
was mir noch einfällt: 1988 hatte ich die Idee den "digitalen Herakles"
in einen Film "Herakles Höhle" einzubauen, und mich bei einem der
Gründer des Chaos Computer Clubs in Eppendorf eingemietet. Es gab erste
BTX (?) Systeme wo man sich als Bürger einer digitalen Standt
(electronic city) einloggen konnte, um dort Kontakte aufzunehmen und mit
"Mitbürgern" zu chatten. Den Chat hatten wir dann auf einer
eingestöpselten Beta Maschine auf Tapes mitgeschnitten. Als "Herakles"
eingeloggt mußten wir aber bald feststellen dass es in dieser
"electronic city" nur um virtuelle Fickerlebnisse ging und "Herakles"
leider solo bleiben musste. Soll sich da in dreißg Jahren wirklich etwas
geändert haben?
Mehrfach kommt Kritik an der Kommentarstimme,
die sei zu belehrend. Am Text liege es nicht, der sei sehr gut. Aber die
Stimme des Sprechers! Nach vielen Tests und Probeaufnahmen fiel die
Wahl auf Sebastian Rudolph. Eine sanfte, unagressive Stimme, einen Tick
ironisch und mit understatement, und vor allem: leicht. Nicht zu schwer,
bedeutsam, wertend, moralisch, geschauspielert.
Das hatte er
abgeliefert, und am Schneidetisch klang es genauso, wie ich es wollte.
Das änderte sich als die Sprache im Tonstudio bearbeitet wurde. Auf
einmal klang die Stimme härter, lauter, schwerer. Der Charakter war
verändert. Als Antwort auf meine Frage nach dem warum und wieso wurde
auf technische Anforderungen der Kinos verwiesen, die Anlage in den
Kinos erfordere diese "Härtung" um die nötige Präsenz zu liefern. Der
Mischtonmeister verstand nicht was ich meinte. Klar, von anderen
Regisseuren, Produzenten und Verleihern hörte er ständig: mach es
knackiger, präsenter, schärfer. Daran hielt er sich. Da stand ich da und
wußte nicht weiter. Ich hörte zwar, daß der Charakter der Stimme nicht
mehr war wie ich es wollte, hatte aber keine Argumente um auf etwas
anderem zu bestehen.
Gut, ich hätte abbrechen können. Aber mitten in
der Mischung das Studio wechseln? Mit 100 Elefanten über den Paß
gekommen, und nun vor der nächsten Paßhöhe zurück, und wieder von vorn
beginnen? Mit dem Risiko auf andere, neue Probleme zu stoßen? (bei "Das
Netz" war es mir so gegangen: ich hatte gewechselt, zum "Champion" der
Mischtonmeister, und war nach zwei Tagen drauf und dran abzubrechen. Es
hatte Geld und Nerven gekostet das danach mit einem anderen Kollegen
einiges auszubügeln.) Zudem war dieses Problem in diesem Moment nur
eines von vielen gewesen und es war nicht klar, ob überhaupt das Größte
und beim fertigen Film später dann überhaupt von Relevanz. Dazu kommt,
dass die Kinos den Film generell etwas zu laut abspielen, was den Effekt
noch verstärkt. Wenn ich anwesend bin, kann ich den Regler dann etwas
leiser einstellen. Nun mußte ich mir das Verdikt "belehrender Tonfall"
in Renzensionen und als Kritik vom geschätzten Achim Freyer anhören, der
nun wirklich etwas von Sprache und Sprechern verstand, den Text lobte,
aber den Sprecher verriß. Ich weiß, daß ich an dem konkreten Moment
während der Mischung tat was zu tun und möglich war, ärgerte mich aber
nun trotzdem.
Vor allem über mich - und denke wieder über die
generelle Abhängigkeit von Technik, Maschinen und Apparaten und ihren
Normen und Gesetzen beim Filmemachen nach, denen zu folgen ist. Film ist
Maschinenkunst. Für den Luxus der Kopierbarkeit muß auch etwas
hergegeben werden.
08.05.-09.05. nach Kassel, dann Stuttgart, Wiesbaden und Hannover.
08.05. Kassel, Kino Bali
Früh 6:41 von Altona
nach Kassel. Der Zug fährt immer noch auf dieser Strecke einen Umweg,
und dadurch eine Stunde länger. In Kassel Bombenwetter. Das Kino Bali
ist im „Kulturbahnhof“ Kassel, ein ehemaliges Bahnhofskino. In den
Schaukästen in der Bahnhofshalle kein Plakat von „Overgames“. Das Kino
ist noch geschlossen. Vor dem Treppenaufgang sitzt ein Bettler und hält
seine Basecap den wenigen Ausflüglern hin, die mit Fahrrädern ins Umland
fahren wollen. Noch eine Stunden zeit bis Veranstaltungsbeginn. Vorm
Bahnhof steht eine Frau, die ihre Brille nicht auf der Nase sondern über
dem Mund trägt, und unterhält sich mit einem als Rocker verkleideten
Einheimischen, der das Kostüm mit weißen Socken in Sandalen
komplettiert.
Ansonsten ist der Vorplatz leer. Der Bahnhof liegt auf
einem Plateau, man kann die Berge um Kassel sehen. Bin so groggy dass
mir alles recht ist. Freue mich darauf wenn bald Feierabend ist. Das ist
neu. Auch dass sich der Magensäurespiegel wieder anhebt. Die 20er Dosis
Blocker scheint, bedingt durch den Stress der Tour, nicht mehr zu
reichen. Die Vorführung soll 12:00 Uhr beginnen, also high noon.
Meine
Gesprächspartnerin Susanne, die Direktorin vom Museum Fridericianum
kommt frohgemut und zu Fuß. Sie freut sich den Film im Kino zu sehen. Im
Foyer warten nun schon einige Besucher. Wo sind die Flyer? Anscheinend
alle, sagt der Kinomensch. Glaub ich nicht. Dann Ton- und Bildcheck,
schönes Kino, große Leinwand - aber wieder kein volles Bild. Auch sind
die Dolbyboxen nicht gut ausgemessen, der Center ist im Verhältnis zu
den seitlichen Boxen wo die Musik und das Klacken der Shows abgespielt
wird zu leise.
Überraschend sind auch ca. 15 Studenten der
Kunsthochschule gekommen, und bleiben auch bis zum Ende der Diskussion
nach dem Film. Insgesamt sind es knapp unter oder über 30 Besucher. Das
ist o.k. Meine Gesprächspartnerin beginnt das Gespräch, sie macht das
gut. Sie hat den Film nun erstmals komplett gesehen, und im Kino. Ein
Riesenunterschied zu anschauen als Stream oder auf DVD. Sie ist unsicher
was sie eigentlich gesehen hat, und sagt das auch. Das ist gut. So
behält das Ganze den offenen Charakter den der Film hat. Die
Überwältigung und Überforderung für Teile des Publikums wird so nicht
noch mal verdoppelt durch ein „noch eins Draufsetzen“, die Packung
verdoppeln. Wird schnell belehrend. Lieber Zeit zum Nachdenken lassen,
auch mal Ratlosigkeit zulassen. Susanne sagt warum sind keine Inserts im
Bild die sagen welchen Text die Sprecherin vorträgt? Würde für mich die
Funktion dieser Ebene reduzieren. Die ist für mich ein freies Element
durch das die Interviews und einzelnen Kapitel aber zusätzlich
aufgeladen werden. Am Ende des Schnitts hatte ich Angst es wird zu
didaktisch. Lachen im Publikum. Ich würde gern auf alle Inserts und
Erklärungen verzichten, eigentlich auch auf die deutschen Untertitel.
Man würde genug verstehen, bin ich mir sicher. Die Studenten sind immer
noch aufmerksam, manchmal lächeln sie sogar. Was wir vorn vor der Bühne
machen ist für das Publikum wichtig, die Wucht des Films abklingen
lassen, da stehen zwei Menschen die nicht das (unbewußt) erhoffte Happy
End verkünden, nichts besser wissen, die über einzelne verstandene oder
unverstandene Aspekte des Films sprechen, vor allem nicht belehren. Im
Kino auch zwei junge Kunsthistorikerinnen, die auf der Fahrt nach Köln
extra in Kassel die Fahrt unterbrochen haben. Die eine hat den Film nun
zum dritten Mal gesehen, und ist immer noch nicht damit fertig, wie sie
sagt. Sie war schon in Berlin und Dresden im Publikum (und hatte mir
auch die scharfe und sehr kritische Email zum Diskussionsverlauf in
Dresden geschickt) und sagt es ist jedesmal ein Gespräch mit ganz
anderem Charakter.
Ja, der Film muesste eigentlich 48 Stunden lang
sein statt nur knapp drei, und zwei Tage lang laufen. Das waere toll,
sagt Susanne, den würde ich gern sehen. Im Hotel rechne ich das dann mal
aus: ca. 80.000 € nur für technische Kosten, wenn das reicht. Und ein
paar Sachen müßten noch gedreht werden, klar.
Was, das wüßte ich schon. Heiterer Ausklang am Kafféhaustisch auf dem Bahnhofsvorplatz. Dann ins Hotel.
09.05., noch Kassel
Vor dem Termin in der
Kunsthochschule nun das erste Mal Zeit für eine Stadterkundung. Von
Kassel kenne ich bisher nur die potthäßliche Innenstadt und deren
Anhängsel, die Documenta-Bauten.
Steige am Staatstheater ein paar
Treppen hinab und finde mich urplötzlich an einem Fluß wieder. Kassel
liegt am Wasser? Folge dem Flußlauf der kleinen Fulda (Drusel), Wehre,
Boote, es soll auch Fische geben: Rapfen, Gründling, Karpfen, Döbel,
Hasel, Plötze, Rotfeder, Ukelei (Laube). Schöner Uferwegs, passiere das
Karlsspital, um 1720 das Zuchthaus der Markgrafschaft und diente auch
zur Besserung „ungehorsamer Kinder, von Müßiggängern und
Landstreichern“. Wurde finanziert auch durch die Eintrittsgelder
„vergnügungssüchtiger Schaulustiger“, eine Freakshow also. Ab 1941
NSV-Messerschmidt-Küche und NSV-Kindergarten. Weiter über Finkenherd und
die Bleichen, um 1143 Fränkischer Königshof. Lagere auf einer Wiese am
Ufer. Kinder auf einem Schulausflug. Schwarz, braun, gelb, weiß. Die
Jungs spielen Fußball, die Mädchen spielen mit Bändern und Seilen. Ein
Junge und ein Mädchen kommen und fragen wie ich heiße. Wie heißt ihr
denn? Emir und Marjana. Ich heiße Lutz. Luutz, fragt Marjana? Dann
rennen sie davon und schreien noch im Laufen den Wartenden anderen zu,
er heißt Luuz. Alle lachen und rufen nun paarmal im Chor: Luuz, Luuz.
Sie
spielen ohne zu streiten, scheinbar absichts- und ziellos, nur so.
Erikson scheint weit weg. Die Grillen zirpen, die Blätter der Bäume
rascheln und rauschen. Würde gern Bäume, Büsche die Durchblicke zu den
dunklen Stämmen und die Schatten zeichnen können. Die Palette der Grüns.
Zurück
über die Orangerie. Bin überrascht von den Ausmaßen der Parkanlage. Die
Documenta-Bauten, ja die ganze Innenstadt, erscheinen mir wie kleine
Implementierungen in ein größeres, durchdachtes System, eine
Ideenlandschaft. Gegen die die Documenta aller vier Jahre anzurennen
versucht.
Nachmittags und abends dann Termine in der
Kunsthochschule, habe zugesagt Einzeltermine mit Studenten zu machen und
zeige „Das Netz“. Eine Studentin hat ihren Batchelor über meine Filme
gemacht und wird die Veranstaltung betreuen. Bin gespannt.
09.05. Kassel, Kunsthochschule
Die Hochschule liegt am Rand der Karlsaue, in Nähe der Orangerie.
Auf
der einen Seite von einer Straße begrenzt, auf der anderen Seite zum
Park geöffnet. Ein Summerhill. Früher eine „Schule für Handwerk und
Kunst“, später „Werkkunstschule“, aber immer mit einer Ausbildung für
Kunstlehrer verbunden. Nun wird hier auch „Freie Kunst“ gelehrt. Es gibt
eine Klasse für „Virtuelle Realitäten“, was immer das ist. Denke, das
wird im Kultusministerium sicher mit Stolz registriert. „Wahnsinn, was
wir da alles haben, virtuelle Realitäten!“.
Auf den Rasenflächen vor den Ateliergebäuden wird gegrillt, junge schöne Menschen lagern entspannt plaudernd auf Rasenflächen.
Ich
habe zugesagt, vor der Abendveranstaltung für Einzeltermine zur
Verfügung zu stehen. Angemeldet haben sich zwei Studenten der
Filmklasse. einer ist Südamerikaner und lebt seit einigen Jahren in
Deutschland. Sie wollen einen Spielfilm machen. Hauptakteure sind ein
Mann und eine Frau, und deren Liebesgeschichte soll mit aktuellen
politischen Entwicklungen in Südamerika und Europa verbunden werden. Die
beiden haben nichts mit, kein Papier, keine Fotos, kein Film- oder
Videomaterial. Sie sprechen stattdessen ausschweifend über Details einer
möglichen Geschichte, wirr, noch ohne Vorstellungen von einer
filmischen Struktur. Ich versuche zu erfassen, worum es ihnen geht.
Vielleicht um Fragen der Indentität, des Eigenen und des Fremden, um
das, was man hergeben muss in der Fremde und das was man dort gewinnen
kann? Ob man sich dort Amalgamisieren soll und muß, oder auch als
Fremder leben kann? Sie scheinen erleichtert. Ja, genau. Kopfnicken. Ja,
so in diese Richtung. Ich erzähle von Vivien und Juan, die Mitte der
1970er Jahre vor Pinochet in die DDR flohen und die wir dann Mitte der
1990er in Chile wiedertrafen, und über die Härten der Emigration.
Eigentlich gibt es an dieser Schule keinerlei Voraussetzungen für so ein
Projekt. Weder Handwerk noch Technik. Andererseits: mal was zu Ende
bringen. Für viele dieser Studenten wird die Zeit an der Hochschule die
schönste Zeit ihres Lebens, von der sie später noch oft erzählen werden.
2% werden es zum Künstler schaffen. Die schaffen das aber auch ohne
Kunsthochschule. Das Elend der Kunsthochschulen. Klar müssen nun
Enddreißiger und Mittvierziger Professoren-innen werden. Aber oft haben
die bei Leuten studiert wo es auch schon kein Handwerk und Grundlagen
mehr gab, weil die wiederum bei Leuten studiert hatten, die die
Zerstörung von Tradition und Handwerk zu ihrer Lebensaufgabe, zumindest
künstlerischen Aufgabe (Handwerk autoritär, Narration: autoritär. Was,
ich soll einer vorgegeben Handlung folgen? Was, der Film diktiert mir
die Reihenfolge der Szenen?) gemacht hatten. Diese Kette wird sich nun
endlos fortsetzen?
Denke wieder an die paar Kurz- und
Langfilmprojekte die ich in Dresden betreut hatte. Man hatte den
Professorentitel, die Funktion, das Gehalt und wurde nun mit Projekten
konfrontiert, die vom offenen Kunstbegriff (ich will alles, ich will
alles, und das sofort) und der These „Jeder kann alles“ inspiriert
waren. Ehrlicherweise hätte man 90% der Studenten sagen müssen: Aus euch
wird niemals ein Künstler werden. Sucht Euch bitte rechtzeitig etwas
anderes. Oder sie hätten garnicht erst bei der Aufnahmeprüfung
angenommen werden dürfen. Das würde, konsequent gehandhabt, natürlich
zur Schließung der Kunsthochschulen und zu einer Menge von arbeitslosen
Künstlern führen. Der Markt kann und will nicht alle ernähren. So ist
ein in sich geschlossenes System entstanden. Mit der Zusatzfunktion als
Verwahranstalt für überflüssige Menschen. Ohne Professur oder
Dozentenstelle ist für viele Künstler ein Überleben unmöglich. Wo sollen
sie sonst auch hin? Gasset, Riesman, Hermann Broch "Ekstase und Panik".
Dann
die Vorführung von „Das Netz“. Der Klassenraum ist gut gefüllt. Mein
Publikum sind vorwiegend Studenten der Orientierungsklassen, kaum jemand
aus den Film- und Medienklassen. Doch, eine Videokünstlerin, die sich
als Nanokosmetikerin vorstellt, und zudem boxt. Sie will nun auf einem
Kreuzfahrtschiff Nanokosmetik anbieten. Rate ihr das doch mit dem Boxen
zu kombinieren.
Nach etwa 10 Minuten verlassen zwei Studenten,
demonstrativ die Tür zuschlagend, die Vorführung.?? Nicht weit von mir
sitzt eine Studentin die alle fünf Minuten eingehende Emails auf dem
I-Phone checkt und umgehend beantwortet. Dann schaut sie wieder paar
Minuten den Film. Würde mich interessieren wie das bei dieser
Disposition weitergeht. Danach Diskussion. Sitze vor den Studenten mit
der Professorin die die Veranstaltung liebevoll organisiert hat, rechts
neben mir die Studentin die über meine Filme gearbeitet hat. Sie ist
bischen schüchtern, aber wach. Ein gutes Gesicht. Und stellt gleich eine
interessante Frage: Wie offen und ehrlich ich mit meinen Protagonisten
umgehe, was die erfahren um was es in dem Film gehen wird. Wie man sich
als Filmemacher gegen eventuelle spätere Ein- und Widersprüche dieser
Protagonisten (und ihrer Anwälte!) absichert. Das ist nicht so einfach
zu beantworten, auf jeden Fall nicht lügen. Aber auch nicht alles
erzählen. Was ja auch objektiv nicht ginge, denn zum Zeitpunkt wo die
Interviews geführt werden, weiß ich ja selbst nicht, wohin der Film
läuft, und mit welchem Material diese Interviews später zusammenmontiert
werden.
Dann kommen Fragen zum Einsatz von Gewalt. Mir fiel während
des Films, beim Interview mit David Gelernter, ein: Für Gelernter fällt
Ted Kaczynski aus dem Diskurs, weil er tötet. Der Ausschluß, der
verhindert dass über TK´s politische Kritik gesprochen wird, ist
legitimiert durch die öffentliche Meinung und die Medien, und die dort
verbreiteten Moralvorstellungen. Aber was wäre, wenn die Medien
Kaczynskis Tat zur politischen Notwendigkeit erklären würden, und
Gelernters Wirken (Börsensoftware entwickeln, Börsentransaktionen
möglich machen, Ergebnis seiner Tätigkeit Finanzblase, Finanzkrise usw.)
als moralisch verwerflich und den Angriff darauf als moralisch
berechtigt? Dann wäre Ted ein Herakles und Gelernter Teil der Hydra.
Verwende
das Bild dass Amerika und Europa sich nicht verstehen können. Nach Ende
der Veranstaltung kommt eine Studentin, eine Amerikanerin, und bittet
um eine Erklärung. Ja, ich hatte das so leicht dahingesagt,
möglicherweise sogar nicht selbst gedacht oder nur gehört. Denn, was ist
der Unterschied, warum können sich Amerika und Europa nicht verstehen?
Nun muß ich nachlegen. Die konsequente Quantifizierung von allem und
zwischen allen ist vielleicht der Unterschied? Eine totale
Ökonomisierung, alles ist Ware und hat seinen Preis. Das ist ehrlich und
brutal. Da gibt es keine „Sozialpartnerschaft“ die das verschleiert.
Aber gibt es in Europa noch träumerische und idealistische Räume, die
davon freigehalten werden können? Die „Quantifizierung von Allem und
zwischen Allen“ ist ja in den USA keine große Geschichte, sondern das
wird von klein auf verinnerlicht und täglich gelebt. Die Studentin sagt
sie ist nach Deutschland gekommen weil sie deutsche Logik kennenlernen
möchte. Denke an John Baldessari, mit dem ich 2009 zusammen auf einem
Symposium im Getty Research Center in LA auftrat, der lange und
inniglich von seiner Zeit in Kassel und der Beschäftigung mit dem
deutschen Wald, den Gebr. Grimm und dem deutschen Mythos erzählte.
Erfahre
dann später beim Italiener dass in Kassel aller vier Jahre die
Hochschule Dienstleister für die Documenta ist, angeschlossen an ein die
Documenta begleitendes Bildungs- und Schulungssystem, das sich bis in
die normalen Schulen erstreckt. Stolz erzählt der lange Jahre für die
Auswahl und Vermittlung der Künstler in die Schulen mitverantwortliche
Pädagogikprofessor wie das ablief. Aber nicht alle waren so freundlich
in der Diskussion wie Du vorhin, sagt er lachend. Am arrogantesten und
unangenehmsten waren die, von denen man es nicht vermutet hätte, Hans
Haacke zum Beispiel. Was? Der bei unseren Treffen und Gesprächen in New
York für „Das Netz“ so freundliche Hans Haacke? Kaum zu glauben. Dann
zweimal Riesenpizza bestellt, die unter die Professoren und Studenten
der Kunsthochschule am Tisch aufgeteilt wird. Wider die Vernunft noch
einen Grappa, dann zu Fuß ins Hotel.
10.05. noch Kassel,
kurz vor dem Frühstück und der Weiterfahrt nach Stuttgart. Vor dem
Frühstück: schreibe Rechnungen für die zwei Tage in Kassel und lese
bischen online in den Zeitungen. Finde in einer Literaturrezension: „Einem
Autor muss man aber zugestehen, dass er einen bestimmten Aspekt seiner
Geschichte nicht weiter verfolgt. Weil er davon keine Ahnung hat. Weil
es ihn nicht interessiert. Oder weil es ihm für das, was er erzählen
will, schlicht nicht wichtig erscheint.“ Na bitte, so kann man es
auch sehen. Mittlerweile kommen Anrufe und Emails die mir zeigen dass
das Tour-Tagebuch gelesen wird. Wahrscheinlich habe ich mittlerweile
mehr Leser der Texte über den Versuch den Film im Kino zu zeigen, wie
Zuschauer im Kino. Bin also in der (selbstgebauten) Falle, vor der ich
immer warne? Was wäre, wenn es den Film garnicht gäbe, sondern nur
diesen Blog? Der den Lesern eine Kinowirklichkeit liefert, die es
garnicht (mehr) gibt, aber das Bedürfnis darüber etwas zu lesen? Ohne
ins Kino gehen zu müssen-zu wollen? Wer will (den Schwindel)
kontrollieren, den ich da schreiben könnte? Wäre da ein schlechter
bitterer Geschmack im Mund? Der Ruch des Betrugs? Schaue mich später im
Zug um: 70% der Zugreisenden starren auf ihre Medienmaschinen. Nur nicht
nervös werden.
10.05. Stuttgart, Kino am Bollwerk
Gutes
Kinowetter, es hat sich etwas abgekühlt, leichter Nieselregen. Bin eine
Stunde vor Beginn am Kino. Der Sohn vom Kinochef betreut die
Veranstaltung. Mein Gesprächspartner, der Direktor des Kunstvereins
erscheint. Im Foyer schon eine größere Gruppe gutsituierter
Weißhaariger. Er begrüßt sie herzlich, ah, unserer Freundeskreis, da hat
ja meine Info über Facebook mal was gebracht. Nur wollen die Senioren
in den Film über Peggy Guggenheim, der im großen Kino läuft. (Zur Strafe
müssen sie dort dann 20 Minuten Werbung und Trailer in tosender
Lautstärke ertragen).
„Overgames“ läuft im kleineren Kino, 120
Plätze. Bitte um einen Technikcheck. Das Bild ist oben und unten sehr
stark beschnitten. Der Juniorchef sagt, ein anderes Objektiv haben aber
wir nicht, und tippt ratlos auf seinen Touchscreen verschiedene Buttons
an. Ich bitte darum mal im Film zu den Passagen mit Untertiteln zu
springen. Das geht auch nicht mehr bei diesem System. Also im Tempo 1:1
bis Minute 18. Klar, die Untertitel sind zur Hälfte abgeschniiten. Ein
Objektiv um 1:1,77 vorzuführen haben wir nicht. Dann muß die Vorführung
ausfallen, sage ich. Draußen staut sich nun das Publikum, es scheint
doch voll zu werden. Der Juniorchef flitzt durchs Gebäude, ein Techniker
kommt hinzu. Plötzlich geht es. Es war etwas umprogrammiert worden.
O.k., Einlaß. Knapp über 80 Besucher. Meine Toneinstellung vom
Technikcheck wird durch einen Werbejingle für europäische
Arthouse-Ciinemas wieder rausgeworfen. Nun muß ich während der
Vorführung Stück um Stück wieder nachregeln. Der Juniorchef begrüßt das
Publikum, stellt mich und den Direktor des Kunstvereins vor, und sagt
dann:"Im Anschluß an den Film gibt es ein Gespräch. Aber der Film
spricht für sich selbst.". Die Vorführung selbst ist dann technisch
sehr gut.
Die Tonboxen sind gut eingestellt, endlich mal das Verhältnis von Center (Sprache) zur Musik o.k.
Nach
Ende des Films bleiben fast alle sitzen. Es geht gleich weiter.
Zunächst spulen zwei junge Damen ihr universitär erworbenes Wissen über
Namen und Theorien der Postmoderne ab, ohne eigentlich eine Frage zu
stellen. Gut. Danke. Dann wieder: wo ist das „Andere“, das „Positive“,
das muß es doch geben? Frage an wen gedacht wird? Wer sich da anbietet
als Person, welche Theorie, Plattform, Die 30% die bei Milgram nicht den
Knopf drücken um „full level of shock“ zu geben? Warum verweigern die
den Befehl? Ist das mal untersucht worden? Denke an einen der Maler der,
wir waren an einer Ausstellung junger Künstler beteiligt, nicht fähig
war dem Vorsitzendes der Abteilung Kultur, Schirmherr und somit auch
Finanzier der Ausstellung, die weiche und schwammige Funktionärshand zu
geben. Der Körper weigerte sich. Wie können solche Reflexe und Instinke
verstärkt werden, durch Wissen gestützt werden?
Einspruch aus dem
Publikum. Nur Instinkt? Also Biologie, Natur? Am Ende die Gene? Die
Vertreter des Poststrukturalismus ringen um Argumente. Muß nicht das,
wie von Mead und ihren Nachfolgern vorgeschlagen erst gerechnet und dann
implementiert werden? Sie sind gefangen im Gefängnis der
konstruktivistischen Ideen dass alle Realität und Wirklichkeit nur
Konstruktion ist. Im Grunde geht es nun nur um Worte für ein Unbehagen
zu finden, das der Film auslöst. Das Aufzeigen einer Kontinuität, die
nicht klassen- oder soziologisch beschreibbare Ursachen hat, die sich
nicht wegkonstruieren lassen. Denn das Großlabor der
technisch-ökonomischen Revolutionierung ist eine Realität.
Natürlich
können sich die von Ort und Geschichte (Genealogie) bestimmten
Dispositionen der Menschen, aber auch »überspielte« Naturgegebenheiten
(wie das drohende Ende der nat. Resourcen z.B.) zurückmelden.
Gottseidank. Aber wie den Prozeß einer permannten technisch-ökonomischen
Optimimierung unterbrechen? Die Funktionalisierung aller Lebensbereiche
stoppen? Den Golem einer Welt als als kybernetisches System, als ein
mit Sozialstrukturen zusammenhängender Rechenkomplex, wo Markt und
Demokratie, Aufklärung und rationales Denken im Universalismus der
permanenten Revolution ineinander aufgehen - und sich die Werte und
Verfahren ausformen, die künftig für alle gelten?
Gab es nicht Leute
wie Heiner Müller, Walter Benjamin, Peter Weiß wird gefragt, deren
Untersuchungen zeigen dass es etwas Querstehendes, Aufhaltendes zu
diesen Erziehungsdiktaturen geben könnte? Aber, zeigt nicht gerade
Müller mit seiner Herakles-Figur, die er zudem selbst-biografisch
beglaubigt, wie die anderen genannten auch, das es immer nur um
Fehleranalyse geht, um das Notieren des Scheiterns solcher Wünsche. (und
die Wiese mit den Kindern in Kassel?). Sein Herakles (die Idee für
diese Figur als Teil einer Feddback-Schleife hat er aus der Antike) ist
Teil des Systems, das er bekämpfen will, der Hydra, und sein Kampf
notwendig für deren immer besseres Funktionieren. Denn die ist fähig,
die Energie ihrer Gegner zur eigenen Stabilisierung und Perfektionierung
zu nutzen. »Zwischen uns und den Feind einen klaren Trennungsstrich
ziehen!« lautete eine der Parolen der RAF. Doch das gelang ihren
Protagonisten weder im Leben noch im Tod. Denn die Parole barg eine
unmögliche Forderung, wenn der vermeintliche Feind im eigenen Inneren
sitzt. (Nach einer Vorführung von „Das Netz“ in Graz vor vielen Jahren
hatte einer der Diskutanten resigniert geseufzt: Da bleibt ja niemand
mehr übrig, es waren ja alle dabei und involviert.)
Zum wiederholten Male wird zwar gelobt dass der Film versucht
Symptomen einen Rahmen zu geben, Zusammenhänge aufzuzeigen. Dann wieder
das relativierende ABER, wird geqengelt, es wird nicht gezeigt wie viele
Nuancen es gibt, wieviele andere Meinungen, Bücher, Konzepte. Aber
darauf wird doch am Ende verwiesen? Nein, das reicht nicht. Gut, vieles
was nun (nach fast drei Stunden Film) vermißt wird, liegt ja in meinen
Archivkästen, das Material ist ja da, zum Teil auch schon in als Sequenz
gedreht (Freud-Schreber-Paranoia-Orthopsychiatrie; das minute von
Brickner und Mead und der Prozess von dessen Umsetzung in einen
Kongress; die Zusammenhänge mit anderen Initiativen, Kongressen und
Analysen und wie die dann zusammengefaßt wurden; der Transfer von deren
Konzepten aus einer Sprache der Wissenschaft, Soziologie und Medizin in
die Verwaltungssprache des das Military Handbook der US-Army; die
Auswirkungen der Hakenkreuzschmierereien in Köln 1959 und der
aufzuzeigende zeitliche und inhaltliche Zusammenhang mit „Nur nicht
nervös werden“; die Beispiele der darauffolgenden Veränderungen in
Schule und Universitäten und und und.) Solche Wünsche nach MEHR und
LÄNGER sollten mal die Redakteure von Arte, rbb und WDR hören, denen ich
4 oder 5 Teile á 60 Minuten vorgeschlagen hatte. Der leicht amüsierte,
zerstreute Blick mit dem damals das Angebot registriert wird. Hieß:
Trottel, du glaubst du kannst mit uns in diesen
Größenordnungen dealen? Ich hatte auch nicht den Eindruck dass diese
Frage wirklich das Großhirn erreichte. Aber das wäre dann reines
Fernsehen geworden. Interessiert mich das? Eigentlich nicht. Vielleicht
noch etwas mehr wie nur in den Kunstkontext verwiesen zu werden. An die
"Schnittstelle bildende Kunst". Fröstel.
Die Frage eines
Film-Professors von einer der örtlichen Kunsthochschulen irritiert mich.
Ich hatte auf den Unterschied von Kino- und TV-Ästhetik verwiesen. Er
sieht da keinen Unterschied, Bild ist doch Bild, oder? Einer sagt: der
Film zeigt doch wie gut sich die Masse Mensch erziehen läßt, warum soll
das nicht klappen die zum Guten zu erziehen? Mit Bildung, der Film zeigt
doch wie es klappen kann! Den rechten Weg zu weisen. Ich glaube an die
Lernfähigkeit der Menschen. Verblüffung im Kino. Mein Hinweis auf das
Humane der amerikanischen Re-Education vor dem Hintergrund der
chinesischen Variante mit 43 Millionen Opfern unter Mao sorgt für
Irritation. Das ist ja zynisch, ruft eine. Im Grunde hat man sich ganz
gut mit den Amis als Buhmännern, die auch die Drecksarbeit machen,
eingerichtet. Insgesamt gute Stimmung im Saal. Verkaufe paar Bücher.
Zwei Studenten aus Karlsruhe sind angereist, die die Vorführung im ZKM
verpaßt hatten. Wollen mich im Herbst nochmal nach Karslruhe zu einem
Seminar einladen. Die neue Regierung in Baden-Württemberg hat Mittel für
solche studentischen Aktivitäten freigemacht. Das ist zu loben. Der
eine will wissen was man denn nun praktisch tun kann, wie läßt sich
Kritik praktisch umsetzen, eine fast in allen Veranstaltungen
auftauchende Frage (wäre ein Wohltat für Religionsgründer und
Propheten). Für seine Generation ist das sehr schwer rauszufinden. Wir
haben so wenig Zeit. Das Master und Batchelor-System sorgt für einen
vollen Terminplan und dreht das Mäuserad der Selbstoptimierung.
Danach
am Tisch beim Italiener. Im Kino war auch der Psychoanalytiker, der die
Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft organisiert
hat, die eine Woche zuvor in Stuttgart stattfand. Ihm hat der Film
gefallen, auch fachlich war nichts auszusetzen. Er wundert sich aber,
warum der Fuchsberger sich nicht bewußter zu dem bekennt, was er da
gemacht hat. Denn er hat ja was Gutes gemacht. So arbeiten wir ja auch.
Die verkrampften und in ihren Spannungen feststeckenden Menschen zu
lockern, von diesen Verspannungen zu befreien. Aber warum baut
Fuchsberger da in seine Geschichte eine Distanz ein? Und die anderen in
der Runde? Deren Gelächter über "die Patienten“ ist ja nichts anderes
wie das Abweisen des beunruhigenden „Anderen“, vor dem man auch Angst
hat. Der „Irre“, der ausgesondert und abgespalten werden muß, der zu den
„Normalen“ nicht dazugehört. Sondern auf ein Narrenschiff, das weit
draußen vor der Küste ankert. Mit einigen Kollegen der Merz-Akademie
noch weiter, ins Bonny and Clyde in Stuttgart-Ost. Wieder guter Tag.
Halb drei im Hotel.
11.05., noch Stuttgart
Kurzer Besuch bei einer Kuratorin in der Staatsgalerie Stuttgart auf einen Kaffée.
Als
ich Richtung Innenstadt schlendere, gerate ich ins große Defilée zur
Wahl des neuen Ministerpräsidenten im Landtag. Jede Menge Polizei,
Hunde- und Reiterstaffeln. Gemessenen Schrittes geht die Blüte Schwabens
zur Wahl ihres neuen Chefs und seines Kabinetts. Das war am Abend
vorher Thema der lokalen Kulturschaffenden am Tisch beim Italiener
gewesen. Wie wird sich die Ernennung neuer Minister und Staatssekretäre
auf Fördergelder und Haushaltstitel auswirken? Kretschmann, massig,
müde, bleich, grauer Anzug, neben ihm der solargebräunte Strobl in Blau,
sein Adjudant. Kretschmann macht große Schritte, Strobl viele kleinere,
um Schritt zu halten. Ab und an bleiben beide stehen, und scheinen
staatspolitisch bedeutsame Gespräche zu führen. Darstellung von
Verantwortung und Politik im allgemeinen. Tableau vivant. Erinnert mich
an die Fotos von Unterredungen des Kaisers oder Kronprinzen mit seinen
Ministern. Im Vorbeigehen raunt einer der um würdevolles Schreiten
bemühten Abgeordneten seinem Nebenmann zu:“ Das ist heute schon ein
erhebender Tag!“.
Abends in der Merz-Akademie. Versuche meinen
Werkansatz zu veranschaulichen. Grafik-Animationsfilm-found
footage-Experimentalfilm-Mediencollagen-Dokumentarfilm - im Wechsel mit
den bildkünstlerischen Arbeiten. Das Zusammenführen unterschiedlicher
Teile eines Ganzen und deren Bearbeitung in verschiedenen Medien. Das
klappt ganz gut, mit Hilfe von Filmausschnitten und dem Material auf der
Webseite www.herakleskonzept.de. Was ich lange Zeit vergessen hatte: im
Vorspann zu „Einmart“ wird aus einem DDR-Handbuch für Kybernetik
zitiert, im Film werden dann Sprachbilder von Weber, Spengler und
Bildzitate aus Tarkowski „Andrej Rubljow“ verwendet. Dann wieder mit den
Merzlern ins Bonny and Clyde.
12.05. Fahrt nach Wiesbaden.
Der Zug schon voller Pfingsurlauber. Die meisten steigen in Frankfurt-Flughafen aus. Ein wohlhabendes Volk.
Freue
mich auf das Kino (Caligari) in Wiesbaden, auch wenn der Vorverkauf,
mit dem mich der Kinoleiter schon mal telefonisch auf Moll stimmt,
schleppend läuft. Egal. Sogar scheißegal. Es ist wieder kühl und
regnerisch, Kinowetter.
Gehe noch bischen in Wiesbaden spazieren,
essen im Restaurant von Karstadt. Das ist einfach und praktisch, fast in
jeder Stadt gibt es das, und das Publikum ist speziell. Komme an der
Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler vorbei. Verschuldung des Landes
aktuell, Stand 12.Mai 2016: 2 Bill. - 26 Mrd. - 926 Mio. - 67 Tsd. -
Zuwachs pro Sekunde 115 €.
Im Kino dann um die 30, 35 Besucher. Das
Kino ist renoviert und restauriert, der Blick von der Bühne in den Saal
ist großartig. Allein schon deswegen hat sich die Tour gelohnt.
Technisch gute Vorführung, die Boxen allerdings bischen zu präsent im
Center ausgemessen und eingestellt. Während der Film läuft fragen mich
die Kinoleute in der Regel ob wir essen gehen wollen. Meist habe ich das
bisher ausgeschlagen, noch mit dem Publikum im Film zu sitzen ist
wichtig um dann gleich nach Ende des Films „drin“ zu sein, um evtl. auch
gleich etwas aufzugreifen was mir selbst gerade aufgefallen ist.
Diesmal
nehme ich die Einladung an. Wir sprechen über den nun schon paar Jahre
alten digitalen Alltag im Kino, die Fehleranfälligkeit der digitalen
Kopien und den Wirrwarr der Formate, Codecs und Spezialaspekte. Es
fallen prozentual mehr Vorführungen durch technische Ursachen aus wie
früher mit 35mm Film, erfahre ich. Die Verleiher schicken in der Regel
die Kopien am Montag raus, wenn der Film ab Donnerstag laufen soll. Die
Festplatten kommen aus verschiedenen Zwischlagern, und werden durch
unterschiedliche Kurierfirmen zugestellt. Im günstigsten Fall am
Mittwoch. In den Kinos ist aber vor Nachmittag in der Regel niemand da.
Also geben die Kuriere die Festplatten irgendwo ab, auch mal im falschen
Kino, oder es kommt zur Zweitzustellung erst am Spieltag. Das verteuert
den Transport empfindlich. Wenn dann etwas mit der Festplatte sein
sollte und die Zeit zum rebooten nicht ausreicht, fällt die Vorführung
aus. Eine Festplatte kann in der nächsten Sekunde oder erst in vier
Jahren sterben, das weiß niemand vorher, weil es sich nicht ankündigt.
Probleme sind auch die Speicherkapazität, die Verschlüsselung,
verschiedene Server-Projektor Kombinationen usw. Es ist auch nicht mehr
einfach möglich per Hand in den Vorführprozeß einzugreifen und zu
versuchen etwas zu korrigieren, wie z.B. den von mir in fast allen
Vorführstätten bemängelten Bildausschnitt. Das ist nun eine Blackbox.
Ja, sage ich, keiner konnte mir bisher sagen warum von „Overgames“ nicht
in jedem Kino das gleiche und das volle Bildformat vorgeführt werden
konnte. Er lacht. Wir haben im Caligari für ein und dasselbe Format,
z.B. 1:1,85 vier Varianten um die Unterschiede in den angelieferten
Datensätzen auszugleichen. Die neue Technik wurde als Vereinheitlichung
und als kostengünstiger angepriesen. Viele wissen, dass das nicht der
Wahrheit entspricht, aber keiner kommt mehr aus diesem System raus. Die
DCP (Festplatten) die nun gespielt werden sind nur eine Zwischenstufe.
In (baldiger) Zukunft werden die Daten des Films gefunkt werden, und
direkt, von den Großen aus den USA direkt oder von Zwischenstationen in
London etwa, ins Kino auf dessen Server übertragen. Dann fallen
natürlich materielle Bildträger oder Kurierdienste weg. Und
Arbeitsplätze. Das ist dann Industrie 4.0 auch im Kino.
Filme wie
meiner sind dann noch mehr die Ausnahme, der weiße Rabe, können aber
sicher noch eine Weile vorgeführt werden. 16mm oder 35mm aber sicher
bald nicht mehr, obwohl die Projektoren in einigen wenigen Kinos noch
vorhanden sind. Das Problem ist, dass die jungen Vorführer keine
ausreichenden Erfahrungen mehr haben, um diese Kopien vorzuführen. Weil
zu wenig geübt werden kann. Die Filmarchive werden in Zukunft ihre Filme
+ einen erfahrenen Vorführer ausleihen müssen. Wer will und kann das
bezahlen? Zurück ins Kino Caligari.
Im Filmgespräch wiederholen sich
nun die Fragen, wahrscheinlich auch einige meiner Antworten. Aber ich
sehe an den Gesichtern und gelegentlichen Lachern dass Spannung im Saal
ist. Wieder einige Bücher verkauft, neue Adressen in den Email-Verteiler
notiert. Im Foyer kommt ein Mann und stellt sich als gebürtiger
Deutsch-Lette vor, der schon lange in Deutschland lebt. Er hatte mich in
der Diskussion nach meinen Beweggründen gefragt den Film zu beginnen.
Nun erzählt er von seinen Erfahrungen, als die Familie nach der
überstandenen Umsiedlung nach Turkmenistan unter Stalin nach 1945 nach
Westdeutschland kam. Sie fühlten sich als Deutsche, blieben aber „die
Russen“. Die Westdeutschen wiederum wollten am liebsten keine Deutschen
mehr sein, kokettierten mit etwas „Anderem“. Zugleich die Angst der
Westdeutschen, später im Kalten Krieg, vor den Russen. Aber was wenn die
Russen kommen, habe er gefragt, dann müßt ihr euch doch entscheiden ob
ihr Deutsche seid oder nicht. Ob ihr euch selbst oder Deutschland
verteidigen wollt? Damit haben wir nichts zu tun, war die Antwort, das
machen die Amerikaner.
Verschicke die Daten für die Radiocollage über meinen Verteiler:
Messer und Uhr
Eine Radiocollage von Lutz Dammbeck
Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb)
Mi, 18. Mai 2016 - 22:04 Uhr
Länge: 51:05
Mitteldeutscher Rundfunk (MDR )
Mi. 18.Mai 2016 -22:00 Uhr
Länge: 51:05
Deutschlandfunk DLF
Fr 27. Mai 2016 - 20.10 Uhr
"Das Feature"
Länge: 49:50
13.05. Hannover
Nachmittags Termin im Sprengel
Museum. Anfang Juni soll die Sammlung im Erweiterungsbau festlich
präsentiert werden. In einer Loggia mit Blick zum Maschsee soll "Zeit
der Götter" auf einem Sony-Monitor mit Kopfhörern gezeigt werden.
Inhaltlich macht das Sinn: der Blick auf den Maschsee, einem künstlich
geschaffenen See an dem bis 1936 mit Hilfe von NS-Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen
gewerkelt wurde, und auf zwei von Arno Breker 1938 geschaffene
Löwen-Skulpturen an der so genannten Löwenbastion. Wie immer beim
Einsatz von Filmen in Galerien und Museen bleiben viele Fragen.
Eigentlich kann man nur mitteilen, dass es den Film gibt, und den durchs
Museum flanierenden Besuchern ein Aha-Erlebnis vermitteln. Vielleicht
kauft sich dann jemand die DVD um sich den Film als Video in Ruhe
anzuschauen, vielleicht gelingt es dann einzelnen den Film mal im Kino
auf einer Leinwand zu sehen. Das wärs ja eigentlich. Freue mich dass es
nun im Herbst eine DCP geben wird. Als (16mm-) Film ist der Film schon
nicht mehr vorführbar.
Dann 19:00 Uhr ins Kino.
Der freundliche
Mitarbeiter an der Kasse teilt mir mit dass der Chef schon im Urlaub
ist. Klar, Pfingsten. Ich werde also meinen Gesprächspartner, den
Direktor des Sprengel Museums vorstellen, und der mich. Im Kino dann 30 -
35 Zuschauer.
Eine Frau geht in der Mitte des Films raus. Als ich mir
Minuten später ein Mineralwasser hole sehe ich sie entspannt auf einer
der Couches im Kinocafé liegen und mit dem Mann an der Kasse plaudern.
Ich spreche sie an. Warum sind sie denn rausgegangen? Die Musik ging mir
auf die Nerven, dieses pling-pling. Ich wollte dem Text folgen, und das
war mir dann zu anstrengend. Ich sage, kommen sie mal wieder mit rein,
jetzt kommen gleich zwei spannende Kapitel und dann ist auch Schluß. Sie
kommt mit und bleibt dann nicht nur bis zum Schluß, sondern löchert
mich dann auch noch nach Ende der Diskussion mit Fragen.
Die
Diskussion verläuft zunächst unspektakulär. Aus Uelzen ist ein Pärchen
angereist, das den Film unbedingt sehen wollte. Sie ist Kunstlehrerin
und fragt warum ich nicht wieder mit ausgeschnittenen Figuren wie in den
anderen Filmen gearbeitet habe, zum Beispiel in "Das Meisterspiel"?
Versuche zu erklären dass die Form für jeden Film sich aus dem Sujet
entwickelt, da gibt es nichts, was vorher feststeht. Manches Inhaltliche
entwickelt sich auch aus der Form. Wenn ich bestimmte Formelemente
nebeneinander liegen habe und Kongruenzen sehe, kann daraus Text oder
ein neuer Gedanke entstehen. Verweis auf Warburg, die Bildtafeln der
Atlasmacher, meine Tableaus mit den vielen Zitaten die Fußnotenfunktion
haben.
Mein Gesprächspartner fragt nach den 1.539.841 Babies, woher ist
die Zahl? Natürlich, dagt er, hat der Künstler das Recht so eine Zahl zu
erfinden, großzügig mit den Fakten umzugehen. Frage zurück: was meinen
Sie, Wahrheit und Erfindung zu mischen? Ein Rekurs auf den postmodernen
konstruktivistischen Quatsch von "alles ist (unsere - meine)
Konstruktion", der gerade in der Adoption der heimatlosen Film- und
Videokünstlerwaisen durch Galerien, Museen und den Kunstmarkt an
Bedeutung gewonnen hat?
Na ja, sagt er, Wissenschaftler würden anders
arbeiten. Da wäre so eine Zahl mit Statistik hinterlegt. Er greift also
die Zahl an. Und damit das, was im Film dranhängt. 1968, die gemachten
statt gewordenen Generationen der westdeutschen Nachkriegsgenerationen.
Nun ist das Gespräch auf einmal wieder interessant geworden. Wieder das
Unbehagen das eigentlich hinter dem Angriff auf die Zahl steht, aber
nicht offen ausgesprochen wird. Wenn es "nur" Kunst ist und die Zahl
eine Erfindung um zu polemisieren, dann wäre es gemütlicher. Muß
nachdenken, wo habe ich die Zahl denn her?
In meiner Erinnerung aus den
Konferenzunterlagen der Brickner-Konferenz in der Columbia Universität.
Da ging es um Kindererziehung, und wo und wie angesetzt werden sollte.
In den Papieren des State Department, die aus den Texten und Vorschlägen
der Wissenschaftler und Mediziner dann das ausfilterten was ihnen
kriegsbedingt schell umsetzbar und praktikabel erschien, fanden sich
dann konkrete Punkte wie diese frühkindliche Erziehung aussehen sollte.
Allerdings stand diese Zahl dann nicht mehr im 18-seitigen
Abschlußbericht der Konferenz, und auch nicht in dem darauf aufbauenden
und im Film gezeigten Papier des St.Dept. Weder da noch da war der
Hinweis auf eine Statistik gewesen. Da wurde mit einfachen
methaphorischen Bildern gearbeitet. Und Erfindungen, "Therapeutic Peace"
z.B. Um die potentiellen Auftraggeber zu beeindrucken und den
Forschungsansatz "idiotensicher" verständlich dalegen zu können. Aber
entwertete mein wissenschaftlich genauer Transfer dieser Fakten, Zahlen
und Daten meinen Film?
Vielleicht war der in Teilen wissenschaftlich
genauer wie die Arbeit der Wissenschaftler mit denen er sich
beschäftigte, plus einem künstlerischen Mehrwert?
Eine Museumskollegin
fragt: und woher sind die Bilder von den Babies? Gute Frage, das ist nun
Jahre her dass ich das Archivmaterial gesichtet und die Quellen
verschriftet hatte, in meiner Erinnerung war es amerikanisches Material
im Rahmen der Vorbereitung auf den Sprung nach Europa.
15.05. Hamburg, im Atelier
Die Sache mit den
1.539.841 Babies beschäftigt mich, der versteckte Vorwurf der
Manipulation und sogar Faktenverdrehung ärgert mich. Also, ab ins
Archiv. Was finde ich: ich hatte mich nicht, wie die meisten derjenigen
die dicke Bücher über Re-Education und die sogenannte
"Brickner-Konferenz" geschrieben haben, mit dem einzig bekannten und im
AMERICAN JOURNAL OF ORTHOPSYCHIATRY 1945 (VOLUME XV) erstmals und ananym
veröffentlichten Konferenztext zufrieden gegeben, und im Mead-Archiv in
Washington nachgegraben. Und in den umfangreichen Tagesberichten zur
Konferenz etwas mehr gefunden, u.a. die nun umstrittene Zahl. Die Quelle
war:
"Library of Congress/Manuscript Division, Library of Congress,
Washington, D.C./
Margaret Mead papers and South Pacific Ethnographic
Archives, 1838-1996/ Margaret Mead, Institute For Intercultural Studies -
"National Character Studies".
Das file hieß: "CONFERENCE ON GERMANY AFTER THE WAR, und da hatte ich unter (By Carl Binger, M.D.) folgendes Zitat gefunden:
"I
agree and subscribe to the paranoid nature of certain dominant German
institutions as enumerated by Brickner and Lyons on p. 283 of their
reprint A NEUROPSYCHIATRIC VIEW OF GERMAN CULTURE. How can these culture
be changed? Have we a better one to give them which the Germans can
accept and make their own? The job we have is at least a two generation
one. It must begin with the 1.539.841 babies born in Germany last year
(1943). We must supervise their feeding, their kindergartens and primary
schools and all their secundary education – through the gymnasia...If
we believe in Democracy ourselves it is that we must teach them or help
them to learn. Selection of personnel for this work and their training
and status might form a spezial subject for our discussion. (-)."
Wo
Dr.Binger die Zahl her hat, weiß ich nicht, es gab keine Quellenangabe.
Sicher ließ sich das nachprüfen. Aber, selbst wenn die Zahl sachlich
nicht stimmte, war es doch korrekt, diese zu zitieren. Man wollte an die
1943 geborenen Babies. Und das hatte dann ja auch, in Westdeutschland
zumindest, und im übertragenen Sinne, auch geklappt. Sicher bewegte man
sich hier im Bereich der Übernahme und des Zitierens von Propaganda, von
Vereinfachungen, Überhöhungen, Methaphorik. Steht das dem
wissenschaftliches Arbeiten wirklich (immer) diametral entgegen? Meine
Überprüfung der Fußnoten aus den Standardwerken zum Thema „Re-Education“
in der Library of Congress hatte so manche Abweichung und Ungenauigkeit
ergeben. Zudem waren die Papiere des State Department von einem
Mitarbeiter (Harley B. Notter) „in Form“ gebracht und bearbeitet worden,
ehe Forscher Zugang bekamen. Margaret Mead hatte selbst sicher auch
schon eine Vorauswahl getroffen, ehe sie die Papiere ins Archiv gab.
Folgten dann Forscher wie ich dann nicht einer von ihr vorgegebenen
Dramaturgie? Konnten dann die Bücher von Historikern und anderen
Wissenschaftlern zum Thema »Re-Education«, in denen Zitate aus diesem
Archiv als Belege verwendet wurden, mehr abbilden als eine von Margaret
Mead vorgegebene Lesart? Deren Ordnung höchstens gestört werden konnte
durch den zufälligen Glücksgriff in diesen oder jenen Folder, in diese
oder jene Archivbox? Durch naturgegebene Schlampereien wie das
Verschwinden von einzelnen Seiten beim Umsortieren der Papiere durch die
Archivare? Oder durch Forscher, die hofften durch das gezielte
Verstecken von Seiten in Foldern, in die sie nicht hineingehörten,
alleiniger Besitzer dieser Information zu bleiben? Zudem wurden diese
Ideen und Vorschläge der Wissenschaftler und Mediziner nun von den
Mitarbeitern im Außenministerium in eine Verwaltungssprache umgeformt,
aus den soziologischen, psychiatrischen und psychoanalytischen Metaphern
wurden nun Handlungsanweisungen für Militärs und Beamte. Die Zahl fand
sich in den Texten des Außenministeriums dann zwar nicht mehr, aber
konkrete Handlungsanweisungen die sinngemäß und verallgemeinernd
ausformulierten, was nun mit den Babies zu tun war. Und wie hoch war,
ganz allgemein gefragt, der Wert von Statistiken anzusetzen?
Und die Filmbilder mit den Babies?
Die hatte ich
aus der siebenteiligen US-amerikanischen Serie Why We Fight (sinngemäße
„Warum wir Krieg führen“), eine Serie von Propagandafilmen aus dem
Zeitraum 1942 bis 1945. Die Filmreihe wurde kurz nach dem Eintritt der
Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg vom Kriegsministerium in
Auftrag gegeben und mit Hilfe des Research Council Academy of Motion
Pictures produziert. Prelude to War, der erste Film der Reihe, wurde
1943 als „Bester Dokumentarfilm“ mit dem Oscar ausgezeichnet. Mein
Ausschnitt mit den Babies stammte aus Part 5: The battle of Russia, von
1943.
Die amerikanischen Propagandakrieger waren gebildete Leute.
Vor den Babies gibt es Sequenzen, die auf den Rasse- und Zuchtgedanken
im NS verweisen. Im Schnitt direkt vor den Babies wird Dr.Willibald
Hentschel aus DER HAMMER zitiert und dessen Idee in eigens
eingerichteten Zuchtanstalten rassisch reine und arische Babies zu
produzieren. Im Schnitt danach werden diese Babies dann gezeigt. Und da
der US-Film 1943 produziert und veröffentlicht wurde, waren das
möglicherweise sogar in irgendeiner deutschen Wochenschau gefundene und
kopierte Bilder von 1943 in Deutschland geborenen Babies (diese Quelle
wäre nun zu überprüfen), von den Dr.Binger, einer der Teilnehmer der
Konferenz, spricht. Denn auf dieses Material wollten amerikanische
Wissenschaftler, Ärzte und Pädagogen ja Zugriff haben, denn die Formung
bzw. Umformung im frühesten Alter versprach ja den größten Erfolg. Also:
die Wissenschaft liefert die Zahl, möglicherweise sogar statistisch
belegbar), der Film das Bild. Das habe ich nun zusammengebracht.
Auch die Wissenschaftler, die in Text und Film zitiert werden, sind interessante Referenzgrößen.
Carl Alfred Lanning Binger (1889–1976):
was
an American psychiatrist who wrote books and articles on a wide range
of topics including medicine and psychiatry, a pioneer in the field of
psychosomatic medicine. ("Pressures on College Girls today", 1961). The
author of The Doctor's Job and of other books related to medicine and
psychiatry, and editor in chief of Psychosomatic Medicine, Dr. Carl
Binger is presently serving as psychiatric consultant to the Harvard
University Health Services.
Dr.Willibald Hentschel (1858-1947)
:
Assistent
bei Ernst Haeckel, 1885 bis 1886 nahm Hentschel an einer Expedition
nach Sansibar und Ostafrika teil. Nach seiner Rückkehr ging er an die
Universität Jena und kam als Chemiker durch Patente und Erfindungen auf
dem Gebiet der Indigo-Herstellung zu einem beträchtlichen Vermögen,
schrieb die Bücher Varuna (1901) und Mittgart (1904), in denen er
Projekte einer arischen Rassenzüchtung propagierte. Menschenzuchtpläne:
nach den Vorstellungen Hentschels sollte aus einer vornehmlich
landwirtschaftlichen Produktionsstätte ein „Menschen-Garten“ werden,
eine „Stätte rassischer Hochzucht“ mit dem Ziel eine „neue völkische
Oberschicht“ zu bilden. Beteiligt 1923/24 an Aufrufen zur Bildung von
Artamanenschaften (mit Bruno Tanzmann, Wilhelm Kotzde), das
Gründungsmoment der Artamanenbewegung, s.a. Bruno Tanzmann und die
völkische Bewegung in Dresden (Gartenstadt Hellerau).
Uff, das müßte eigentlich vor dem Kritiker-Gericht doch für Freispruch ausreichen?
17.05., Greifswald
Umständliche Zugverbindung von
Hamburg über Berlin nach Vorpommern: Bernau, Eberswalde, Prenzlau,
Pasewalk, Anklam, Züssow, die Strecke bin ich noch nie gefahren. Habe
noch Zeit, gehe durch die Stadt. Das Geburtshaus von Caspar David
Friedrich. Im Fenster das Plakat für die aktuelle Ausstellung eines
meiner ehemaligen Studenten. Ich erinnere mich, er hatte vor Jahren den
Caspar-David-Friedrich Preis gewonnen, und ich hatte in diesem Haus die
Laudatio auf ihn gehalten. Dann ins Alfried Krupp Wissenschaftskolleg.
Ein Neubau, moderen und technisch hochgerüstet, zwei studentische
Hilfskräfte sorgen sich um mich und die Veranstaltungstechnik. Alles vom
Feinsten. Berthold Beitz, der Vorsitzende des Kuratoriums der Alfried
Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, ist hier in der Nähe zur Schule
gegangen und so landete dieses UFO westdeutschen Mäzenatentums in
Greifswald.
Ich soll hier einen Vortrag zu "Overgames" halten, ehe
dann 19:30 Uhr die Filmvorführung im Theater, in Kooperation mit dem
örtlichen Filmclub "Casablanca", beginnt.
18:00 Uhr ist der Saal im
Krupp-Kolleg gut gefüllt, der Chefdramaturg des Theaters macht eine
Einführung zu meiner Person und Werk, und er macht das interessant und
gut. Er schließt mit einem Verweis auf die 11.These von Marx über
Feuerbach über die Veränderbarkeit der Welt (11. Die Philosophen haben
die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu
verändern), setzt das ins Verhältnis zu "Overgames" und dass es heute
vielleicht mehr darauf ankommt, die Welt (neu und anders?) zu
interpretieren und schließt mit der Frage "Wer erzieht den Erzieher?".
Ja, gute Frage.
Wer hat Mead, Bateson, McLeish, William Benton,
Rockefeller, Rosenwald, Adorno oder Horkheimer erzogen? Wie erzieht man
solche Leute?
Im Theater dann zwischen 40 und 50 Besucher, vielleicht sogar mehr
wie 50. Der Filmclub hat eine mobile Leinwand aufgespannt, wir sehen
wieder mal das volle Format, das ist gut. Der Ton ist zunächst bischen
gewöhnungsbedürftig, etwas verhallt, in den tiefen Bässen beginnt die
Anlage zu rumpeln, aber nachdem sie es bischen leiser gedreht haben geht
es, und irgendwann ist man drin. Im Publikum auch zwei "fellows" des
Wissenschaftskollegs, einen kenne ich noch aus Dresden, wir saßen mal
zusammen im ersten Vergabegremium der sächsischen Filmförderung. Beide
sitzen vor mir und können erkenn- und hörbar nicht so viel mit dem Film
anfangen. Während meines Vortrags war einer von Ihnen sogar
eingeschlafen. Dann Diskussion. Vorne dran der "fellow", ihm ist alles
zu wirr und unbewiesen. Interessanter die Wortmeldungen zu 68. Eine
junge Frau sagt ihr gibt gerade dieses Kapitel zu 68 einen "frame" wo
sie biografische familiäre Erfahrungen verorten kann. Gerade weil der
Film offen bleibt, gelingt ihr das. Der wissenschaftliche Leiter des
Krupp-Kollegs meldet sich als "Sohn einer westdeutschen Labormaus" und
fragt davon ausgehend ob wir alle uns nun als Erziehungsprodukte und
fremdbestimmt begreifen müssen, oder ob es irgendwo Chance gibt für
einen selbstbestimmten "freien" Ansatz für Tun. Ein anderer wundert sich
wie distanziert die Diskussion verläuft, als ob es uns, das Publikum,
nichts angeht was im Film verhandelt wird. Geht es uns so gut?
Dann
die Frage was ich von der Feststellung in einer großen überregionalen
Tageszeitung halte, die Ostdeutschen hätten ihre Hausaufgaben in punkto
Integration (sprich „Re-Education“) noch nicht gemacht. Wohl wahr, die
müssen jetzt nachsitzen und erhalten Nachhilfeunterricht, bis sie das
westdeutsche Level erreicht haben. Der Frager meinte wohl auch, ob da in
Ostdeutschland ein Widerstandspotential schlummert, das sich der im
Film ausgebreiteten westlichen Erziehungsdiktatur entgegenstellen
könnte? Das wäre eine interessante Frage. Waren wir im Osten von den
Russen "angefasst" worden? So wie die Gleichaltrigen im Westen von den
Amerikanern? Zu Antiwestlern erzogen worden? Oder waren da eher im
Abstabndwahren zu viel "Materiellem", "Oberfläche", "Äußerlichkeiten",
"Profitgier" noch Reste der NS-Erziehung wirksam, die uns von den Eltern
mitgegeben worden waren? Und mit den
deutsch-proletarisch-sowjetkommunistischen Glaubenssätzen seltsame
Amalgame eingegangen waren? Mehr sein als scheinen. Du bist nichts, dein
Volk ist alles. Was fragt ihr dumm, was fragt ihr klein, ein BDM-Lied.
Den Verweis auf das Lied fand ich bei Christa Wolf. Sie ist in den USA
und muß sich mit den Stasivorwürfen im fernen Deutschland
auseinandersetzen. Sie läuft die ganze Nacht durchs Zimmer und singt das
BDM-Lied, um ihrer Unruhe Herr zu werden. Auch meine Mutter war bis an
ihr Ende überzeugt vom Geist der Kameradschaft und Gemeinschaft bis über
das Kriegsende hinaus. Das in der jungen Bundesrepublik in der Familie
Beschwiegene (nicht zu vergessen das von der 68er Generation
ausgeblendete transgenerational übernommene Erbe) und durch das
„Wirtschaftswunder“ wie „68“ scheinbar zum Verschwinden Gebrachte
scheint sich nun nach 1989 im Osten zu zeigen, vor den Augen der
peinlich berührten Westverwandschaft.
Am Ende ein gutes Bild:
der Filmclub Casablanca packt seine Gerätschaften ein, Holzstative
geschultert, Verstärkerboxen vor dem Bauch und die eingerollte Leinwand
über der Schulter ziehen sie ab - eine frohgemute russische
Treidlertruppe. Als ich ihnen zurufe, seid froh dass ihr eine Blue Ray
vorgeführt habt und keine 35mm-Kopie rufen sie fröhlich, schon auf dem
Treppenabsatz, kein Problem, wir können noch 35mm-Film vorführen, mit
der TK 35, dein Film, das wären auch nur sieben Rollen gewesen!
Dann
noch einen Wein mit dem Theaterleuten im leeren Foyer. Der Chefdramaturg
zitiert Hegel: "Hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre
freilich die französische Revolution nicht ins Leben getreten." Denn
eine Revolution gelingt nur wenn sich keiner (im Wald, wie Ted
Kaczynski, sic!) verstecken kann, alle müssen von der Revolution
erreicht werden können. Vor dem Theater wartet ein Wagen, ein
Mitarbeiter des Theaters fährt mich nach Hamburg zurück, der letzte Zug
fuhr vor vier Stunden. Ankunft 2:15 in Altona. 5:53 geht es weiter nach
Mainz.
18.05., im Zug nach Mainz
Habe nun doch, mit
leichtem Unbehagen, ein Tagesticket für einen Onlinezugang gekauft, und
die Kreditkartendaten eingegeben. Muss aber vom Zug aus den DCP-Verkehr
regeln. Zu meinem "Hannover"- Eintrag von gestern kommt ein Kommentar
per Email:
"Übrigens bin ich nicht der Meinung, dass sich hinter
der seltsamen Frage des Direktors des Sprengel Museums, nach der
wissenschaftlichen Belegbarkeit der „Zahl“ der Babies, ein
tieferliegendes Unbehagen versteckte. Eher hatte ich den Eindruck, dass
er sich da in etwas verstiegen hat – einfach weil ihm keine interessante
Frage mehr eingefallen ist (Man könnte natürlich entgegnen, das
Unbewußte habe ihm da einen Streich gespielt…). Was mir aber nach beiden
„Diskussionen“ (in Dresden und Hannover) aufgefallen ist: Mit der
Hauptthese des Films wird sich fast überhaupt nicht auseinandergesetzt,
keiner ist empört, kaum einer ist verstört. „Diskutiert“ wird
überwiegend an Nebenschauplätzen (beispielhaft: Rousseau in Dresden,
Formfragen in Hannover). Ein Symptom der heutigen Zeit?"
Da ist
was dran. Vielleicht war meine "Rechtfertigung" der Baby-Fakten doch
bischen übereifrig? Sogar unnötig? Aber über die Form des Films zu reden
finde ich wichtig. So arbeitet doch niemand anderes. Der Chefdramaturg
aus Greifswald schickt per Email noch eine Ergänzung zum Hegelzitat und
schreibt: Ich gebe hier mal den größeren Zusammenhang, ist wirklich
interessant, in der Philosophie der Weltgeschichte behandelt Hegel
natürlich auch die Neue Welt, also Amerika.„Dass ein Staat die
Existenz eines Staates bekommen könne, dazu gehört, dass er nicht auf
fortwährende Auswanderung bedacht sein, sondern dass sich die
ackerbauende Klasse nicht mehr nach außen drängen kann, vielmehr sich in
sich zurückgedrängt, sich zu Städten und städtischen Gewerben
zusammenfasst. Erst so kann ein bürgerliches System entstehen, und das
ist die Bedingung für das Bestehen eines organisierten Staates.
Nordamerika ist noch auf dem Standpunkte, das Land anzubauen. Erst wenn
wie in Europa die bloße Vermehrung der Ackerbauer gehemmt ist, werden
sich die Bewohner, statt hinaus nach Äckern zu drängen, ein kompaktes
System bürgerlicher Gesellschaft bildend zu dem Bedürfnis eines
organischen Staates kommen. Eine Verleihung der nordamerikanischen
Staaten mit europäischen Ländern ist daher unmöglich; denn in Europa ist
ein solcher natürlicher Abfluss der Bevölkerung, trotz aller
Abwanderungen, nicht vorhanden: hätten die Wälder Germaniens noch
existiert, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins Leben
getreten. Mit Europa könnte Nordamerika erst verglichen werden, wenn der
unermessliche Raum, den dieser Staat darbietet, ausgefüllt und die
bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre." Quelle: Hegel, G.W.F.: Philosophie der Weltgeschichte. Leipzig 1944. (S. 199)
Sehr gut, das werde ich der amerikanischen Studentin in Kassel zukommen lassen.
Endlich kann ich auch mal die Email von Haus des Dokumentarfilms beantworten. Die fragen an “…bei
Doku-Regisseurinnen und Regisseuren und weiteren Dok-Experten zu den
wichtigsten Dokfilmen aus dieser Zeit. Außerdem wäre uns wichtig zu
erfahren, was Dir am Dokumentarfilm besonders wichtig ist. An der
Umfrage kannst Du Dich einfach über diesen Link beteiligen (Link hier
gelöscht).
Heiliger Strohsack. Das schöne Geld was
ununterbrochen verbrannt wird. Muß wieder daran denken wie einer vor
Jahren bei der sounsovielsten Feier zum Bestehen der Hamburger
Filmförderung auf die Tafel, wo die Gäste Geburtstagsgrüße mit einem
Edding aufmalen sollten, schrieb: DAS GELD IST WEG DIE SCHANDE BLEIBT.
Ergänzend zur Umfrage soll auch ein Symposium mit dem Titel "Transmedial Erzählen – Film, Webdoku, Game, 360°" stattfinden. Im Mittelpunkt des Programms stehen
"Finanzierung, Ausbildung und Verbände. Anhand ausgewählter Case
Studies wird die Entwicklung einer Geschichte auf verschiedenen
Plattformen thematisiert." Ich war schon einige Male zu solchen
Treffen, man hofft Redakteure zu treffen, Unterstützung für Projekte zu
finden und, wenn man jünger ist, sich bekannter zu machen. Man kann auch
seinen Namen im Programmheft lesen. Ansonsten ist es meist folgenlos.
Der
Medienrealität- und Entwicklung sind diese Symposien schnurz, die
dampft vor den erstaunt-erschrockenen Augen der Teilnehmer vorbei und
weiter in die von der „permanenten Revolution“ angezeigte Richtung.
Ankunft in Mainz, noch eine Stunde Zeit bis das Seminar bei den Filmwissen-
schaftlern der Uni beginnt. Setze mich ins Grüne und höre bischen den Vögeln zu.
18.05. Mainz, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft
12:00
Uhr. Das Seminar ist ein Gespräch mit der Leiterin des Instituts, mit
Oksana Bulgakowa. Wir kennen uns schon lange. Sie hat den Film letztes
Jahr in der Akademie der Künste gesehen.
Oksana hat sich gute Fragen
ausgedacht, die Lust machen, zu antworten. Werkansatz, die Materialien,
Zuordnungen zu Genres, das Verhältnis von bildender Kunst und Film.
Oksana sagt dass ich nicht wie im formatierten Dokumentarfilm den
Verbrecher und das Verbrechen zeige. Einspruch: Oh doch. Nur dass das
„Verbrechen“ und der „Verbrecher“ für mich kein zeitlich abgeschlossener
Vorgang oder eine konkrete Person ist, sondern multifunktionale
Netzwerke, Konglomerate oder ich könnte sogar sagen: WESEN sind, die
sich aus Personen, Ideen, Orten und Beziehungen zusammensetzen. Dafür
suche ich nach einer genuinen Form, um die sichtbar zu machen.
Über
meine Mediencollagen, ein „Kino im Raum“ der 1980er, kommt Oksana auf
der Suche nach filmischen Reverenzen auf Eisenstein (Idee eines
kugelförmigen Buchs). Das paßt, das nehme ich an. Ergänze mit
Heartfield, wenn es um die bildende Kunst geht. Endlich mal ein echtes
Gespräch über FILM! Die zwei Stunden vergehen wie im Flug, die
Gesichter, Minen und die Körperhaltung der Studenten und anderen
Dozenten, schätze um die 40 sind im Hörsaal, bleiben bis zum Ende
gespannt.
Dann kurz ins Hotel. Bin aber zu müde um mich kurz
hinzulegen. Bin auch mit einem jungen Journalisten verabredet, der mich
in Wiesbaden im Kino Caligari nach der Vorführung angesprochen und um
ein Interview gebeten hatte. Nun sitzen wir vor dem Medienhaus der Uni,
und er nimmt meine Antworten auf seine Fragen mit einem kleinen Gerät
auf, nicht größer wie ein Handy. Vor zwei Monaten hat er sein Studium
der Germanistik beendet und hofft nun auf einen Job beim ZDF in einer
der Online-Redaktionen, die versuchen mit ihren Programmen jüngere
Zuschauer zu erreichen.
Er gehört zu einer Gruppe von Enthusiasten,
die quer durch das Land zu Kinos reisen die noch Filme als „Film“
vorführen, also mit Filmkopien. Seine Fragen sind interessant, auch weil
sie aus dem Blickwinkel der ganz Jungen gestellt werden.
Das bearbeitete Interview will er nun verschiedenen Filmmagazinen anbieten die online erscheinen.
18:00 Uhr zum Kino Mayance, das sich im Gebäude des
französischen Kulturinstituts befindet. Vor dem Eingang stehen mehrere
Aufsteller mit Plakaten.Ein Plakat für „Overgames“ ist nicht zu sehen.
Bin
gleich bedient. Im Haus ist das Kino schwer zu finden, der Besucher muß
eine Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen. Ein junger Mann.,
studentische Hilfskraft an der Universität, stellt sich als
Filmvorführer vor. Gut, machen wir einen Test. Das Bild ist dunkel wie
die Nacht. Er sagt, das ist die Einstellung in der wir immer vorführen.
Ich bitte ihn die Einstellungen am Beamer zu verändern, so können wir
das nicht zeigen. Das darf er nicht, wir müssen warten bis der Chef
kommt. Warum ist vorm Haus kein Plakat ausgehängt? Weiß er nicht, würde
er auch gut finden. Die Frau des Chefs erscheint, eine kleine Asiatin
mittleren Alters. Als sie von meiner Beanstandung der Projektion hört,
bekommt sie einen Wutanfall. Noch nie hat sich jemand beschwert, immer
war alles super, das ist eine Unverschämtheit, die DCP ist schuld.
Erkläre ihr dass ich diese DCP nun schon dreimal persönlich in
verschiedenen Städten und Kinos von Anfang bis Ende in bester Qualität
angeschaut habe. Sie rastet aus und knallt mir das Case mit der
Festplatte auf den Tisch: dann kan nikt spielen! Ende, aus. Gut, seufz.
Ich hole die Blue Ray aus dem Rucksack. Die wird eingelegt, und
tatsächlich sieht das Bild heller aus, näher am Master das ich
abgenommen habe und kenne. Wie kann das sein? Der Vorführer und die
kleine Frau triumphieren. Ha, an unserem Beamer liegt es nicht! Quatsch,
wer will das wissen, das Signal geht ja nun ganz andere Wege. Das
Rätsel bleibt. Dann kommt der Kinochef. Er zieht einen Rollkoffer hinter
sich her und verschwindet in einem der Räume am Ende des Ganges. Ein
Altbohemian mit dem Habitus des Intellektuellen. Ich versuche es noch
einmal mit ihm. Er scheint freundlich, wir gehen zusammen in den
Vorführraum, verfolgt vom bösen Blick der kleinen Frau. Geh mal raus und
beruhige sie ein bischen, sagt er zur studentischen Hilfskraft. Dann
macht er sich am Menü des Beamers zu schaffen, und versucht nun Schritt
für Schritt nach meinen Anweisungen das Bild zu korrigieren.
Nach
einer Weile, es sitzt schon Publikum im Saal, sieht das Bild erträglich
aus. Es ist immer noch zu dunkel, wo schwarze Flächen sein sollten ist
es grau-flau, die rechte Seite der Leinwand ist dunkler wie die linke,
es ist insgesamt zu gelb, aber gut. Es geht los. Als die ersten Passagen
mit Musik kommen höre ich, dass leider die Tonboxen schlecht
ausgemessen sind, die Musik ist sehr, nein: viel zu leise.
Ich höre
nun mit dem Publikum, es sind 30-35 Zuschauer, eine Version des Films
die vom Kommentartext dominiert wird. Das war eine Frage die bei der
Mischung lange diskutiert wurde: nur Kommentar und O-Töne? Nun höre ich
diese Variante im Kino. Geht nicht, ist zu kraftlos. Die Musik, auch
wenn sie an einigen Stellen anstrengend ist, muss sein.
Können
sich diese Kinos nicht bischen mehr Mühe geben? Habe nun doch schlechte
Laune. Gehe raus und einen Tee trinken. Ein Bistro in der Nähe des
Kinos, sitze im Freien mit Blick auf einen Brunnen dem sie Lichtspiele
in verschiedenen Farben verordnet haben. Auch merkwürdig. Eine Frau um
die sechzig, vielleicht ist sie auch fünfzig setzt sich ungefragt an
meinen Tisch, schräg gegenüber, zündet sich eine Zigarette an und
bestellt eine Tasse Kaffée.
Na gut, warum nicht. Nun schaut sie
mehrmals in meine Richtung. Auch o.k. Plötzlich fragt sie, sich leicht
über den Tisch beugend: sind wir verabredet? Ich muß lachen. Ein blind
date? Ja, sagt sie. Ich schaue an mir herunter, ob zufällig eine Blüte
am Pullover hängengeblieben ist. Aber was ist denn das
Erkennungszeichen? Der Platz an der Eingangstür. O.k., da sitze ich. Sie
ist die Witwe eines Juweliers. Nun ist ihr langweilig. Warum nicht mal
was riskieren, sagt sie, und lacht. Soll ich mich woanders hinsetzen,
frage ich. Nein, nein, sagt sie, der Treff ist erst für 21:00 Uhr
verabredet. Es ist erst kurz nach halb neun. Jeder Mann der in der Nähe
der Eingangstür stehenbleibt wird von ihr unauffällig gemustert. Ist es
der junge Afghane im Seidenhemd mit I-Phone? Der ältere Mann im
Strickpulli mit dem Tatoo am Hals? Oder der junge Mann im Bankerlook und
gegeltem Haar? Ich habe aber das unbestimmte Gefühl, sie verdächtigt
mich, der eigentliche Kandidat zu sein, der sich nun nach Prüfung der
Kandidatin verleugnet. Hmm. Es beginnt zu regnen. Trinke meinen Tee aus
und gehe wieder ins Kino. Dort sitzen nun noch etwa 20 Besucher, von den
15 Studenten haben sich nach und nach mehr als die Hälfte
rausgeschlichen. Eine Stunde haben sie durchgehalten, das ist so das,
was sie vertragen können, sagt der Professor für Medientheorie an der
Hochschule in Mainz, der mir mir nach Ende der Vorführung das Gespräch
führt.
Die Fragen aus dem Publikum beginnen sich nun zu wiederholen,
das gelernte Wissen über die Bedeutung der Frankfurter Schule für die
Neuwerdung der (West-) Deutschen. JA, Adorno hatte einen anderen Ansatz
bezogen auf das Individium, nicht behavioristisch - kam damit aber
leider in den USA nicht zum Zuge. JA, das Buch über den autoritären
Charakter wurde in den USA gelesen (siehe „Das Netz“, Macy Konferenzen) -
aber nicht in dem Zeitraum der mich interessiert. Da spielten die
Frankfurter keine Rolle. Wieder fällt mir blöderweise nicht der Name
meiner Referenz dafür ein (es ist Prof.Martin Jay in Berkeley, den ich
besucht hatte). Und dreimal JA: Margaret Mead hatte sich mal gegen
Atomwaffen im Kalten Krieg ausgesprochen. War das aber Beweis und Beleg
für eine Wandlung nach 1945? Wohl nicht. Nach wie vor betrachtete sie
Wissenschaft als Kulturkampf, Ethnologie als angewandte
Kriegswissenschaft auch im Kalten Krieg und war nach wie vor von dem
konstruktiven Beitrag der Ethnologie, von einem "relevant policy input",
felsenfest überzeugt. Ihr Resümee von 1979 läßt diese Phase der
amerikanischen Ethnologie zu einer einzigartigen, unwiederholbaren
Erfolgsgeschichte werden. Für Margaret Mead stand fest, daß der zweite
Weltkrieg für die beteiligten Humanwissenschaften als Periode des
Triumphs zu gelten hatte, als “worn-out relic of early
culture-and-personality studies“. Theoretisch war Mead eine Gegnerin der
Atombombe, praktisch unterstützte sie die amerikanische
Anti-Kriegsbewegung nie. Richtete sich ihr Kampf während des Krieges
gegen deutsche Nazis und amerikanische Pazifisten, so polemisierte sie
nach dem Krieg gegen Pazifisten und Kommunisten im eigenen Land (der
latente Rassismus bei Mead u.a. ihrer Freundin Ruth Benedict wurde und
wird gern von den Biografinnen ausgeblendet). Mead wurde nach 1945 zur
Ikone und Leitfigur des politischen Feminismus, ohne deren Wirken
Forschungsrichtungen wie Genderstudies, Praktiken wie „Political
Correctness“ und „Diversity“ sich nicht entwickeln konnten. Nach 1945
interessierte sie sich nachweisbar aber bald schon nicht mehr für die
praktische Umsetzung der Konzepte für Re-Education (Therapeutic Peace),
auch als klar war wie schwierig, unattraktiv und mühsam deren Umsetzung
sein würde. Erfolgreicher und publikumswirksamer schien nun, die neuen
Theorien und Werkzeuge vorzustellen die auf den Macy-Konferenzen
diskutiert und weiterentwickelt wurden: Kybernetik, Systemtheorie,
Kommunikationswissenschaft, bald auch Computing und andere Methoden um
eine moderne Massengesellschaft zu „managen“. The next hot thing. Das
versprach mehr öffentliche und vor allem staatliche Anerkennung, wie die
zunächst harte, glanzlose Praxis der Re-Education. Und Margaret Mead
war wie selbstverständlich als Hauptakteurin und begabte Netzwerkerin
bei den Macy-Konferenzen wieder mit ganz vorn dabei. „Die unvermeidliche
Mead“, wie der arme Adorno seufzend in sein Tagebuch notierte.
Dann
der Verweis aus dem Publikum auf die Unterschiede der amerikanischen
etwa zur französischen Re-Education Politik. In Mainz, also der
französischen Besatzungszone, war eher Lacan das Thema, nicht Mead oder
Bateson.
Nach Ende der Veranstaltung kommt die kleine Frau des
Kinochefs zu mir, sie ist Japanerin. Sie hat sich die letzten 20 Minuten
des Films im Kino angeschaut. Nun ist sie friedlich und freundlich. Du
musst unbedingt einen Film über die Re-Education in Japan machen, sagt
sie. Ja, das wäre ein Thema. Und ich fremd genug, mir das genauer
anzuschauen.
Dann noch zwei Bier in einer kleinen Spelunke in
Bahnhofsnähe. Danke, das wars für heute. Nun noch einige Termine bis zum
24.Juni.
Freitag gehts mit Otto in die Hundeschule.
Pause bis zum nächsten Termin am 24.Mai in Halle.
Dann weiter nach Magdeburg, Freiburg, Kleve, Dortmund und Dresden.
Unterbrechungen
der Tour für Vorführungen mit „Hommage á La Sarraz“ am 04. und 05.Juni
beim 32.Internationalen Kurz Film Festival Hamburg,
und mit „Das
Meisterspiel“ am 17.Juni und „Das Netz“ am 20.Juni im Film Archiv
Austria in Wien, im Rahmen der Reihe „Terror im Blick. Politik macht
Kino“.
23.05. noch Hamburg
Oksana schickt mir ihren Text
zu Eisensteins „Glashaus“ und seinen Ideen für ein kugelförmiges Buch.
Es geht um die Durchsichtigkeit von Gebäuden und
Beziehungen, und so um die Aufhebung der Trennung des Privaten und Gesellschaftlichen.
Was
mir neu ist sind die intensiven Kontakte Eisensteins zu
Psychoanalytikern, als er in den USA versucht sein Drehbuch für
"Glashaus" zu realisieren. Zentral scheint der damit verbundene Gedanke
der Transparenz. In Oksanas Text taucht auch ein Verweis auf Rousseau
auf, im Zusammenhang mit Überlegungen zu Häusern aus Glas und Techniken
zur Observierung und Kontrolle. Krame in meinem Archiv. Ja, das helle
Tageslicht wurde in der Aufklärung zur Zentral-Metapher des Drangs nach
Wissen und Wahrheit. Die u.a. von Rousseau verordnete radikale
Transparenz und Durchsichtigkeit galt auch für die Sprache. Denn mit der
Sprache kam die Täuschung, die Falschheit, die Lüge in die Welt. Eine
geschickte Spracherziehung sollte nun Kinder nicht mit dem gesamten
Lexikon einer Sprache versehen, sondern lediglich mit ausgewählten
Zeichen, die sich ausschließlich auf konkrete, reale Dinge bezogen. Die
Zöglinge sollten nicht Wörter erlernen, die sie dann mit ihrer eigenen
Vorstellung füllten, sondern stattdessen Zeichen und Symbole mit
revolutionären Inhalten. Dazu wurden Bildlexika und revolutionäre Spiele
gestaltet, die den Kindern den revolutionären Katechismus nahe bringen
sollten. Könnte man nicht historische wie heutige Gameshows, oder das
Unterhaltungsfernsehen generell, als solche Erziehungshilfen deuten? Als
revolutionäre Bildlexika mit klar und leicht erlernbaren Zeichen und
Symbolen, die den Katechismus der (permanenten) Revolution spielerisch
vermittelten? Shows wie „Price Is Right“ z.B.? Laborsituationen die die
Transparenz und Durchsichtigkeit von Verhalten und gleichzeitig dessen
Kontrolle ermöglichten? Wenn sich die Grenzen zwischen den Spären des
täglichen Lebens, zwischen Arbeit und Freizeit, Zerstreuung und
Pflichterfüllung, Erholung und Anstrengung, Kunst und Werbung etc. nun
auflösten, war diese Transparenz, Durchsichtigkeit und Kontrolle dann
nicht total, totaler als es sich Bentham hätte je vorstellen können? In
Verbindung mit einer “Loi des Suspects" (Robespierre)?
24.05. Halle, Pusch Kino
Ankunft in Halle. Ich
kenne die Innenstadt noch als dunkle, von Ratten und Tauben besiedelte
zerfallende graue Ansammlung von Bruchbuden. In einer dieser dunklen
Höhlen hatte der Drucker Gerhard Günther mit Unterstützung von Helmut
Brade eine Druckwerkstatt eingerichtet. Oft war ich mit den bezeichneten
Zinkplatten von Leipzig nach Halle gefahren, um dort Plakate zu
drucken. Nun sehe ich große restaurierte Gebäude, eine ehemals
bürgerliche Stadt kommt zum Vorschein. War man in Münster immer in
Gefahr von Fahrradfahrern umgefahren zu werden, waren es in Halle nun
die Straßenbahnen die kreuz und quer durch die Innenstadt kurvten.
Ich
suche das Kino, das sich in einem 1949 eingeweihten Kulturhaus der
Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft befindet. Von außen
ist nicht zu erkennen dass hier ein Kino ist, die Fassade, an der noch
das Wort DRUSHBA anmontiert ist, bröckelt.
Ich sehe ein zwei
Schaukästen, ein paar auf Pappen geklebte Plakate anderer Filme. Ein
Plakat zu Overgames ist in einem der Schaukästen versteckt, so
zusammengefaltet dass nur der untere Teil mit dem Filmtitel zu sehen
ist. Innen ein schmaler Foyerraum mit ein paar Tischen. Es liegen Flyer
zu allen möglichen Filmen aus. Wo sind die Flyer zu Overgames?
Vorgestern waren noch welche da, nun sind sie wohl alle. Hmm, das kann
ja heiter werden. Ich hatte noch am Wochende Emails an die
Kunsthochschule, die örtlichen Museen und die in Halle ansässige
Kunststiftung des Bundes verschickt. Mal sehen, wer kommt.
Der
Kinoraum ist sehr angenehm, gute Bestuhlung, auch der Technikcheck
zufriedenstellend, Bildformat und Sound scheinen zu stimmen. Das Kino
hat nur einen Saal, das ist nicht einfach und heißt volles Risiko bei
der Filmauswahl.
Im Saal dann zwischen 40 und 50 Besucher,
größtenteils von der Kunsthochschule, ein junges Publikum. Nach dem Film
nur zwei Abgänge, alle anderen bleiben sitzen. Leider haben wir nur ca.
40 Minuten für die Diskussion, nach Overgames ist noch ein anderer Film
programmiert. Es geht gleich nach dem Abspann mit mehreren Fragen los,
die vor allem Verunsicherung verraten. Es gibt natürlich auch wieder die
Fraktion der universitären Bescheidwisser, denen die Stringenz der
Erzählung fehlt (zu offen, zu viele Löcher, da fehlt doch dieses oder
jener Name), aber wieder wird aus dem augenscheinlichen Unbehagen keine
wirklich interessante Frage, es bleibt beim Ressentiment. Woran erinnert
mich dieser unverkennbare, leicht quengelige Sound? Richtig, letzte
Woche kamen die Belegexemplare des aktuellen Hefts von „KUNSTFORUM
International“, das sich dem Thema „Get involved! Partizipation als
künstlerische Strategie“ widmet. Im Einführungstext sind auch ein
Verweis und Abbildungen zu meiner Installation mit dem Nachbau der cabin
von Ted Kaczynski. Ich hatte jahrelang nicht mehr in die Zeitschrift
hineingeschaut und war neugierig. Aber nach einigen Seiten war mir
langweilig. Irgendwie war es immer noch das Gleiche, nur die Namen
wechselten. Mußte komischerweise an die ironische Arroganz im Video der
Beach Boys denken, als sie „Okie From Muskogee“ von Merle Haggard
spielten. Aber diese Fraktion ist diesmal im Kino klein, ansonsten viel
Zustimmung und Dank für den Film. Vor allem: die Spannung im Saal hält
an. Interessant dann einige Fragen der „Naiven“, die ich gleich an die
Frager zurückgeben kann. So wird es zu einer guten Therapiesitzung. Aber
ohne Hierarchie. Denn in der Ratlosigkeit die der Film provoziert sind
wir alle gleich, wie weiter? Solche Situationen, wirklich offene
Situationen, kenne ich aus Künstlergesprächen in Museen und Galerien
nicht. Technisch war es die beste Vorführung bisher, der Sound klang
fast so wie zur Abnahme im Tonstudio, Bildqualität sehr gut. Paar Bücher
verkauft, dann im Foyer noch Einzelgespräche. Im kleinen Kreis Ausklang
in einer Kneipe in der Nähe des Kinos mit Bier und zum Abschluß einer
Runde Aquavit.
Nächster Termin in Halle: 31.05., 21:00 Uhr
25.05. Magdeburg, Studiokino
Eine merkwürdige
Stadt. Das Stadtzentrum durchschnitten von breiten Magistralen, links
und rechts stehen noch einige hohe und guterhaltene Blöcke im Stil der
Berliner Stalinallee, dazu einige neue Kästen der westdeutschen
Kaufhauskultur, komplettiert durch gut erhaltene und liebevoll
restaurierte Reste der mittelalterlichen Bebauung. Ich fahre mit der
Straßenbahn ins Kino. Das liegt außerhalb vom Stadtzentrum am
Moritzplatz. An einer Seite des Platzes steht ein großes rotes
Backsteingebäude, die frühere Untersuchungshaftanstalt der
Staatssicherheit. Gebaut ursprünglich als königlich-preußisches
Amtsgericht und Stadtgefängnis, diente es nach 1957 dem MfS das Gebäude
als Untersuchungs-
haftanstalt der Bezirksverwaltung Magdeburg für politische Häftlinge.
Ich
treffe meinen Gesprächspartner Prof. Frommer, den Chef der Magdeburger
Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der
hier auch viele Gespräche mit ehemaligen Häftlingen geführt hat. Er
stammt aus Süddeutschland. Eine Freundin hatte mir mal einen Text von
ihm mitgebracht, wo er sich mit den Auswirkungen seiner Migration in den
östlichen Teil Deutschlands, mit der Abwehr und Verweigerung
transgenerational zu übernehmender Schuld in der 68er Genration und
deren Flucht in Leihidentitäten und alternative intellektuelle
Herkunften beschäftigte. Mich erinnerte seine Annäherung an eine fremde
Kultur und an einen fremden Stamm im Osten, mit dem man sich nun
arrangieren mußte, an meinen eigenen Erfahrungen nach der Ankunft in
Hamburg. Ich hatte ihn spontan angerufen und besucht, ihm den Clip mit
Fuchsberger vorgespielt und um Rat gefragt. So kam es zu mehreren
Gesprächen die mitentscheidend waren, daß ich mit der komplexen Materie
Psychiatrie-Psychoanalyse zurande kam. Das Kino selbst wirkt von außen
nicht sehr einladend, die Fassade verschlissen, das sieht ja aus wie zu
Ostzeiten murmelt der Professor. Na, wie läuft die Tour, fragt er. Er
hat Kritiken in TIP und ZITTY gelesen, und schaut besorgt. Die waren
allerdings wirklich mies, lust- und ideenlos, eigentlich eine Frechheit.
Im Foyer des Kinos riecht es etwas modrig. Auf meine Bitte nach einem
Bild- und Toncheck reagiert der Vorführer mürrisch. Als der Chef kommt
wird der Ton freundlicher. Wir einigen uns auf eine Lautstärke, und sie
zeigen mir den Tonregler im Saal. Es sind dann zwischen 25 und 35
Zuschauer. Als ich nach ein paar Minuten versuche den Ton doch etwas
leiser zu drehen merke ich, daß ich so viel drehen kann wie ich will,
sich aber nichts tut. Der Ton ist anscheinend im Vorführraum in den
Rechner programmiert, der Knopf im Saal dient anscheinend nur zur
Beruhigung nervöser Regisseure. Ein Placeboeffekt. Lass ihn mal machen,
dann beruhigt er sich. Jäh aufsschießende Erregung, dann zusammensacken.
Nur nicht nervös werden. Nach Ende des Films bleiben alle im Saal. Mein
Gesprächspartner tastet sich langsam vorwärts, er spricht von einem
Labyrinth, das der Film sei. Mit vielen offenen Enden. Ein
Anti-Amerikanist schaltet sich ein, schnell wird es tagespolitisch,
Amerika, TTIP und Naher Osten. Das wird aber von anderen im Saal, weil
zu einfach, gestoppt. Eine ältere Frau findet den Film genial. Weil der
Schmerz unter der Haut der „subjects“, unter all dem bunten und lauten
Showgetöse hör- und sichtbar wird. Die Sehnsucht etwas zu finden, einen
Halt in der Leere grenzenloser Räume aus Kommerz und Substituten. Bei
letzten Fragen muß die Moderne passen. Damit haben wir jeden Tag zu tun.
Sie ist Psychoanalytikerin. Neben ihr sitzt ein älterer Herr, auch
Psychiater, der sagt in einer langen, sehr emotionalen Rede dass er zur
Generation der Söhne einer paranoiden Nation und Kultur gehört. Es
mußten erst die Amerikaner kommen, damit wir Deutschen das begriffen
haben. Daß dieses Glück dass der Film zeigt aber schal ist, braucht man
nicht zu betonen; das sieht und hört man sehr deutlich. Es ist schal,
weil es sich im Additiven des Immer-Gleichen bewegt, der Begriff eines
echten Fests ist ihm wesensfremd. Warum lassen wir uns das gefallen,
fragt einer. Weil der Unmut eher nach innen geht, in die Resignation,
antwortet ihm ein anderer. Wieso war das damals gut, was die Amerikaner
taten? Und verursacht Bauchschmerzen, wenn sie das heute, als Technik
auf den neuesten Stand gebracht, in anderen Weltgegenden und mit anderen
Kulturen tun?
Eine Frau fragt, sie ist die Vertreterin der
örtlichen Volkshochschule, wie ich mit dem Film zufrieden bin. Denn der
geht ja, je länger er dauert, immer weiter von den eingangs gestellten
Fragen weg, entfernt sich ja immer weiter von Antworten. Komisch, es
sind nicht Fragen die ich eingangs stelle und beantworten will, sondern
ich will drei Geschichten nachgehen. Gut, man kann das als Fragen sehen.
Aber je länger der Film andauert, desto mehr Material sammelt (für mich
) der Film, das diese Fragen beantwortet. Nicht im Sinne eines happy
end oder who has done it des Krimis, aber im Sinne einer
wissenschaftlichen Forschung. Bringe Beispiele. Sie bleibt skeptisch,
wirkt nun aber nachdenklich. Dann längerer Streit und Diskussion
darüber, was kann und darf die Wissenschaft, und was die Kunst. Es endet
mit der Feststellung, daß auch alle gute Wissenschaft mit Fragen endet.
Nach
vier Stunden Programm ist es nun wieder kurz vor zwölf, der Tresen ist
nicht mehr besetzt, im Umfeld des Kinos sind alle Lichter aus.
Als
ich mit dem Kinochef auf der Straße stehe, kommen zwei junge Frauen
vorbei, die auch im Kino waren. Frage, wo kann man denn hier in
Magedeburg noch ein Bier trinken? Im Jakelwood, wir fahren Sie hin, dort
kann man im Freien sitzen. Die eine stammt aus Kasachstan, eine
Rußlanddeutsche, vor vier Jahren hat sie das Studium der Geschichte,
Ethik und Theorie der Medizin in Magdeburg beendet. Die andere ist
Psychoanalytikerin. Beide sind Assistentinnen von meinem Professor, und
arbeiten an ihrer Dissertation. Margaret Mead und deren konkretes
politisches Kriegsengagement, auch das von Bateson, ist für sie
überraschend. Und deren Beschäftigung mit Fragen eines nationalen
Charakters, von Identitätsbildung. Um nach Deutschland zu kommen wurden
die Rußland-deutschen streng geprüft, ob sie etwas über deutsche Kultur
wissen, die Sprache mußten sie sowieso beherrschen. Sprechen über die
Vorbehalte der westdeutschen Linken gegen die Rußlanddeutschen, gegen
die vermeintlich damit beabsichtigte Re-Nationalisierung, eine
versteckte „Heimholung ins Reich“-Bewegung. Die Unterschiede zwischen
Sachsen, Brandenburgern, Thüringern und Anhaltinern. Und zwischen Norden
und Süden. Was zählt in einer modernen und globalen
Industriegesellschaft? Wer rational, funktional und damit wirtschaftlich
erfolgreich ist, muß etwas dafür ab- und hergeben. Leichtigkeit,
Emotionalität, Unvernunft. Wenn der Tüftler, Fleißige und Rationale dann
in den Urlaub in den Süden fährt, möchte er aber dort ebendiese
Eigenschaften vorfinden und genießen, wenn auch nur vorgespielt, oder
als Folklore. Wie im Zirkus. Auf Bestellung. An-Aus. Natürlich ist das
zum "Ver-rückt Werden". Wenn das Ruhigstellen mit Konsum und
Unterhaltung nicht mehr ausreicht, kommen wir ins Spiel, sagt die
Psychoanalytikerin und lacht, Prost. Kurz vor eins kommt die letzte
Runde. Lustiger Ausklang, zwei Tannenzäpfle und zum Schluß zur
Abwechslung mal einen Tequila.
28.05. Hamburg
Oksana schickt mir ihren Text zu
Eisensteins „Glashaus“ und seinen Ideen für ein kugelförmiges Buch. Es
geht um die Durchsichtigkeit von Gebäuden und
Beziehungen, und auch
um die Aufhebung der Trennung von Privatem und Gesellschaftlichem.
Zentral scheint der damit verbundene Gedanke der Transparenz. Was mir
neu ist sind die intensiven Kontakte Eisensteins zu Psychoanalytikern,
als er in den USA versucht sein Drehbuch für "Glashaus" zu realisieren.
In
Oksanas Text taucht auch ein Verweis auf Rousseau auf, im Zusammenhang
mit Überlegungen zu Häusern aus Glas und Techniken zur Observierung und
Kontrolle. Krame im Archiv. Richtig, das helle Tageslicht wurde in der
Aufklärung zur Zentral-Metapher des Drangs nach Wissen und Wahrheit. Die
u.a. von Rousseau verordnete radikale Transparenz und Durchsichtigkeit
galt auch für die Sprache. Denn mit der Sprache kam ja, so dachten die
Revolutionäre, die Täuschung, die Falschheit, die Lüge in die Welt. Eine
geschickte Spracherziehung sollte Kindern lediglich ausgewählte Zeichen
zur Verfügung stellen. Die Zöglinge sollten nicht Wörter erlernen die
sie dann mit ihrer eigenen Vorstellung füllten, sondern stattdessen
Zeichen und Symbole mit klar umrissenen revolutionären Inhalten. Dafür
wurden spezielle Bildlexika und Spiele entworfen. Könnte man nicht
heutige Gameshows, oder die elektronische Massenunterhaltung generell,
als ebensolche Erziehungshilfen deuten? Als revolutionäre Bildlexika mit
klar und leicht erlernbaren Zeichen und Symbolen, die den Katechismus
der (permanenten) Revolution spielerisch vermittelten? Shows wie „Price
Is Right“ z.B.? Oder aktuellere Formate in TV und online, wo sich wie in
einem Labor sowohl die Transparenz und Durchsichtigkeit von Verhalten
beobachten ließ und gleichzeitig dessen Lenkung und Kontrolle erproben
ließ? War nicht der Übergang von Transparenz zu Kontrolle fließend? Von
dem wachsamen Auge im Dreieck, dass sich die Jakobiner anhefteten und
der damit verbundenen Kultur des Verdachts (“Loi des Suspects“) über
Bentham bis zu zu einer modernen Massengesellschaft, die sich freiwillig
und freudig als Überwachungs- und Kontrollobjekt anbot, wenn nicht
sogar: aufdrängte?
Am Montag nochmal nach Freiburg. Bin gespannt auf das Gespräch mit
Wissenschaftlern der Uni nach der Vorführung im Studentenfilmclub.
Was
mir grad einfällt, und was ich Klaus Theweleit bei unserem Gespräch
Ende April im Kommunalen Kino hätte fragen sollen: Was hatten die 68er
denn zustande gebracht außer mitzuhelfen den Kapitalismus fitter für die
Anforderung einer modernen Industriegesellschaft zu machen?
Mitzuhelfen, die dafür benötigten Strukturen zu schaffen? Durch ihr
Mittun bei der Etablierung von Flexibilität, Interdisziplinarität,
systemischem Denken und der Auflösung aller Grenzen und Genealogien das
zu beseitigen, was das Funktionieren und die Ausdehnung einer globalen
Welt- und Kapitalmarktgesellschaft hemmen würde? Als Virus und Bakterie
(vermeintlich) Verkrustetes, Verspanntes, Erstarrtes aufzulösen, um die
für diese Ausdehnung notwendige Fluidität herzustellen?
Nach Freiburg dann noch Kleve, Dortmund, Wien und Dresden.
30.05. Freiburg, aka-Filmclub der Universität Freiburg
Gutes
Kinowetter, bedeckt, ab und an ein bischen Regen. Die ganze Innenstat
ist aufgerissen, das Straßenbahnnetz wird erneuert. Der studentische
Filmclub bespielt einen großen Hörsaal in der Uni. Die Halle mit dem
Eingang zum Hörsaal ist dunkel, ein paar Stellwände, die leicht ranzige
Verkommenheit moderner Universitätsbauten. Im Hintergrund steht einsam
eine Henry Moore Plastik. Die Projektion ist schon auf DCP umgerüstet,
die Wände im Saal aber nur mit ein paar leichten Leinwandsegeln
abgehängt. So klirrt der Ton, und hallt nach. Gut. Langsam füllt sich
der Saal. Bin gerührt. Hatte vergessen wie jung und klein die Studenten
mit ihren Umhängebeuteln- und taschen sind, die nun ihre 1.50 € Eintritt
bezahlen. Schaue mir den Film nochmal an. Überraschenderweise kommen
während der Vorführung noch zahlreiche Besucher. Am Ende sitzen ca. 60
Zuschauer im Saal.
Statt Beifall wird mit den Knöcheln auf das Pult
geklopft. Als ich nach vorn gehe merke ich, wie die Tour mir zugesetzt
hat. Mein Kopf fühlt sich an wie ein ausgeblasenes Ei. Diesen Abend ist
meine Gesprächspartnerin eine junge Freiburger Historikerin, die mir bei
den Recherchen geholfen hat. Ihr Thema war die Dritte Französische
Republik, nun arbeitet sie an ihrem zweiten Buch, und lehrt an der Uni.
Ihr Chef mußte leider ansagen, er hatte das ZDF bei der Übertragung aus
Verdun beraten, und sitzt nun im TGV fest. Die andere
Gesprächspartnerin, eine Kulturwissenschaftlerin und Filmhistorikerin,
ist kurzfristig erkrankt.
Die erste Frage kommt aus dem Publikum,
von einem Historikerkollegen. Er findet den Film interessant, aber die
Struktur zu impressionistisch, zu assoziativ. Irgendwie kritisch, aber
ihm fehlt eine klare These, die Wissenschaft würde anders arbeiten. Wie
denn? Na ja, eine klare These setzen und dann versuchen, die zu
beweisen.
Ein Student fragt nach 68: Wieso wurden die 68er
„gemacht“? Und waren nicht Gameshows „autoritär“ strukturiert, und die
68er hatten in der Gesellschaft diese autoritären Strukturen
aufgebrochen? Wieder scheinen die Synapsen Begriffe „Re-Education -
gemacht sein - Gameshows“ so zu verschalten, daß am Ende rauskommt, mit
Gameshows sollte die Re-Education durchgeführt werden. Ihm taucht das
68er-Kapitel auch zu unverbunden auf. Da könnte was dran sein. Die
Herleitung mit dem „Großlabor“ und der Übergang zu den „1.500.000“
Babies funktioniert wahrscheinlich deshalb bei einigen Zuschauern nicht,
weil das Thema 68 zu stark vorgeformt ist, da kollidiert einfach die
übliche Deutung von 68 (Neuwerdung der Westdeutschen, Schub für ein
neues Deutschland) zu stark mit der Perspektive des Films. Da haben zu
viele Leute zu starke Irritationen. Oder ärgern sich. Quengeln, nörgeln,
zerren und nagen deshalb an Zahlen und einzelnen Fakten. „Der Feind ist
nur die eigene Frage als Gestalt“, wer hatte das mal gesagt? Und so
wird das, was als Nebeneffekt gezeigt wird, 68, auf einmal zu einer
Hauptsache. Und bringt die Balance des Films möglicherweise bischen
durcheinander.
Eine junge Frau sagt die psychiatrischen Konzepte
spielten nach 1945 gar keine Rolle. Woher will sie das wissen? Und die
Umstrukturierung der Schulen, Universitäten, des Bildungssystems, nach
welcher Blaupause wurde das denn gemacht? Der politische Feminismus,
Genderforschung, Familientherapie, die Kunst und und und, das kommt doch
aus dem Kreis um Mead und Bateson? Natürlich muß der Patient nach 1945
erstmal in einen Zustand gebracht werden, in dem er als Patient
ansprechbar ist. Das dauert. Und sicher hatten die amerikanischen
Ortskommandanten keinen Erikson, Bateson und keinen Fromm im Handgepäck.
Obwohl, einige schon. In den Clearing Centern. Die junge Frau schüttelt
den Kopf. Nein, das reicht ihr nicht. Was hat sie denn, denke ich?
Meine Gesprächspartnerin flüstert mir zu daß sie ein Buch über die
Re-Education schreibt und dafür Schulbücher nach 1945 auswertet. Hmm,
die Idee ist gut, aber was denkt sie, kann sie daraus erfahren - und
dann als These ableiten? Ich hatte bei der Vorbereitung des Films auch
mit einer Politologin in Freiburg gesprochen, die sich mit der
amerikanischen Besatzungs- und Schulreformpolitik in Deutschland und
Japan nach 1945 beschäftigt und auch ein Buch darüber geschrieben hatte.
Das war aber sehr allgemein, der Prozeß war eben „long range“ und ohne
spektakuläre Blitzergebnisse.
Ein Professor, der z.Zt. in Paris
lehrt, bleibt hartnäckig bei der Frage ob und wie die westdeutschen
Spielshows das Verhalten der Westdeutschen veränderten. Er nennt
Kuhlenkampff. Und diese Shows gab es doch sowohl in den USA wie in
autoritären Staaten, etwa denen des Ostblocks, gleichermaßen. Widerlegt
nicht allein das den Film und seine Thesen? Er will den Film
kleinhalten, auf die Spielshows festnageln. Wie darauf vernünftig
antworten? All das was der Film zum „amerikanischen Patienten“ erzählt,
und das nimmt einen langen Anlauf, scheint nicht angekommen zu sein,
oder wird weggeblendet. Ein junger Mann mit wildem Schopf, der sich als
Pole vorstellt, fragt ob die Deutschen überhaupt „spielshow“-fähig sind?
Die kommen ihm immer so ernst und seriös vor, passt das zu Kant und
Hegel? Ja, die 08/15-Stocksteifheit von Fuchsberger und der Casinocharme
von Kulhlenkampff berechtigen zu dieser Frage. Und warum fehlt die
russische Revolution, bohrt er weiter? Gibt es eine Urkunde für die
„Permanente Revolution“, die deren Existenz belegt? So etwas wie die
Unabhängigkeitserklärung der USA? Er redet sehr lange, es wird unruhig
im Saal. Einige stehen auf und gehen. In jeder Veranstaltung gibt es
eine solche Person. (Allerdings: er ist der Einzige der am Ende ein Buch
kauft). Merke wie in mir Unwillen und Ärger hochschießt. Warum bin ich
so freundlich? Muß ich auf jeden Scheiß eingehen? Warum nicht mal wie
Bazon Brock den Frager einfach anbrüllen mit einem „Wer sind Sie denn,
mich so etwas zu fragen? Was haben Sie denn vorzuweisen? Haben Sie schon
ein Buch veröffentlicht?“
Am Ende sagt eine Studentin, sie sei
verwirrt. Überrollt von Namen, Fakten, Theoriekonzepten. Der Zustand
fühle sich aber gut an. Eine andere sagt ihr geht die ganze Diskussion
in die falsche Richtung, weil zu eng geführt an akademisch verstandenen
Fakten, Thesen, Setzungen. Zu sehr von den Rändern, statt vom Zentrum
her. Da, im Zentrum, sei der Film für sie wahr. Der eröffne Denkräume in
denen sie sich wiederfindet und aufgefordert fühlt sich zu
positionieren, auch selber zu recherchieren. Die Frau mit den
Schulbuch-Projekt geht. Sie scheint bischen beleidigt. Meine
Historikerin hat den Film nun zum zweitenmal gesehen und dabei
Zusammenhänge und Strukturen entdeckt, die ihr beim ersten Sehen
entgangen waren. Ich denke, dreimal Anschauen wäre nötig. Nur, von wem
kann ich verlangen fast neun Stunden Lebenszeit für meinen Film zu
opfern?
Dann mit paar Studenten, meiner Historikerin und dem Pariser
Professor in ein Lokal hinter dem Theater. Zwei Ganter. Am nächsten Tag
wieder über sechs Stunden nach Hamburg zurück. Kopfweh, der Magen, keine
Lust aus dem Zugfenster zu schauen. Wie schaffen das Schlagersänger?
Monatelang auf Tour zu gehen??
02.06. Kleve, Museum Kurhaus Kleve
Die Fahrt von
Hamburg nach Kleve ist auch eine kleine Rundfahrt durch das Ruhrgebiet:
Dortmund, Essen, Duisburg, Krefeld, Goch, Weeze, Kleve. Zwischen
Duisburg und Rheinhausen eine Kleingartenanlage. In jedem Garten steht
ein Fahnenmast an dem eine Nationalfahne hängt, deutsche und türkische.
Zähle einen knappe Mehrheit für die deutsche Fahne, wenn auch nur durch
Addition je einer Fahne mit Berliner Bär und Preußenadler.
Overgames
wird im Museum Kurhaus Kleve gezeigt. Im hinteren Teil des Gebäudes
hatte Beuys 1957 ein Atelier angemietet, in dem er u.a. das „Büdericher
Ehrenmal“ entwarf, dem aktuell eine Sonderausstellung gewidmet ist. Auf
den Fotos die Beuys bei der Arbeit und beim „posen“ im Atelier zeigen
sieht er aus wie Buster Keaton. Das Museum ist als Ort für eine
Vorführung von Overgames auch deshalb gut gewählt, weil sich durch den
Klever Adeligen Jean Baptiste Cloots, 39-jährig in Paris guillotiniert
und durch sein dreimaliges Grüßen der Guillotine (Saluer à la
Prussienne) revolutionsgeschichtlich berühmt, ein roter Faden zum
Kapitel Fest des Höchstens Wesens und der Revolutions-
geschichte im
Film knüpfen läßt. (Beuys hatte Cloots 1972 eine Performance gewidmet
und dessen Büste war auch Teil der Installation „Straßenbahnhaltestelle“
auf der Biennale 1976 in Venedig, wie ich aus dem schönen Katalog zur
Ausstellung erfahre).
Overgames wird als Blue Ray vorgeführt, unter provisorischen Bedingungen.
Ein
Technikcheck ist nutzlos weil es 18:00 noch viel zu hell ist. Der Ton
kommt über zwei Boxen die vor der blanken weißen Wandfläche stehen auf
die der Film projeziert wird. Davor stehen Holzstühle, mit einem
Sitzkissen provisorisch für die fast drei Stunden Film aufgepolstert. Es
kommen 17 Zuschauer. Das Bild ist flau und wird erst erträglich, als es
nach zwei Stunden draußen dunkel wird. Die beiden Tonboxen sind nicht
gut eingepegelt, so daß die Musik im Verhältnis zur Sprache einen Tick
zu laut ist. Wir sind nicht im Kino.
Die (für mich) interessanteste
Frage kommt gleich zu Beginn der Diskussion nach dem Film. Eine junge
Frau, später weist sie sich als Psychologin aus, hat den Film mit den
kleinen Affen und der Ersatzmutter aus Draht während ihres Studiums
gesehen. Der hat sie damals traumatisiert, als 23jährige. Wieso setze
ich den Film im Zusammenhang mit den Studien des Kommittees für
Nationale Moral ein? Paßt das denn zeitlich zusammen? Oder ist das
„assoziativ“ montiert? Gute Frage. Ist es das? Und wenn ja, warum? Ihre
Frage berührt mehrere komplexe Dinge. Zum einen: Was tun, um Bilder für
einen sehr komplexen Zusammenhang von Personen, Ideen und
Theorieansätzen zu finden, um den in der mir im Film dafür zur Verfügung
stehenden (sehr knappen) Zeit mit Text und Bild darzustellen? Also das
Umfeld von Mead und Bateson nach der Rückkehr aus Bali, wo versucht
wurde kriegstaugliche Konzepte zu entwickeln, mit abzubilden? Zum
anderen deutet die Frage nach der „assoziativen Montage“ möglicherweise
einen leisen unterschwelligen Verdacht des Manipulativen an, des
Zurechtbie-
gens von Fakten für eine bestimmte Autorenperspektive.
Ich
muß nachdenken, und habe nicht gleich eine Antwort parat. Was
legitimiert meinen Einsatz von Text und Bild? Was mir schnell einfällt
ist die Erinnerung an einen Briefwechsel zwischen Mead und Harlow. Aber
meine Antwort ist ist nicht richtig, wie ich am nächsten Tag beim
Nachschlagen in meinem im Rechner mitgeführten Archiv feststellen muß.
Das
„Committee for National Morale“ war 1940 von dem Kunsthistoriker Arthur
Upham Pope, einem Experten für persische Kunst, gegründet worden und
Mead und Bateson schon bald dabei. Und nicht nur sie, sondern auch viele
Wissenschaftler des sich in den Jahren zuvor gebildeten Netzwerks um
Mead von Ruth Benedict bis Kurt Lewin, das sich nun um kriegswichtige
Resourcen wie Moral, Durchhaltwillen, Angriffsgeist und charakterliche
Stärke zu kümmern beginnt. Neben einigen Studien zu diesen Themen legt
Mead 1943 eine Monographie unter dem Titel „And Keep Your Powder Dry“
vor Eine der Thesen des Buchs ist: Eine Demokratie mußte sich
verteidigen können. Denn „...zu allen Zeiten in der Geschichte eines
Volkes (-) ist es wichtig, wie ein Volk sich zum Problem des Angriffs
stellt (-) Als ich 1931 Amerika verließ, waren die Auswirkungen der
Depression im wissenschaftlichen Denken Amerikas noch nicht zu spüren.
(-) Als ich 1939 zurückkehrte, beherrschte das Thema „Angriff“ das
Denken. Analytiker, Soziologen, Psychoanalytiker – alles unterhielt sich
über den Angriffswillen und dessen Antrieb…(-) Aber Angriffswille
zeigte sich im Wesen der Amerikaner sekundär als Erwiderung, nicht als
primärer Trieb…“. Dann folgt eine langwierige Erklärung über das
Erziehungsverhalten bei Raufereien, fair play, Streit anfangen,
provoziert werden usw. und das Eingeständnis (Tuch auf der Schulter)
Japan zum Angriff auf Pearl Harbour provoziert zu haben, um endlich
aktiv in den Krieg eintreten zu können. Denn die Ursache für den
jetzigen Krieg wird im Versagen der Eltern der jungen Soldaten gesucht „…die
es 1919 versäumt haben, den Kampf für eine neue, nach amerikanischem
Muster gestaltete Werteordnung im alten Europa zu Ende zu führen, sich
zu früh aus Europa zurückzogen und so den Deutschen Gelegenheit gaben,
erneut einen Krieg anzuzetteln.“ Diese Generation von Eltern trägt
für Mead auch die Schuld an der Depression in Folge der
Weltwirtschaftskrise 1929. Dieser Fehler soll sich nicht noch einmal
wiederholen.
„Diesen Krieg“, schreibt Mead weiter, „müssen wir nur
als Auftakt betrachten zu der noch größeren Aufgabe, die wir nun in
Angriff nehmen wollen: die Umgestaltung aller Kulturen der Welt. Diese
Umgestaltung ist die Aufgabe Amerikas weil wir davon überzeugt sind,
dass Amerikaner besser dafür geeignet sind als irgendein anderes Volk.“ Konkret ging es zunächst aber um „Moral building devices at home – moral breaking devices in Germany“.
Klar
schien, der Schlüssel zum Nationalcharakter liegt im Erziehungsstil
(Ernst Fromm, Erik Erikson), und war vor allem in der frühkindlichen
Prägung des jeweiligen Volkes zu finden. Deshalb konzentriert man sich
bei der Forschung auf kriegsrelevante Seiten des Nationalcharakters auf
Punkte wie: Einstellungen zu Sieg und Niederlage, relative Stärken und
Schwächen, Urteile über "wahr" und "falsch", Dominanz und
Unterwürfigkeit, Erfolg und Mißerfolg, Erwartungshal-
tungen
gegenüber Tod und Überleben in Schlachten. Die Überlegung ist, hat man
erst einmal den Nationalcharakter eines Volkes heraus-"destilliert", so
ist es im folgenden möglich, Vorhersagen über dessen Verhaltensweisen zu
treffen, und die entsprechenden "Charakterschwächen" der Kriegsgegner
militärtaktisch und in der Feindpropaganda auszunützen. Das
ethnologische Studium des Nationalcharakters mündete also unmittelbar
und anwendungslogisch in die psychologische Kriegsführung.
Ich
stand nun vor der Aufgabe, sowohl für diese Versuche die eigene Moral
und den Angriffswillen der jungen amerikanischen Soldaten zu stärken wie
die Sorge über deren eventuelle Ungeeignetheit oder Weichheit zum Kampf
(wegen der falschen Erziehung) Bilder zu finden. Und dafür schienen mir
der kleine Junge, dem das Spielzeug weggenommen wird und sich nicht zu
wehren weiß, der weint und von der Mutter getröstet wird und die Bilder
von den Experimenten Harry Harlows wo kleinen Affen Angst gemacht wird
und die Schutz bei der (Ersatz-) Mutter suchen, nicht falsch. Margaret
Mead wußte mit großer Wahrscheinlichkeit von den Versuchen Harry Harlows
in seinem Primaten Labor in Wisconsin. Denn einer ihrer engen Freunde
und Kollegen war der Psychologe Abraham Maslow (Maslowsche
Bedürfnishierarchie, "Dominance-feeling, behavior and status."
Psychological Review 44 (1937) der als junger Wissenschaftler in dem in
den 1930ern gegründeten Labor von Harlow gearbeitet hatte. Dort sollte
die Beziehung von Mutter und Kind und dessen Lernverhalten unter
extremen Bedingungen untersucht wurden. Auch hier ging es um den Zugriff
auf Babies, und ich dachte natürlich auch daran daß Babies in meinem
letzten Kapitel auftauchen würden. Einen direkter Kontakt oder einen
Briefwechsel zwischen Mead und Harlow konnte ich für die Zeit 1940-1943
allerdings nicht nachweisen. Dazu kam es aber 1961, bei einem Workshop
an der Menninger Klinik in Topeka an dem neben Konrad Lorenz auch Mead,
Harlow und Friedrich Hacker teilnahmen. Filmausschnitte von Experimenten
des Primat Lab von 1942-1943 gibt es und ich hatte auch lange danach
gesucht, aber leider nichts gefunden und mußte die Suche dann leider aus
zeitlichen (und finanziellen) Gründen abbrechen. Meine Ausschnitte in
Overgames datierten aus einem 1958 entstandenem Film. Ja, so gesehen war
das eine assoziative Montage, zu der ich mich nach langer Überlegung
entschlossen hatte.
Was gab es noch in der Diskussion? Einer
fragt ob nicht das psychiatrische Konzept der Re-Education als
gescheitert betrachten sei, wenn in der französischen Spielshow von der
Zimbardo spricht, statt 60% wie bei Milgram nun 80% den tödlichen
Stromstoß verabreichen? Ja, darüber läßt sich nachdenken. Auch wenn
Zimbardo nicht erwähnt (oder wußte), daß diese Show eigentlich ein
Fernsehfilm mit wissenschaftlicher Begleitung war, der dem Saalpublikum
als echte Gameshow verkauft wurde. Aber die Ergebnisse der
Versuchsanordnung waren so wie Zimbardo das wiedergibt. Hier schließt
sich eine Diskussion an, ob wissenschaftliche Konzepte (Therapeutic
Peace) auch Wunschergebnisse zeitigen können, wenn Teile der Konzepte
falsch sind, z.B. die von den Psychiatern verwendete Freudsche
Definition von Paranoia (anhand des Falls Schreber)? Wenn da was klappt,
ist das dann Zufall, Glück, Vorsehung? Was sicher funktioniert wissen
wir: Skinner und Pawlow. Reiz-Reaktion. An-Aus. Wie beim Computer.
Dann
kommt noch eine fundamentale Kritik an der Musik (Dahinplätschern,
monotones und überflüssiges Nebengeräusch) von einem emeritierten
Designprofessor. Abgesehen davon daß die Musik bei der schlechten
Wiedergabe garnicht zu beurteilen war: Fast niemand hört, daß es eine
Metakomposition über den 4.Satz der 9.Symphonie von Beethoven ist, eine
harmonisch und motivisch fortschreitende Musik, die nicht leitmotivisch
sondern über Klangfarben ein „underscoring“ unter den Bildern und Texten
betreibt. Das er-hören nur ganz wenige Zuschauer. Genauer: Bisher zwei.
Dann ist Schluß und das Publikum zerstreut sich in die Nacht von Kleve.
Der Museumsdirektor und seine Frau laden noch zu einem Absacker ein.
Leider kommt das Gespräch nochmal im Schwung, was den Gastgeber dazu
verleitet „den guten“ Whisky hervorzuholen. Ein Fehler, wie ich gegen
zwei Uhr im Hotel feststelle. Der Kopf dreht wie lange nicht mehr. Dann
doch schnell eingeschlafen.
07.06. noch Hamburg
Heute für zwei Tage nach
Dortmund. Habe Motivationsschwierigkeiten. Also weißt Du, sagt meine
Frau, ich versteh das nicht. Du hast das doch so gewollt. Nun stöhnst Du
jeden Morgen schon nach dem Aufstehen, daß Du nicht motiviert bist, daß
Dir alles zu viel ist, daß diese Tour-Tretmühle nervt weil niemand den
Film versteht, und das mit einer Leichenbittermiene als wenn Du Dich
gleich aus dem Fenster stürzen möchtest.
Sie hat recht. Also los.
Wie war das vor einigen Jahren als ich dachte: Was, noch fünf Jahre bis
zur Rente an der Kunstakademie als Professor dahindämmern? Da muß noch
mal was passieren. Und dann sah ich im Fernsehen wie Handke bei einem
Waldspaziergang mit Gero von Böhm einen Vergleich zwischen uns
Zeitgenossen und den Künstlern des 17. und 18.Jahrhunderts zog, wie
klein wir denken und versuchte durch Körperbewegungen mit ausgebreiteten
Armen die verlorengegangene Dimension anzudeuten. Ja, dachte ich vor
meinem Fernseher, das ist es. Nochmal versuchen, etwas Abgeschlossenes,
Gültiges, Großes zu formulieren, tief durchzuathmen und den Berg
anzugehen und zu schauen, wie weit man kommt.
Im Zug öffne ich
einen Brief der gestern im Briefkasten lag. Vier Seiten harsche Kritik
des Films, der die Briefschreiberin nicht erreicht hat. An ihr
vorbeiging. Was ist so spektakulär an Fuchsbergers Erzählung, fragt sie?
Warum sollen Spiele für Verrückte nicht auch für Normale geeignet sein?
Unterscheiden wir uns so sehr von denen? Die kleinen Leute die diese
Gameshows so sehr lieben versteht sie noch am ehesten im Film.
Verrückerweise, schreibt sie, wußte ich nach Ende der Vorführung aber
nicht einmal warum
der Film so an mir vorbeigegangen ist und ich immer wieder ausstieg.
Ja, „Das Netz“, „Das Meisterspiel“ oder „Zeit der Götter“, da war alles
großartig, die hatten sie fasziniert, sogar begeistert. Hier dagegen:
Schnitt hin und wieder schluderig, Kamera unterschiedlich in der
Qualität, Sprecher nicht ideal, Sprecherin verzichtbar. Doch auf der
fünften und letzten Seite des Briefs erzählt die Schreiberin plötzlich
eine kleine private Geschichte. Wie sie als intelligentes, hochbegabtes
Kind in den Sommerferien zur Tante geschickt wurde die eine Hilfsschule
leitete. Und sie, dass 11-jährige „schlaue“ Kind merkte nicht daß alle
anderen „blöd“ waren, hatte unter denen mehrere Freundinnen, verstand
sich mit denen prächtig und fühlte keine Überlegenheit, so wie die neuen
Freundinnen auch keine Unterschiede bemerkten. Ja, schreibt sie,
merkwürdigerweise hat mir das Kapitel Bali im Film die Erinnerung an
diese Geschichte beschert.
07.06. Dortmund, Seminar in der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Design
Seminar
mit Studenten der Klasse für Tongestaltung und einigen Regiestudenten
zusammen mit dem Komponisten Jörg Lensing, der seit „Herakles Höhle“ die
Musik für meine Filme gemacht hat. Zeige Filmausschnitte, spreche über
meinen Werdegang und die Perspektiven die ich für den Dokumentarfilm
sehe. Vor mir ca. 40 Studenten am Anfang eines Weges der für mich so gut
wie abgeschlossen ist, sieht man von Aufräumarbeiten ab. Wo sollen die
mit ihrer Energie hin? Wie kann und wird sich ihr kritischer Impuls (so
überhaupt vorhanden) „der dem ganz Anderen, dem Anti-Cäsar, Bild und
Wirklichkeit verleihen kann“ (Overgames) äußern?
Abends
Vorführung von „Das Netz“ im Kino im U. Wir versuchen es nochmal mit der
35mm-Kopie, und es geht gut. Das Kino kann den Film mit 25 Bildern
abspielen. So klingt die Mischung ganz ordentlich. Dann eine Stunde
Diskussion. Der Film läuft im Rahmen der Ausstellung „Whistleblower
& Vigilanten. Figuren des digitalen Widerstands“ im Hartware
Kunstverein. Das Bild von Ted Kaczynski auf den Plakaten für die
Ausstellung hat Protestanrufe und Emails provoziert. Die Figur des
„Unabombers“ und die Frage der Legitimität des Einsatzes von Gewalt
steht auch im Mittelpunkt der Diskussion nach der Vorführung. Wo endet
der Diskurs, und wann beginnt Terrorismus? Aber es gibt auch
Wortmeldungen die den Blick auf das Netzwerk der Propheten einer Welt
als „offenes System“ lenken, und die Verflechtung von Wissenschaft und
Politik in den USA kritisieren: Eine uneingeschränkt dienende
Wissenschaft, maskiert als „freie Wissenschaft“. Gefragt wird ob der
Film nicht zu sehr auf Einzelne abhebt, so das Prozeßhafte unterschlägt,
statt das Vielfältige und die Ausdifferenziertheit dieser Prozesse zu
zeigen. Bietet nicht unsere Demokratie und eine Gesellschaft als offenes
System Chancen, wo das Ausbalancieren von Interessen möglich ist?
Verwiesen wird auf den Film „Democracy“. Aber der zeigt doch eher ein
Zerrbild von Demokratie, kommt ein Einwand, und fordert zur Kritik an
den demokratischen Verfahren heraus. Eher etwas für EU-Kritiker.Dann
immer wieder die Anbindung an das Thema der Whistleblower-Ausstellung.
Eine Frau sagt: Was der Unabomber 1970 im Manifesto geschrieben hat,
dafür lieferte Snowden dann Jahrzehnte später die Fakten, Belege, Daten
und Zahlen. Aus feministischer Perspektive wird noch angemerkt, daß „Das
Netz“ ein Männerfilm ist. Stimmt, bis auf eine Frau (im Rang eines
Generals allerdings) habe ich auf allen Gruppenfotos der
Computerpioniere keine weitere Frau gesehen. Die Frauen waren
„Weberinnen der Netze“, die mit geschickten Händen die dünnen Kabel
verknüpften. Aber als wir 2002 das Computermuseum in Mountain View
besuchten trat gerade eine junge Wissenschaftlerin ihre Kuratorenstelle
an die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Anteil von Frauen in der
Geschichte des Computing zu erforschen.
08.06. Dortmund, Kino im U
Bin eine halbe Stunde
vor Beginn da und wir machen den Technikcheck. Vorgeführt wird die DCP
die in Mainz Probleme bereitet hatte, das Bild war viel zu dunkel und
der Beamer mußte per Hand über das Menü nachjustiert werden. In Dortmund
sieht das Bild tadellos aus. Allerdings, in Mainz war der Ton fast mit
der Mischung identisch, so wie ich sie im Tonstudio abgenommen hatte. In
Dortmund klingt der Ton seltsam. Der Sprecher, der über die Centerbox
kommt, ist zu laut im Verhältnis zur Musik, und auch das seperat
angelegte Klacken der Shows ist zu leise. Die Abstimmung der Boxen
scheint nicht zu stimmen. Wir haben noch paar Minuten Zeit bis zum
Einlaß und die Vorführerin versucht nun schnell durch Dimmen der beiden
Spuren mit der Musik und anschließendem Hochpegeln aller Boxen eine
bessere Abstimmung zu erreichen. Die der Mischung nahe kommt. Ich sitze
in der Mitte des Saals und sie dreht auf mein Arm hoch oder runter in
ihrem Vorführraum an den Knöpfen. Das ist kurios. Die Technik der
Tonstudios ist genormt und wird von der Firma Dolby ständig überprüft
und gewartet, ebenso sind die Systeme der Postproduktionsfirmen auf
international gültige Standards vermessen, die zu gleichen Farbwerten
und Bildformaten führen sollen, und auch die Vorführtechnik der Kinos
wird ständig geprüft und gemessen. Dieses Gleichheitsversprechen kostet
alle Beteiligten viel Zeit und Geld. Aber im Ergebnis sehe und höre ich
bei 30 Vorführungen in Bild-, Format- und Tonqualität mal mehr oder
weniger große Abweichungen von der Norm, bis hin zum Inakzeptablen. Was
ist da los?
18:30 Uhr, im Saal sind knapp 30 Zuschauer, ein
vorwiegend junges Publikum. Die Diskussion beginnt gleich mit einer
Fundamentalkritik. Der Film inszeniere inakzeptable
Wirkungszusammenhänge, die nicht wissenschaftlich seriös belegt werden.
Alles ist doch viel komplexer, Widersprüchlicher, Detaillreicher.
Seufzen im Publikum. Noch Detailreicher? Dabei wissen doch alle (oder
sollten es wissen) daß es nichts Vollständiges gibt, geben kann. Eine
Frau möchte mir eine Brücke bauen und fragt ob ich vielleicht
„künstlerische Forschung“ betreibe, also die strenge Elle der
Wissenschaft garnicht angelegt werden kann. Weil es Kunst ist? Kunst und
Wissenschaft, ein Modethema seit etwas zehn Jahren, eine nachholende
Mode zum amerikanischen Modell des „art and science“ in den 1970ern, des
„art and science business“, wie es Jack Burnham nannte bevor er
ausstieg. Versuche zu erklären daß ich, wenn ich in der Library of
Congress sitze und in den Akten des State Department lese nichts anderes
mache wie die vielen alten und jungen Wissenschaftler um mich herum.
Wir alle müssen aber der Dramaturgie folgen, nach der Harley Notter, ein
vom St. Dept beauftragter Beamter, die Akten aufbereitet hatte bevor
sie für Studienzwecke und Recherchen zur Verfügung gestellt wurden. Nur
mache ich aus meinem Material einen Film, und die anderen Kollegen
schreiben ein Buch, eine Dissertation oder einen Vortrag. Und jedes
Medium hat eigene Verkürzungszwänge. Einen Studenten beunruhigt das „Re“
in „Re-Education“. Den Begriff ernst genommen ging es ja garnicht um
eine Neuwerdung, sondern um ein „zurück“. Aber zurück wohin? Wieder kann
die Antwort nur der Verweis auf die Analyse des deutschen „Knacks“
sein, die von den amerikanischen Psychiatern und Soziologen 1943
vorgelegt wurde. Die sahen die Ursachen im nicht geglückten Übergang der
Deutschen vom Mittelalter in die Neuzeit. Im Ausbleiben eines eigenen
Staates und im Überleben feudaler Haltungen und Werte die in der
aufkommenden industriellen Moderne nur leicht modifiziert wurden. Es ist
noch zu viel Mittelalter in den Deutschen, stellten die Analysisten
fest. Was, zurück bis zum Mittelalter geht es? Pfhh, die Studenten
schauen ungläubig. Oder ging es um "Neu"- Erziehung, also nach vorn,
fragt eine? Aber was ist denn dieses "Vorn"?
Einer fragt ob ich die
Methoden und die Ergebnise der Re-Education moralisch gut finde. Tja,
was war denn 1945 ansonsten im Angebot? Maos oder Stalins Varianten?
Dieser "Therapeutic Peace" (Mead) war wahrscheinlich der Laternenpfahl
an den sich der Betrunkene klammert in Ermangelung von Alternativen,
frei nach Harold Lasswell, siehe mein kleines Büchlein zum Film. Und
funktioniert hat es ja, wie die Ausstellung über die „„Whistleblower
& Vigilanten. Figuren des digitalen Widerstands“ nebenan im Hartware
Kunstverein bestätigt. Vordergründig erzählt die Ausstellung von den
verzweifelten Versuchen internationaler Künstler und politischer
Aktivisten einem Golem Zügel anzulegen, der seine universale Fitness
auch einigen der Ideen verdankt, die in den Re-Education-Konzepten
enthaltenen sind. Es ist erstaunlich, wie kontextlos die in der
Ausstellung vorgeführte technisch mögliche Weltweitüberwachung gesehen
wird. Nicht als logische Konsequenz von Modernisierung und im
Zusammenhang mit dem Aufkommen von Aufklärung und Demokratie, sondern
eher als jungfräuliche Geburt. Im "FLOOR PLAN" der Ausstellung werden
die unterschiedlichen Vorstellungen von Recht und vor allem vom Recht
zum Widerstand gegen Überwachung und Kontrolle in Sektionen eingeteilt,
denen jeweils ein Logo zugeordnet wird. Für die Sektion "Naturrecht"
wird als Logo das Dreieck mit dem Auge verwendet. Das Auge der
Vorsehung, das Gottesauge. Dieses Zeichen hefteten sich die Jakobiner
ans Revers - als Zeichen der Wachsamkeit. Das Auge sieht - und wacht!
Wachsam beobachtet die Revolution ihre Gegner.
Ein Hauptvorwurf ist
allerdings wieder die Sicht auf ´68 und auf die damit verbundene - im
Film bestrittene - "revolutionäre" Selbst-Neuerfindung und das
Gewordensein aus eigener Kraft. Das wird von einem Diskutanten kurzweg
als Rundumschlag eines Ostlers zurückgewiesen. Erklärbar nur durch
Unwissenheit, bedingt durch das Aufwachsen in einer Diktatur und
fehlende Erfahrung mit Demokratie. Auf Hitler folgte Stalin.
Verständlich durch das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit
totalitären Strukturen, weil immer nur in solchen gelebt und gedacht
werden konnte. Die Studenten, einige waren während seiner langen Suada
schon weggenickt, merken auf. Ich achte auf eine Studentin, die mir
schon gestern im Seminar durch gute Reaktionen aufgefallen war. Wenn sie
wach ist, gar lacht wenn ich was sage, bin ich beruhigt, dann scheint
o.k. was ich erzähle. Aber hat nicht der Osten, frage ich zurück, das
schwerere Los gehabt, weil den Leuten dort die schnelle Entschuldung,
die Behandlung als Patient im Entspannungsbad des Wirtschaftswunders
versagt (oder erspart?) blieb? Ein Entspannungsbad mit und ohne
Spielshows, wo die Patienten während der Therapie eine Geschichte
vergessen durften, an die im dürren Alltag des Ostens ständig erinnert
wurde? Und war nicht die konkrete Erfahrung einer Diktatur wichtig und
nützlich für eine Skepsis gegenüber leeren politischen Werbebotschaften
und Versprechungen? Und so brechen im folgenden hin- und her des Disputs
Konfliktlinien auf die meist in Sonntagsreden zugekleistert werden.
Differenzen zwischen Hybriden, von Halb-Westlern aus Ost und West, die
lediglich in ihrer inneren Zerissenheit und Unerlöstheit vereint
scheinen. 23:00 Uhr, Ende der Debatte. Das Publikum zerstreut sich
zufrieden, im Foyer stehen noch kleine Grüppchen die weiter diskutieren.
Dann wieder entspannter Ausklang mit Kinochefin und der Kuratorin der
Ausstellung im Pfeffersack neben dem Hotel. Gestern nur Apfelschorle,
heute mal zwei Dortmunder Pils.
Nun eine Woche Pause, dann mit "Das Netz" und "Das Meisterspiel" nach Wien, und zum Abschluß der Tour nochmal nach Dresden.
20.Juni Wien
Ich war lange nicht in Wien. Was auffällt: Eine Stadt mit richtigen Häusern!
Nicht
nur Kaffeémühlen mit einem Gerippe aus Stahlbeton und vorgehängten
Glasgardinen. „Das Meisterspiel“ und „Das Netz“ laufen neben 38 weiteren
internationalen Filmen in der Filmreihe „TERROR IM BLICK: POLITIK MACHT
KINO" im Filmarchiv Austria. Die Filme werden im Kino Metro gezeigt,
einem umgebauten Theater, einst das Lieblingstheater von Helmut
Qualtinger. Nach der Insolvenz der Betreiber übernahm 2002 das
österreichische Filmarchiv das Kino. Der große Saal, in dem die
Filmreihe läuft, hat Platz für 160 Zuschauer, es gibt einen Oberrang und
Logen im Parkett. Das Filmarchiv hat mir eine Gästewohnung in einem
ehemaligen Winterpalais in der Nähe des Kinos angemietet. Ein riesiges
Haus mit Innenhof und anscheinend ins Nirgendwo führenden Gängen,
Treppenaufgängen und Zwischengeschossen. Male mir eine Karte um nachts
den Weg zurück zum Zimmer zu finden.
Heute läuft „Das
Meisterspiel“ (1998). 18 Besucher. Mir ist der Ton zu laut. Nein, sagt
die junge Kinobetreuerin, lassen Sie mal, für das ältere Publikum ist
das gerade recht. Habe den Film lange nicht gesehen. Vorgeführt wird
eine Digital Betacam-Kassette. Das Band ist nun 18 Jahre alt und hat
einen Dropout. Da werden sicher bald noch einige dazukommen. Die
beschädigten Bilder und Töne zu reparieren ist nicht billig. Bin
unzufrieden mit meinem Kommentartext, ein paar verpatzte Übergänge, die
inszenierte Szene im Café unbeholfen. Erinnere mich dann an den
Zeitdruck unter dem in Wien und im Atelier, die Atelierszenen, gedreht
wurden, an die Blackouts vor Erschöpfung. Der Text schien damals das
geringste Übel. Extremer Zeit- und Gelddruck, nur Fertigwerden, damit
das Material ins Kopierwerk und ins Tonstudio kam.
Die Diskussion
nach der Vorführung kreist zunächst um die Frage: Hat Arnulf Rainer
seine Bilder selbst übermalt? Einer sagt, im Vergleich mit „Das Netz“,
der auch in der Reihe läuft und den die meisten der Anwesenden kennen,
wirkt „Das Meisterspiel“ wie aus dem 19.Jahrhundert. Auch das Personal
von links und rechts, irgendwie ältlich, aus der Zeit gefallen. Ja, ein
Kostümfest mit alten Fetzen aus dem Fundus. Einerseits. Andererseits
sagt eine Frau, die Professoren an der heutigen Kunstakademie kommen
alle aus Generationen, die gleich sozialisiert und erzogen wurden.
Stromlinienförmig. Es fehlen die Risse und Brüche der Generation von
Weibel und Rainer. Die sich mit dem plagen mußten, worauf sie in ihrer
Kindheit und Jugend trainiert und dressiert wurden. Das steckt immer
noch in denen drin, sagt einer, dieses zu einer Elite gehören, zur
Führung berufen zu sein. Auch die Härte dieser Erziehung. Was ich
persönlich von Arnulf Rainer halte? Ein Bauernjunge der sich in der
Metropole durchsetzen will und muß. Arnulf von Kärnten,
deutsch-römischer Kaiser.
Hier gibt es auch eine Verbindung zum Film
„Overgames“, der leider in Wien noch nicht zu sehen war. Diese
historisch bedingten Schichtungen sowohl in der Biografie des Landes wie
der Personen werden in den „getürkten“ und echten Spielen, die „Das
Meisterspiel“ vorführt, „überspielt“. Um der Welt ein Österreich
vorführen zu können, daß nun antifaschistisch, demokratisch, neu und
Teil des Westens sein will und kann. Und für diese Vorführung wird auch
das Schaufenster (Spielfeld) der Kunst genutzt, siehe die Episode
"Rainer-Museum Guggenheim". Daß einige der Exerzitien teilweise rein
katholische Muster kopieren stört nicht, wenn es der Fluidität dient.
Ein
anderer sagt, der junge Gudenus (einer aus Böhm-Ermollis „Konservativem
Klub“ und nun Vizebürgermeister für die FPÖ in Wien) war gerade als
Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch. Nach den
Interviewaufnahmen in ihrem Film scheidet der wohl für immer als
Kandidat für dieses Amt aus. Widerspruch als ich auf „Das Netz“ und
„Overgames“ verweise wo vorgeführt wird, welche Kräfte die eigentliche
Entwicklung bestimmen. Ist Österreich nicht seit Ende der 1980er Jahre
der Vorreiter eines europäischen und rechten Rollbacks? Und, wenn stimmt
daß schon Haider mit dem Vater von Marie Le Pen versucht hat eine
rechte europäische Allianz zu schmieden und ist das Frühlingsfest der
Rechten in Österreich vergangene Woche mit Vertretern von neun
europäischen Rechtsparteien nur eine Wiederholung. Nach 18 Jahren. Aber
muß man sich nicht doch Sorgen machen daß wie kleine Flämmchen immer
wieder die gleichen Träume und Wünsche aufzüngeln? Denke an die in die
Fassadengestaltung eingeschmuggelten kleinen heidnischen Figuren und
Symbole an der Portalseite des Stephansdom. Ja, so gedacht wäre es
tatsächlich beunruhigend. Eine junge Frau fragt nach den Alternativen,
wenn links und rechts nichts im Angebot haben für einen libertären,
egalitären und, sie sagt „menschlichen“, Lebensentwurf, wie ihr das
beide Filme erzählen. Gendering- und Regenbogensymbolik kann doch nicht
alles sein. Sie ist Deutsche und lebt seit 15 Jahren im österreichischen
„Ausland“, wie sie es nennt. Hier, speziell in Wien, sind alle im
Nahkampf miteinander verstrickt. Und wie schnell das geht, wenn etwas
anscheinend den Lauf der Dinge zu stören beginnt. Sie verweist auf die
Affaire um den Berliner Netzaktivisten Jacob Appelbaum, der nach
Vorwürfen wegen mehrfachem sexuellen Mißbrauch das
Verschlüsselungsprojekt Tor, das Snowden-Vorzeigeprojekt "Freedom of the
Press" und das Hackerkollektiv "Cult of the Dead Cow" verlassen mußte.
Aber, wenn etwas wie die FPÖ sich so kontinuierlich entwickeln und
etablieren kann, heißt das nicht vielleicht auch, es erfüllt bestimmte
Funktionen im Ausbalancieren von Spannungen in der Gesellschaft? Ist
also garnicht nicht störend, sonder strategisch nützlich?
Für eine
Politik der Spannungen? Wien ist die Welthauptstadt der Spione und
internationalen Konferenzen, wirft einer ein. Kaum zu glauben daß da
etwas unbeobachtet geschieht.
Für „Das Netz“ hatte ich auch den
Wissenschaftsmanager Robert Taylor interviewt. Lachend hatte der mir
erklärt, daß er, obwohl davon überzeugt daß es fachlich Unsinn ist, auch
die Forschungen für künstliche Intelligenz (KI) am M.I.T. mitfinanziert
hatte. Weil, während auf der Vorderbühne die KI-Show lief, konnten
seine Ingenieure in aller Ruhe im Hintergrund an den wichtigen
Entwicklungen arbeiten.
Wie leicht es auch heute scheint, jemanden
der stört aus dem Verkehr zu ziehen. Ein anonymer Hinweis im Netz, ein
Steuerbeleg, ein Paragraph.
Ich verweise auf die zur Verfügung
stehenden Gesetze. Wenn Reinhold Oberlercher, einer der rechten
Aktivisten in „Das Meisterspiel“, sich öffentlich „wiederbetätigt“, wird
aus seiner Bewährungsstrafe eine Haftstrafe und er muß Mahler im
Gefängnis Gesellschaft leisten. Wieviel „Identitäre“ gibt es denn in
Wien, fragt einer? So um die dreißig, sagt der Kurator.
Mich erinnert
die Diskussion an das was ich bisher mit „Overgames“ erlebt habe.
Strukturell scheint sich seit 1996-98 nichts Wesentliches geändert zu
haben, nur verschärft, im Tempo, und Strukturen treten klarer zu Tage.
Mit
dem Kurator und einer Wiener Künstlerin noch zum Absacker in einen
Freisitz an der Wiener Kunsthalle. Sie hat sich acht Filme der Reihe
angeschaut. Tolle Filme allesamt, aber an keinem dieser Abende waren
mehr Besucher im Kino wie gerade eben. Darauf zwei Ottakringer und einen
Trester.
24.Juni, im Zug nach Dresden
Ein ehemaliger
Student und Meisterschüler von mir lebt nun mit Familie in Virginia, in
Rhode Island. Er hat gerade im Goethe-Institut in Washington eine
Ausstellung gehabt und dort von meinem neuen Film erfahren, wie er mir
per Skype mitteilt. Ich solle ihn unbedingt mal besuchen. Denn in Rhode
Island befindet sich mit Fort Kearny eines der größten
Kriegsgefangenenlager im Zweiten Weltkrieg. Und hier war auch das das
Hauptquartier für Umerziehungsprogramme für deutsche Kriegsgefangene,
die sogenannten POWs.
Ja, ich erinnere mich, mir war das Camp im
Zusammenhang mit Brickner und seinen Paranoia-Theorien aufgefallen. Im
Sommer 1944 ließ die amerikanische Regierung ein geheimes
Re-Education-Programm für die 380.000 deutschen POW´s in den USA
entwickeln. 1945 begann eine Gruppe Amerikaner zusammen mit ausgesuchten
deutschen Kriegsgefangenen, alle antifaschistisch eingestellt und
Intellektuelle, Material verschiedenster Art zu entwickeln, das für die
Re-Education der deutschen Soldaten und Offiziere geeignet und für die
Schulung der als Militärpolizisten im besetzten Deutschland vorgesehenen
Amerikaner geeignet schien. Das Hauptquartier der Gruppe war im Oktober
1944 in Camp Van Etten, das dann nach Fort Kearney (Rhode Island)
verlegt wurde.
Die Hauptaufgabe der Gruppe war die Herausgabe der
deutschsprachigen Zeitschrift „Der Ruf“, die zweimal im Monat erschien,
und an dem auch Alfred Andersch und Hans Werner Richter mitarbeiteten.
Eigentlich war die spätere Gruppe 47 hier gegründet worden. Die erste
Ausgabe von „Der Ruf“ erschien am 1.März 1945, die letzte der 26
Ausgaben am 1.April 1946. Einfluß hatte „Der Ruf“ nicht nur durch
zahlreiche Nachahmer in anderen POW-camps, sondern auch auf die
amerikanischen Offiziere die als „Assistent Executive Officers“ (AEOs)
die Re-education Aktivitäten koordinieren sollten. Das Experiment war so
erfolgreich daß in Fort Getty und Fort Wetherhill weitere solcher
Ausbildungsstätten und Schulen installiert wurden. Aus ganz Amerika
wurden 80 000 POW-Kandidaten für diese zwei Schulen ausgewählt. Wegen
der Ausstrahlung und Bedeutung von Fort Getty besuchte auch Richard
M.Brickner Fort Getty. Er interviewte fünf Gefangene und bekundet seine
Überraschung, „es gab mir eine erste Ahnung daß sogar richtige typische
Deutsche von so einem Training in Demokratie beeindruckt werden können.“
Die Absolventen von Fort Getty, Kearney und Wetherhill wurden bevorzugt
nach Deutschland zurückgeschickt. Für einen Schnellkurs in Demokratie
wurde ab 4.Januar 1946 Fort Eustics in Virginia eingerichtet. der
zwölfte und letzte Durchgang endete am 5.April 1946 und die letzten
23.147 Absolventen wurden nach Deutschland entlassen. Das war das Ende
dieses Re-Education-Programms.
Ich war dem nachgegangen weil Brickners Sohn mir erzählt hatte, daß
sein Vater oft von Militärjeeps abgeholt und in diese Camps gefahren
wurde.
Aber Brickners Interviews waren nicht mit Mitarbeitern von
„Der Ruf“, sondern „normalen“ POWs, und hatten nichts mit den Konzepten
eines „Therapeutic Peace“, oder der Paranoia-Diagnose zu tun. Die
Konfrontation von Brickner mit „echten und nicht nur „ausgedachten“
Deutschen schien eher dazu geführt zu haben, daß Brickner das
„Reeducation-business“ wenig später aufgab. Auch war er anscheinend aus
nicht eindeutig zu eruierenden Gründen bei Margaret Mead in Ungnade
gefallen, die sich nun von Brickners ehemaligem Student Bertram
Schaffer, im Krieg Major und später Psychiater, beraten ließ. Auch
schien es keine Belege für einen Zusammenhang zwischen den Maßnahmen für
eine Reeducation der deutschen Kriegsgefangenen in den USA und den der
Politik übermittelten Konzepten der Gruppe um Margaret Mead zu geben,
außer dem allgemeinen Wunsch, die Deutschen „irgendwie“ zu verändern.
Als Lektüre für die Zugfahrt hatte ich den Text „Eine Theorie des
Spiels und der Phantasie“ (1954) von Gregory Bateson mitgenommen, den
ich bei der Vorbereitung auf das letzte Filmgespräch in Dresden in
meinem Archiv wiedergefunden hatte.
Beim Lesen fiel mir ein, daß
dieser Text möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage gab, warum
der von mir so geschätzte Hans-Ulrich Reck, Rektor der Kunsthochschule
für Medien in Köln, es im April abgelehnt hatte, mit mir in Köln
öffentlich nach dem Film zu diskutieren. Er hatte seine Ablehnung mit
dem Verweis auf die falsche Darstellung der Rolle und Person von
Rousseau im Film begründet, aber auch auf einige andere ihm nicht
genehme Punkte verwiesen, die er aber nicht benennen wollte. Das hatte
mich damals überrascht und auch bischen geärgert. Denn seit „Das
Meisterspiel“ war er ein Fan meiner Filme gewesen und das auch in
Veröffentlichungen kundgetan.
Über Rousseau hätte ich mich gern mit
Reck öffentlich auseinandergesetzt, denn dessen Darstellung im Film
inklusive der Verbandelung der Versprechen von „Gleichheit und
Wohlfahrt“ sowohl im NS wie bei Rousseau und dessen Ideal einer
„Volksgemeinschaft“ (natürlich nicht im Sinne des 19.Jahrhunderts,
sondern als eine naiv gesehene Gesellschaft von Freien und Gleichen im
Gegensatz zu Adel und Kirche) waren einige Recherchen und Gespräche
vorausgegangen, ehe ich in dem liberal-konservativen
Fortschrittsskeptiker Jacob Burckhardt den Stichwortgeber und Ratgeber
fand, dem ich vertraute.
Aber das war es sicher nicht allein, das zu
Recks Unbehagen und Ablehnung geführt hatte sich öffentlich mit mir und
dem Film zu zeigen, sondern, so meine Vermutung als ich den Text von
Bateson wieder las, dessen Betrachtungen zum Wesen des Spiels die mit
der Rolle von Bateson (und Meads) in meinem Film möglicherweise
kollidierten? Oder schimmerte in seinem offensichtlichen Unwohlsein
schon damals die dann von Theweleit offen vorgetragene Kritik an der
Darstellung von 68´ im Film durch?
Der Text von Bateson war in einem
Buch mit dem Titel „Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet. Zum
konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis“ (2005) veröffentlicht
worden, und wurde durch Beiträge von Wissenschaftlern, Journalisten und
Schriftstellern zum Thema komplettiert.
Reck hatte sich in seinem
Beitrag mit dem Wesen und der Rolle des Spiels auseinandergesetzt. Sein
Text begann mit sehr ausführlichen Zitaten aus „Das Netz“ und von Heinz
von Foerster und dessen Vorschlag „Wissenschaft als Spiel“ zu begreifen,
um dann auf eben jenen Text von Bateson zu verweisen, den er als einen
Schlüsseltext und die grundlegende Arbeit zum Konzept des Spiels bezeichnete.
Bateson
hatte sich Spiele von Affen im Zoo angeschaut und glaubte beobachtet zu
haben, daß die Tiere zu einer „Metakommunikation“ fähig sind. Das
übertrug er nun auf das Wesen des Spiels an sich. Unwillkürlich mußte
ich an das Interview mit Rudolf Arnheim in Ann Arbor denken, wo der
greise und schwer mit der Artikulation seiner Antworten auf meine Fragen
kämpfende Arnheim bei der Frage nach Mead, Bateson und der Macy-Gruppe
hellwach war: „Bateson? Not first rate!“ hatte er mit feinem Lächeln
gesagt. Heck dachte nun in seinem Text über den offenem Raum des Spiels
und seine Funktion der Fiktionalisierung nach, wo automatische
Zeichenvollzüge unterbrochen und dieser Prozeß auf ein
meta-theoretisches „Als ob“ verschoben wurde. Im Prozedieren dieses „Als
ob“ sah er die Künste wie Wissenschaften als
heuristisch-experimentelles Organon zur Setzung von Neuem, und Bateson
als Vordenker, der das Spiel auch in den meta-kommunikativen Prozeß von
Psychotherapie und Psychiatrie integrieren wollte. In meinem Recherchen
war ich Letzterem nachgegangen und lange nach Querverbindungen sowohl zu
Menninger, anderen Psychotherapeuten und zu Mark Goodson gesucht, die
es sicher gab, wie ich mir noch heute sicher bin. Leider mußte ich im
Sommer 2014 aus Zeit- und Geldgründen die Suche abbrechen.
Möglicherweise war Reck irritiert wie sich die Spiel-Experten im Film
äußerten, was nicht in die vorhandenen Katagoriemuster der Theorie
paßte? Natürlich war es verwirrend, wie trivial und doch schlüssig das
hochtrabende Vokabular der Theoretiker sich in den Niederungen der
Alltagsspiele, im Kommerz und in einer durchgehenden Funktionalisierung,
Instrumentalisierung und Indienstnahme durch die Politik darbot. Und
wie mit Hilfe von Wissenschaft, Pädagogik, durch Einübungstheorien,
Rollen- und Lernspiele sich das Spielen in alle gesellschaftlichen
Bereiche hinein auflöste und dort organischer Bestandtteil von
Disziplinierung und Kontrolle wurde.
noch 24.Juni, Ankunft in Dresden
Die Stadt liegt
unter einer Hitzeglocke, heute ist einer der heißesten Tage der letzten
Wochen. Wer wird sich da eine fast dreistündigen Film anschauen, der
17:00 Uhr beginnt? Die Vorführung findet im Rahmen einer Ausstellung von
Mitgliedern der Klasse Bildende Kunst der Sächsischen Akademie in der
Städtischen Galerie statt. Habe noch Zeit. Im Lipsiusbau zwischen
Albertinum und Hochschule läuft die hochgelobte Ausstellung „Die
Vermessung des Unmenschen. Zur Ästhetik des Rassismus“. Die Ausstellung
ist, bis auf die schwache Eingangssituation, sehr gut gestaltet.
Großzügig und klar - eine gute Museumsausstellung. Es steckt auch Geld
drin, das sieht man.
Ein Großteil des ausgestellten Materials wurde
von einer Hilfskraft des Dresdner Völkerkundemuseums zusammengetragen,
ein 1963 gestorbener Naiver wie Henri Rousseau, „der Zöllner“. Mit
diesem und anderen Materialien versuchen die Kuratoren nun bild- und
textgewaltig und mit scharfem Schwert gegen Rassismus und Rassentheorie
vorzugehen. Die Materialien werden zum Teil in großen (originalen?)
Holzrahmen unter Glas präsentiert. Unklar bleibt auch ob die
präsentierten Großcollagen vom „Zöllner“, im umfangreichen
Begleitmaterial als „Faktotum der Institution“ charakterisiert, oder von
den Ausstellungs-gestaltern zusammengestellt wurden. Ich muß an
Margaret Mead und Gregory Bateson und an die Not anderer Wissenschaftler
(wie Künstler!) denken, wenn sie vor ihrem gesammelten und
ausgebreiteten Material stehen. Mein Gott, was hat das nun zu bedeuten?
Das Material in der Ausstellung ist toll, aber die Kuratoren machen es
sich auch stellenweise bischen zu einfach.
Denn schon um 1943 herum
gab es durchaus eine gewisse „Aufeinander zu“ Bewegung von
Kulturanthropologen und NS-Rasseforschern die sich wohl beiderseits der
wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten ihrer Theorien bewußt waren, sich
aber, wie z.B. die NS-Forscher, nicht vom wissenschaftlichen Rassismus
abkehrten, sondern versuchten sich durch einen Brückenschlag zur
Humangenetik auf neue, vielversprechende Wege zu begeben. Die Ebene des
Genoms war noch nicht greibar, aber die nun in Angriff genommenen
Forschungsprojekte nahmen die Zwischenebene der Proteine, Enzyme und
Hormone in das Blickfeld, die nach der Blaupause des Genoms die
Auffaltung des Organismus steuern. (s.a. Schmuhl)
Die NS-Widersacher
von Kulturanthropologen wie Franz Boas stellten dessen Forschungen zum
Einfluß der Umwelt auf physische Rassemerkmale gar nicht in Frage,
sondern nahmen seine Studien zum Anlaß, ihre humangenetischen Modelle zu
verfeinern, um Rasseforschung auf der Stufe eines höheren Mendelismus
fortzuführen. Deshalb war es ihnen auch vergönnt, nach 1945 in den USA
ihre Kenntnisse bei der Optimierung von Verhalten und Gesellschaft
einzubringen. Während die NS-Forscher noch von der Möglichkeit eines
serologischen Rassetests träumten, ist die Biogenetik heute schon weiter
und es zeigt daß sich Selektion, Auslese, Prenatale Geburtenkontrolle
(oder vorgeburtliche Auslöschung) und ein Gleichheitsversprechen nicht
ausschließen. Für „Overgames“ hatte ich auch ein Interview mit dem
berühmten Lernpsychologen Albert Bandura geführt (wer es googeln mag:
Bobo Doll Experiment, Lernen am Modell), der heute als Berater für
Experimente zur Geburtenkontrolle in der Dritten Welt fungiert, wo mit
Hilfe von Soaps und Fernsehspielen eine moderne, softe und „menschliche“
Form von Eugenik erprobt und praktiziert wird.
Dann Besuch in der Hochschule. Es ist Freitag und deshalb nicht zu
befürchten ehemalige Kollegen zu treffen. Mein Nachfolger soll nun seine
Anwesenheit auf zwei Termine im Monat gesteigert haben. Der große
Klassenraum ist während des ersten Jahrs seiner Anwesenheit aufwendig in
einen perfekten White Cube verwandelt worden. Die für die Tonqualität
bei Filmvorführungen wichtigen Panele an den Wänden sind entfernt und an
der Decke hängt ein neuer höchstauflösender Beamer. Hier finden nun
Parties statt zu denen DJs eingeladen werden. Das scheint anzukommen.
Vielleicht ist es das, was die Hochschule braucht.
Der
Aufführungsort für „Overgames“ ist der Festsaal des Stadtmuseums, zwei
Steinwürfe von der Hochschule entfernt. Es soll eine Blue Ray vorgeführt
werden, die Absprachen per Email und Telefon waren zahlreich und ich
deshalb in der Annahme, alles ist geregelt. Die provisorische Leinwand
ist klein, die Tonboxen stehen ungünstig im Raum verteilt. Mir wurde in
den Tagen vorher signalisiert, die Bue Ray sei erfolgreich getestet
worden. Alles o.k. Gottlob bin ich eine halbe Stunde vor Beginn vor Ort
und bitte um einen Technikcheck. Und um Schließen der Vorhänge, denn der
Beamer hat nur eine sehr schwache Lichtleistung. Plötzlich gibt es ein
Problem, es fehlt die Fernbedienung, die an ein anderes Museum
ausgeliehen ist. So kann der Film nach dem Anspielen nicht wieder auf
Anfang gespult werden. Ratlosigkeit und Durcheinander. In der
Kunsthochschule ist kurz vor 17:00 natürlich niemand mehr zu erreichen,
es ist Freitag. Im Mediamarkt einen neuen Player kaufen? Der
Galeriedirektor holt die Ansichts-DVD mit Timecode im Bild. warum
spielen wir nicht die? Im Ernst, das Format mit einer so geringen
Auflösung? Mittlerweile sitzen 50 Besucher im Saal und verfolgen
interessiert das Hin- und Her der Museumangestellten. Soll ich die
Besucher wegschicken und abbrechen lassen? Begründet wäre es. Mit
dreißig Minuten Verspätung startet der Film dann als Projektion einer
DVD mit Timcode im Bild von einem Laptop. Das Bild hat nicht das
richtige Format, die Personen in die Länge gezogene Eierköpfe. Er kann
da nichts machen sagt der Haustechniker ungerührt, das liegt an der DVD:
Der Ton ist zu laut, gut geeignet für eine Vorführung im Altersheim.
Der Haustechniker ist nun gegangen. Da ich an sein hinter dem nun
zugezogenen Vorhang verstecktes Mischpult nicht mehr herankomme, bleibt
der Ton wie er ist. Die Bildqualität ist eine Zumutung, was eigentlich
Zinnoberrot ist, erscheint nun als Ochsenblut. Grausam. Aber das
Publikum folgt gebannt der Vorführung. Immer im Bild der gut sichtbar
mitlaufende Timecode.
Dann das Gespräch. Mit mir sitzen ein
Musikwissenschaftler und ehemaliger Opernintendant, eine Professorin für
Architektur- und Baugeschichte und der Direktor der Städtischen Galerie
auf dem Podium. Ersterer vergleicht Aufbau und Struktur des Films mit
Bach, mit den Goldberg Variations, einer Triple Fuge mit drei Themen.
Beim ersten Ansehen des Films hat er die Musik garnicht gehört, was gut
ist, beim zweiten Anschauen war ihm aber unbehaglich weil er das Gefühl
hat er kennt das Motiv, weiß aber nicht genau was es ist. Da erschien
ihm das als undefinierbares Geräusch. Aber die finale Antwort auf die
Frage ob stimmt was Fuchsberger erzählt, die er vermißt, wischt die
neben ihm sitzende Architekturhistorikerin vom Tisch, denn darum gehe es
doch in dem Film garnicht, das habe sie schnell vergessen, obwohl der
Film am Ende nochmal darauf zurückkommt. Sie hält nun ein schönes
Plädoyer für die offene Struktur des Films, der doch alles sagt (und
ZEIGT!), und was nicht, wird durch Bilder von nonverbaler Kommunikation
nachgereicht. Alles da. Ja, wird gelobt, der Film gibt genaue Hinweise,
aber ohne Kontrollversuche, ein nichtmanipulativer Film. Aber, inwieweit
sind die im Film dargestellten und angewendeten Methoden von
Wissenschaft, Kunst und Politik dauerhaft oder müssen von Zeit zu Zeit
aufgefrischt werden? Wieder die Frage nach den Umerziehungsversuchen im
Osten. Die Vorstellung daß nun im Osten im Schnelldurchgang nachgeholt
werden muß was im Westen schon früh begannt scheint Unbehagen zu
verursachen. Hört das denn nie auf, dieses Nachholen müssen, dieses
Hinterherhinken? Es wird über die Lupe gesprochen, die im Film öfter
auftaucht, ein Gelenkmotiv, und was es für mich bedeutet. Der Turmbau zu
Babel, auch ein wichtiges Symbol. Merkwürdigerweise wird das aber nicht
als Strafe Gottes für Selbsterhebung und Hybris, sondern als
Versprechen für Diversity gesehen. Das Podium diskutiert nun die Frage:
Ist es ein Dokumentarfilm oder Kunst? Die Frage der Schönheit wird
angesprochen, das Thema der Ausstellung in der Galerie. Verweise darauf
daß „Schönheit“ ja lange als reaktionär und eher als frei zur Verfügung
stehender Werkstoff diente, dessen Zumutungen von Harmonie und Ideal man
sich durch Störungen und Verletzungen vom Hals zu halten versucht.
Spricht man nicht heute eher von „Beauty“? Plötzlich steht ein Mann im
Publikum auf und ruft „Beauty is a French phonetic corruption“. Ha? Das
ist von Frank Zappa, aus „Packard Goose“ erklärt er, und zitiert nun
weiter:
Information is not knowledge
Knowledge is not wisdom
Wisdom is not thruth
Thruth is not beauty
Beauty is not love
Love is not music
Music is THE BEST
Wisdom is the domain of the Wis (which is extinct)
Beauty is a French phonetic corruption
Of a short cloth neck or ornament
Currently in resurgence
Wunderbar,
daß war das Schlußwort, ruft der Museumsdirektor in den Saal. Wieder
sind vier Stunden vergangen, verkaufe über zehn Bücher, im Publikum auch
einige Studenten der Kunsthochschule. Dann Abschluß in der Dresdner
Neustadt in einem kleinen Weinlokal mit Rosé, Käseteller und Bier.
Am
nächsten Tag im überfüllten und aus Prag kommenden Zug zurück nach
Hamburg. Was nun noch fehlt, ist ein kurzes Resumée der Tour.
Das wird folgen, demnächst.
Resümee
Die Tour mit „Overgames“ war anstrengend, hat aber Spaß gemacht.
Es war interessant mal in den Maschinenraum des Kinos zu steigen und nachzuschauen, wie es da so zugeht.
„Overgames“
hatte seit der Premiere im Juni 2015 bis Ende Juni 2016 insgesamt 82
Vorführungen mit einem Zuschauerschnitt von 34 Zuschauern. Mal waren es
170, mal waren es 12. Nicht mit eingerechnet sind die Vorführungen auf
internationalen Festivals. Natürlich hatte ich gehofft daß entgegen
allen Unkenrufen (die Zeit für solche Filme ist vorbei, zu lang, zu
kompliziert, zu deprimierend, zu langsam erzählt usw.) mehr Zuschauer
ins Kino kommen, um sich den Film anzusehen. Aber war das für solche
Filme nicht schon immer problematisch, zumindest in den 1980ern, woran
mich ein Kollege bei einer Diskussion während der Tour erinnerte? Auch
da waren 20 bis 30 Vorführungen für so einen Film schon sehr gut.
Also,
wie weiter? Zunächst wird sich fortsetzen, was mir schon während der
vielen Diskussionen und Gespräche nach der Vorführung auffiel: Das ganze
Wissen dass ich während der Recherchen vor und nach dem Dreh gesammelt
hatte, löst sich langsam in einem gnädigen Vergessen auf. Ich konnte
einiges zwar noch mal mühsam für die Tour aktivieren, aber schon heute
würde ich mich in meinem Archiv oder den 120 Stunden Material im
Avid-Schnittsystem nur nach mehrtägiger Vorbereitung wieder so
zurechtfinden, wie es während der „aktiven“ Produktionszeit der Fall
war. Das ist wie ein Muskel der, wenn er nicht täglich trainiert wird,
verkümmert.
Es hat sich bewahrheitet, daß das von mir geliebte
Kino so nicht mehr existiert. Es wird etwas anderes kommen, hybride
Formen geboren aus Grenzüberschreitungen und von Theorie geleiteten
Experimenten. Es wird ein (junges) Publikum geben, das dafür erzogen und
konditioniert wird.
Mag sein, daß irgendwann eine Übersättigung
eintritt, und sich genug Energien für einen backlash bündeln. Wie sollen
die paar Hanseln unter den Filmemachern, Kinobetreibern und in den
Redaktionsstuben bis dahin überleben? Mir fällt nur das mit „Overgames“
praktizierte Modell eines Eigenverleihs ein. Ist das anderen
Filmemachern zu empfehlen? Ja, wenn diese Filmemacher Studenten einer
Film- oder Kunsthochschule oder Rentenbezieher sind, oder geerbt haben.
Und bereit sind zur extremen Selbstausbeutung und sich vom Stigma des
Sonderlings nicht beirren lassen. Versöhnlicher formuliert: Eine Lösung
könnte sein, wenn sich die zahlreichen regionalen Filmförderungen
entschließen würden, solche „Eigenverleiher“ mit ausreichenden Mittel
auszustatten. Vielleicht sind meine Erfahrungen dafür hilfreich.
Wird die Tour mit „Overgames“ nach der Sommerpause fortgesetzt?
Anfragen für Vorführungen mit und ohne Filmgespräche gibt es, die Planungen laufen.
Das
Radiostück zum Film („Messer und Uhr“) wird am 10.Juli nochmal von
NDR-Info wiederholt, und ist zusätzlich auch Online auf den Archivseiten
von RBB, MDR, DLF und nach dem 10.Juli auch des NDR zu finden. Am
1.April 2017 wird es zusätzlich noch eine Wiederholung bei
Deutschlandradio Kultur geben.
Eine DVD erscheint im Oktober bei
Absolut Medien. Und 2017 wird dann Arte am 6.März (00:20 Uhr) und später
der RBB den Film in der Originallänge ausstrahlen. Der WDR will nur
eine auf 90 Minuten gestutzte Fassung senden, wenn er den Film überhaupt
sendet. Ein Frevel am Film, aber juristisch unangreifbar.
Ich danke allen Leserinnen und Lesern des Tour-Tagebuchs für ihr Interesse
und verbleibe mit besten Grüßen
Lutz Dammbeck
P.S.: Bis Ende 2016 sahen 3079 Zuschauer den Film im Kino.